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Warum hochsensible Menschen zu hochfunktionaler Angst neigen

Der folgende Artikel beleuchtet die enge Verbindung zwischen Hochsensibilität und Angststörungen. Er bietet erste Anhaltspunkte und Erklärungen, wie Hochsensibilität das Erleben und die Verarbeitung von Ängsten beeinflussen kann. Obwohl dieser Artikel keine professionelle, ärztliche Einschätzung ersetzt, kann er wertvolle Einblicke und Denkanstöße liefern, die es lohnen, näher betrachtet zu werden – idealerweise mit fachkundiger Unterstützung.

17.10.2024 von Chris Gust

Immer wieder werde ich im Rahmen meiner Arbeit gefragt, ob es einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Ängsten gibt und meine Antwort ist ein ganz klares: „Ja!“. Mir selbst war lange nicht bewusst, dass ich zu den Menschen gehöre, die hochsensibel sind. Erst auf dem Weg aus meiner Angststörung wurde mir dies vor einigen Jahren klar und erklärte für mich persönlich rückblickend so vieles. Besonders im Hinblick auf die Jahre meines Lebens, die 24/7 von Angst und Panik bestimmt waren. Deshalb ist es mir so wichtig, offen und mehr darüber zu sprechen. Wir brauchen diese Aufklärung, um ein neues Bewusstsein zu schaffen. Ich für meinen Teil bin mir absolut sicher, dass es mit meiner Angststörung niemals so weit hätte kommen müssen, wenn ich um meine Hochsensibilität gewusst hätte.

Doch was ist Hochsensibilität überhaupt? 

Man geht davon aus, dass ca. 20% der Bevölkerung hochsensibel sind (Einige Quellen sprechen von 10 – 20%, andere von bis zu 30%). Es wird vermutet, dass hochsensible Personen (HSP) mit einem genetischen Merkmal geboren werden, das als sensorische Verarbeitungsempfindlichkeit bezeichnet wird. Es gibt noch keine offiziellen Diagnoseverfahren dafür, deshalb sind diese Vermutungen in Bezug auf die Vererbung / Genetik von Medizinern noch nicht offiziell bestätigt, aber epigenetisch naheliegend. (Quelle: hochsensibilitaet-netzwerk.com) An vielen Universitäten wird derzeit näher zu Hochsensibilität geforscht.

Die Auswirkungen von Hochsensibilität im Alltag

Bei den normalsensitiven Menschen sorgen bestimmte Filter dafür, dass die Menge an Eindrücken, die sie registrieren, die interne Festplatte nicht überlastet.

Bei HSP ist es, als wären diese Filter nicht aktiv, sie haben eine sehr viel intensivere Reizwahrnehmung und -verarbeitung. Sie reagieren sehr stark auf Reize, wie beispielsweise Gerüche, grelles Licht, laute Geräusche und Stimmungen von anderen Menschen und kommen logischerweise auch früher an ihre Belastungsgrenzen. Der Alltag, das Leben in einer Gesellschaft, die nicht auf diese Bedürfnisse ausgerichtet ist, ist für sie deshalb eine tägliche Herausforderung. Sie haben dadurch oft einen chronisch erhöhten Stresspegel, ihr System schüttet häufiger Stresshormone aus.

Hochsensibilität und Stress

Diese intensivere Form der Reizaufnahme und -verarbeitung, die für hochsensible Menschen „normal“ ist, erleben normalsensitive Menschen übrigens ebenfalls durch die Veränderung des Stresspegels bei Angst. Dann sorgt nämlich unser System durch entsprechende Hormonausschüttung dafür, dass wir sehr viel mehr (potentielle Gefahren) wahrnehmen können als im Normalzustand. Es ist, als würden für diesen Zweck einige Filter deaktiviert. Macht ja auch Sinn, wenn wir uns das mal am Beispiel einer lebensbedrohlichen Situation durch den berühmten Säbelzahntiger vorstellen: Unsere Wahrnehmung verändert sich zu unserem Schutz! Denn die körperlichen Veränderungen, die durch die Hormonausschüttung angezettelt werden, sorgen dafür, dass unser Körper für einen Kampf oder eine Flucht bereit wäre. Unser Sehsinn fokussiert die Gefahr, unser Hörsinn bemerkt kleinste Geräusche/Bewegungen, der Herzschlag verändert sich, unsere Muskeln werden anders durchblutet, wir haben eine andere Körperspannung usw.

