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AUSTHERAPIERT – GIBT ES DAS?

Was ist, wenn jahrelange Therapie nicht hilft?

“Austherapiert”. In den sozialen Netzwerken schreiben immer wieder Betroffene, dass sie von ihren Therapeut:innen hören, sie seien nicht therapierbar oder wollten ihre Störung einfach nicht loswerden. Doch ein vermeintliches “Austherapiert” ist noch lange kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen.

Autor: Andreas Poppe

Was mir wichtig ist …

Liebe Leser, beachten Sie, dass diese Stimmen in den sozialen Netzen kein repräsentativer Querschnitt aller therapierten Patienten sind. Wahrscheinlich melden sie sich lauter und öfter zu Wort, weil sie ja immer noch leiden. Aber natürlich werden ihre Erfahrungsberichte von Menschen gelesen, die Probleme haben und selbst darüber nachdenken, sich therapeutische Hilfe zu holen. Deshalb sind solche Erfahrungen relevant. Sie beeinflussen die Entscheidung, einen Therapeuten aufzusuchen.

Ich wende mich aber nicht nur an diejenigen Leser, die in den sozialen Netzen entmutigende Erfahrungen gelesen haben. Ich wende mich auch an Menschen, die von ihrem Therapeuten tatsächlich solche Worte gehört haben und nun ohne Hoffnung und Unterstützung sind. Deshalb möchte ich kurz darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, einen Patienten auf diese Weise zu verabschieden.

“Sie sind austherapiert!”

Ich selbst würde es als eine Grenze meiner Kunst betrachten, wenn ich einem Patienten nicht helfen kann. Wenn ich ihn aus meiner Therapie verabschiede, dann werde ich ihm dringend empfehlen, es mit einer anderen Therapie oder einem anderen Therapeuten zu versuchen. Ich halte es – gelinde gesagt – für verwegen, einem Patienten am Ende einer Psychotherapie zu erklären, er sei prinzipiell nicht therapierbar.

Dafür gibt es sachliche Gründe:

  • Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich alle psychotherapeutischen Verfahren so präzise kenne, um mir darüber ein Urteil erlauben zu können. Die meisten Therapeuten haben sich spezialisiert – und das hat auf der anderen Seite große Vorteile.
  • Studien haben gezeigt, dass der zwischenmenschliche Faktor eine sehr große Rolle spielt, dass die Qualität des Verhältnisses zwischen Therapeut und Patient einen größeren Einfluss auf den Therapierfolg haben kann als das gewählte Verfahren oder die Erfahrung des Therapeuten. Es ist gut möglich, dass ein anderer Mensch besser helfen kann, auch wenn er die gleichen Verfahren anwendet wie der vorherige Therapeut. Es ist sogar möglich, dass er selbst dann besser helfen kann, wenn er weniger Erfahrung hat oder schlechter qualifiziert ist.

 

Wenn ich einem Menschen erkläre, er sei nicht therapierbar oder austherapiert, dann nehme ich ihm ohne einen sachlichen Grund alle Hoffnung auf Besserung. Und ich erkläre ihm, dass die Therapie selbst (was immer das auch sein mag) ihm nicht helfen kann. Ich teile ihm mit, dass es unter Gottes Himmel keinen Weg der Heilung für ihn gibt. Das ist erstens größenwahnsinnig und zweitens schüre ich sein Misstrauen gegen alle Therapeuten und jegliche Form der Therapie.

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Wenn ich einem Menschen erkläre, er sei austheraphiert, dann nehme ich ihm ohne einen sachlichen Grund alle Hoffnung auf Besserung.

Andreas Poppe

“Sie wollen ja gar nicht gesund werden!”

Und was hat es damit auf sich : „Sie wollen ja gar nicht gesund werden?“ Dieses Argument ist in einem Fall zutreffend: Wenn sich der Patient bewusst dazu entschieden hat, nicht gesund zu werden. Ob es sinnvoll ist, ihm dieses zu sagen, weiß ich nicht, weil man dem Patienten damit nichts Neues erzählt. Aber eine bewusste Entscheidung des Patienten für seine Krankheit wäre ein sachlicher Grund für einen Abbruch der Therapie – nur würde ihn in diesem Fall der Patient höchstwahrscheinlich selbst herbeiführen.

Vermutet der Therapeut einen unbewussten Widerstand gegen die Heilung, so halte ich dieses Argument ebenfalls für kontraproduktiv. Da es sich nicht um Bewusstseinsinhalte handelt, wird der Patient mit diesem Vorwurf in der Regel nichts anfangen können. Er wird sich im Gegenteil ungerecht behandelt fühlen, was in den meisten Fällen seinen Widerstand vergrößert und den Therapieerfolg unwahrscheinlicher werden lässt.

Natürlich kann ich aus genannten Beitragen in den sozialen Netzen nicht einschätzen, wie viele Patienten sich tatsächlich solche und ähnliche Worte anhören müssen und ob diese Worte auch tatsächlich gesagt worden sind. Das spielt für mich auch keine Rolle.

Menschen schreiben so etwas in den sozialen Netzwerken und andere lesen es. Und all jenen Menschen möchte ich sagen: Auch wenn die Therapie vielleicht bis jetzt bei Ihnen oder anderen, von denen Sie gehört haben, nicht befriedigend gewirkt haben sollte, es gibt keinen Grund, die Flinte ins Korn zu werfen!

Der Text ist ein Auszug aus dem Kapitel “Warum Psychotherapie hilft – aber nicht immer” (S. 24-28), aus: Andreas Poppe: Die entzauberte Angst.

Buch des Autors

Andreas Poppe:

Die entzauberte Angst.
Aufklärung und Ratgeber bei Angststörungen

Verlag epubli 2017

Das Buch legt den Schwerpunkt auf Therapie und Selbsthilfe. Dazu wird - anders als in vielen Büchern über Angst - zunächst unser plastisches Gehirn ausführlich dargestellt: was bei Angst im Gehirn geschieht, wie wir Angst lernen und wie Angst das Gehirn verändert. Aufklärung über diese Zusammenhänge ist für Poppe ein wichtigere Faktor jeder  erfolgreichen Arbeit an der Angst.