Stress und Angst sind also eng miteinander verknüpft. Dieser evolutionstechnisch festgelegte Ablauf folgt der sogenannten Angstkurve und wie gesagt aufgrund von Hormonausschüttung. Wenn unser System also eine Situation bewertet und intern zu dem Schluss kommt – ob begründet oder nicht – dass Gefahr im Verzug ist, startet dieser vollautomatische Ablauf.

Weil hochsensible Personen grundsätzlich viel mehr Reize aufsaugen und diese dann verarbeiten müssen, alle Situationen und Informationen bis ins kleinste Detail durchdenken und immer versuchen auf alles*, aber besonders auf einen eventuellen Worst-Case, bestmöglich vorbereitet zu sein („Was ist wenn…?“), findet häufiger eine entsprechende Stresshormonausschüttung statt. Die logische Konsequenz: sie sind viel anfälliger für Ängste.

 

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Auswirkungen von Stress

Stressreaktionen kennen wir nicht nur von unseren Vorfahren, die von Zeit zu Zeit etwa einem Höhlenbären oder Säbelzahntiger gegenüber standen. Die Höhlenbären oder Säbelzahntiger unserer Zeit sind z.B. Stresssituationen im Arbeits- oder privaten Bereich, denen wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Langandauernde, chronische Belastungen können hier dazu führen, dass die Produktion von „Stresshormonen“ über einen längeren Zeitraum auf hohem Niveau weiterläuft. In der Folge kommt es dann zu allerlei Problemen im Bereich des Organismus wie der Psyche.

Chronischer Stress wird häufig bei Menschen mit einem ungesunden Lebensstil festgestellt. Sie ernähren sich im Durchschnitt weniger gesund, bewegen sich weniger, rauchen öfter, konsumieren häufiger und mehr Alkohol und/oder schlafen schlechter. Allerdings ist nicht immer klar, ob es sich dabei bereits um Stresssymptome bzw. Stressfolgen handelt oder ob der ungesunde Lebensstil ein Stressverstärker ist.

Chronischer Stress kann so zu einem gesundheitlichen Problem werden. Solche Stressfolgeerkrankungen treten z.B. im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems auf. Stress ist hier ein erheblicher Risikofaktor für die Entstehung von Bluthochdruck, koronarer Herzerkrankung, Herzinfarkt und Schlaganfall. Darüber hinaus können aber auch die Muskulatur (erhöhte Muskelspannung, Abnahme der Muskelmasse), das Verdauungssystem (Hemmung der Verdauungstätigkeit, Verstopfung, aber auch Durchfall) und der Stoffwechsel (Übergewicht) betroffen sein. Eine herabgesetzte Funktion des Immunsystems kann zu einer höheren Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, einer Zunahme von bösartigen Tumoren und einer verzögerten Wundheilung führen. Im Bereich der Sexualität werden sexuelle Bedürfnisse gehemmt und sexuelle Funktionen beeinträchtigt. Chronischer Stress kann aber auch zu einer erniedrigten Schmerztoleranz führen. Typische Stressfolgen im Bereich des Nervensystems und der Sinnesorgane sind Nervosität, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Ohrgeräusche (Tinnitus) und Hörsturz.

Darüber hinaus beeinflusst Stress die Erbsubstanz in unseren Zellen. Eine vorzeitige Verkürzung der Chromosomen-Enden führt dazu, dass sich die betroffenen Zellen des Körpers nicht mehr teilen können und absterben. Dadurch hat Stress auch einen deutlichen Einfluss auf die Lebenserwartung, d.h. er verkürzt die potenzielle Lebenszeit der betroffenen Menschen.

Foto: Quelle: Unsplash.com/ Agni B

*Der Versuch, so gut vorbereitet zu sein, wie möglich bedeutet für HSP oftmals eine Situation bereits im Vorfeld so durchgedacht zu haben, dass sie in selbiger weniger reizüberflutet werden.

Hinzu kommt, dass hochsensible Menschen schon als Kind Einflüsse der Außenwelt viel intensiver, lauter, schockierender und eindringlicher wahrnehmen als normalsensible und darum auch stärker reagieren. „Laut“ kann in hochsensiblen Kinderohren als „überlaut“ ankommen, ein Erschrecken wird schneller zum Schock oder gar zum Trauma, was nachweislich, und vor allem in der Summe, zu psychischer Überlastung und Erkrankung führen kann.

Außerdem haben hochsensible Menschen extrem hohe moralische Ansprüche an sich.
Sie wollen niemanden enttäuschen oder im Stich lassen und setzen sich selbst damit unfassbar unter Druck. Ihre hohen Ansprüche an sich selbst, die oft schlichtweg nicht zu erfüllen sind und deshalb ein Gefühl der Unzulänglichkeit hinterlassen, können dafür sorgen, dass sie ihre Talente und Fähigkeiten immer wieder anzweifeln.

Diese Selbstkritik, ein überirdischer Perfektionsanspruch und immer wieder die Spiegelung aus dem Außen, das hochsensible Menschen zu viel fühlen/-denken und anders/nicht richtig sind, verletzen und verringern das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen immer mehr, sorgen oft für eine Grundunsicherheit, sind emotionaler Stress pur und öffnen der Angst somit die Tür.

Neue Perspektive

Haben wir Ängste mit den damit einhergehenden körperlichen Symptomen erst einmal erlebt, entstehen die negativen Verknüpfungen sehr schnell und nachhaltig. Die körperlichen Symptome bei Angst, sind für HSP schwer zu unterscheiden von denen, die sie durch ihre Empfindsamkeit eh schon intensiver erleben. Hochsensible spüren von Natur aus viel mehr von den Dingen im Körper, bei denen bei normalsensitiven Menschen die entsprechenden Filter dafür sorgen, dass sie „ausgeblendet“ werden.

Das führt dazu, dass es für sie auf dem Weg und nach erfolgreicher Genesung aus einer Angsterkrankung eine Gratwanderung ist zu unterscheiden, ob sie nun gerade „nur“ viel fühlen oder ob doch die Angstdiva gerade wieder die Bühne betritt.

Last but not least sind hochsensible Personen durch ihre umfassende Art zu denken quasi ihre eigene, wandelnde Datensicherung und haben ein sehr ausgeprägtes Schmerz- und Körpergedächtnis. Dies führt dazu, dass sie auch im „Normalzustand“ schneller überreizt/gestresst sind und somit können Ängste eine fast schon naheliegende Konsequenz sein.

Viele hochsensible Personen sind sich dieser zusätzlichen Erschwernis durch ihre „Basisausstattung“ gar nicht bewusst und pushen sich von klein auf an in erlernter Manier immer mehr, um ja kein*e Aussenseiter*in zu sein. Allerdings geht das ziemlich oft ganz schön nach hinten los. In diesem Zusammenhang viel zu wenig thematisiert, aber lebensverändernd in ganz besonderem Ausmaß ist übrigens, wenn hochsensible Frauen Mütter werden! So kommt es, dass auch viele hochsensible Menschen, ohne es zu wissen, über lange Zeit an einer hochfunktionalen Angststörung leiden.

Fazit: Ein anderes Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und Ängsten ermöglicht eine vollkommen andere Sichtweise und kann erleichternde Erklärungen liefern.

Foto: privat

Autorin

Chris Gust

ist im deutschsprachigen Raum eine feste Größe, wenn es um die Themen Hochsensibilität und mentale Gesundheit geht. Sie betreibt aufgrund ihrer persönlichen Geschichte seit vielen Jahren Öffentlichkeitsarbeit und setzt sich dafür ein, dass in der Gesellschaft ein anderes Bewusstsein für mentale Gesundheit und Hochsensibilität entsteht. Dabei sind Prävention, Aufklärung & Umsetzung die Eckpfeiler ihrer Arbeit. Sie ist Künstlerin, Autorin, Coachin und Gründerin des ehrenamtlichen Telefondienstes „Mutruf“ – einander Halt geben e.V.