Tabuthema Angst

Noch nie wurde in der Öffentlichkeit so viel über Angst geredet wie heutzutage: Angst vor Terror, Angst vor Ausländern, Angst vor Umweltproblemen, Angst vor Wirtschaftskrisen, Angst vor Wohlstandsverlust und Altersarmut. Die Liste ließe sich problemlos fortsetzen. Und die Medien berichten täglich über diese Ängste, bombardieren uns pausenlos mit angstmachenden Meldungen und Bildern. Sogar die Wissenschaft befasst sich mit den Ängsten der Deutschen und konstatiert eine „Gesellschaft der Angst“ oder die „neuen Ängste“. Ist also Angst tatsächlich ein Tabuthema, über das nicht gesprochen wird? Wie sieht es mit der Kommunikation von Angst in unserer Gesellschaft aus?

Kollektive Ängste – persönliche Ängste

Es handelt sich bei den genannten Ängsten durchweg um solche Ängste und Gefahren, die uns nicht nur als Individuen, sondern als Gesellschaft im Ganzen bedrohen. Es sind kollektive Ängste und Verunsicherungen, die auf gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen beruhen, denen man passiv ausgeliefert ist. Sie werden als von außen kommende Bedrohungen wahrgenommen. Sie lösen Sorgen aus, dass in der Zukunft Ereignisse eintreten könnten, die negative Folgen nach sich ziehen. Diese Ängste sind vor allem Zukunftssorgen. Auch wenn die Gefahren für den Einzelnen eher diffus sind, über Sorgen zu sprechen hat nichts Verwerfliches. Im Gegenteil, sich dazu zu bekennen, macht eine Person glaubwürdig, zeugt von Engagement für sich, sein nächstes Umfeld und die Gesellschaft im Ganzen.

Als Mitglieder einer Gemeinschaft, die sich kollektiven Bedrohungen ausgesetzt sieht, erwarten wir geradezu, dass die Führungskräfte und politisch Verantwortlichen die Ängste und Sorgen der Einzelnen wahrnehmen und sie aussprechen. Und wir erwarten, dass sie Zukunftsvisionen vorlegen, wie diese Bedrohungen beseitigt werden können. Gefährlich wird es, wenn die Politik diese Aufgabe versäumt. Dann reißen Populisten das Wort an sich, dramatisieren die Gefahr und befeuern die von den Politikern nicht artikulierten Ängste zu Horrorvisionen der Zukunft, in denen der Untergang der Werte, des eigenen Landes, ja der ganzen Welt in Aussicht gestellt wird. Die eigene, dramatisierte Angst wird als unanfechtbares Argument benutzt, radikale politische Forderungen aufzustellen – unabhängig vom politischen Lager.  Doch in der Politik sollte das rationale Argument zählen, nicht die Emotion. Angst ist kein guter Ratgeber.

Doch wie sieht es mit den persönlichen Ängsten aus? Wer spricht über seine existenziellen Ängste, die Angst vor der Einsamkeit oder der Sinnlosigkeit des Lebens? Wie ist es mit der Angst vor dem Alter, vor Krankheit und Tod? Und wie steht es um Ängste im sozialen Bereich, um Angst am Arbeitsplatz oder in der Schule? Wer redet über die Angst vor einer Prüfung oder einem Vortrag und der Angst zu versagen? Wer gibt zu, Angst vor Ablehnung zu haben, Angst, nicht gut genug zu sein? Auf diesen Ängsten scheint durchaus ein Tabu zu liegen, nicht im Sinne eines Verbots, sondern einer Scheu, darüber mit anderen zu sprechen.

Offensichtlich gibt es eine “Paradoxie der Angstkommunikation” (Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, S. 122). Während Angst in der Öffentlichkeit einen immer größeren Raum einnimmt, ist sie privat ein Thema, das wir lieber nicht anschneiden. Hinsichtlich unserer persönlichen Ängste, so Bude, herrsche ein “Ideal von Coolness”, das jeden Ausdruck von Ängstlichkeit zensiere: “Das ängstliche Ich ist kein Individualitätstyp, mit dem man punkten könnte” (Bude, S. 120).

Angst hat keinen guten Ruf

Im Unterschied zu den Zukunftssorgen, die als potenzielle Bedrohungen von außen wahrgenommen werden, kommen persönliche Ängste aus dem Inneren des Menschen. Es sind Ängste, die um die eigene Person kreisen, eine Angst um sich selbst. Im Kern ist es die Angst, sein Leben zu verfehlen und womöglich ein nicht glückliches Leben zu führen. Das angestrebte glückliche Leben kann zweifach bedroht werden: einmal von externen Gefahren – das sind die Zukunftsängste und auf diese kann man aufmerksam machen. Zum anderen durch die eigene Unzulänglichkeit, durch das Gefühl, die nötigen Kompetenzen für ein glückliches Leben nicht zu besitzen – das sind die Versagensängste und darüber zu sprechen würde einem Eingeständnis von Unfähigkeit und Mangelhaftigkeit gleichkommen. Diese Ängste rütteln somit an den Grundfesten unseres Selbst.

Es ist daher kein Wunder, dass das Reden über seine persönliche Angst stark mit Scham besetzt ist. Wer sein wahres Ich, seine Ängste und Selbstzweifel zeigt, stellt sich bloß, macht sich in den Augen der anderen schwach und hilflos, und stellt sich selbst in Frage. Denn Angst wird in unserer Kultur mit Schwäche gleichgesetzt.

“Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied!”

Woher kommt der schlechte Ruf der Angst? Er ist in einer Lebensauffassung zu suchen, die sich in der Neuzeit ausgebildet hat und in dem Satz zum Ausdruck kommt: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied! Es ist das liberale Credo, das sich am reinsten im American Dream verkörpert: Jeder kann sein Schicksal selbst bestimmen, ist für sein Lebensglück allein verantwortlich. Die Welt steht ihm offen, er muss nur zupacken und seine Chancen nutzen, am besten zielstrebig und willensstark. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. In der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft von heute wird diese Idee wieder großgeschrieben. Eine Flut von Ratgeberliteratur erklärt, wie man Erfolg und Glück geradezu herbeizwingt, wenn man nur positiv denkt und die richtigen Selbstoptimierungsübungen vollzieht. Angst ist da nur im Wege, lähmt die Energie, wirft lästige Fragen auf und stört das psychische Gleichgewicht.

Doch die Möglichkeit, sein Glück selbst zu schmieden, setzt den Einzelnen auch gehörig unter Druck, an dieser Aufgabe nicht zu scheitern. Versagensängste sind die Kehrseite der neuzeitlichen Freiheit. Der Mensch des Mittelalters dagegen konnte nicht versagen, denn sein Ziel war nicht ein glückliches Leben, sondern ein gottgefälliges. Er konnte schwach sein, denn ein gnädiger Gott fing ihn auf. Waren im Mittelalter die unmittelbaren Zukunftsängste (vor Krieg, Hunger, Seuchen, Armut) wesentlich größer als heute, so waren die Versagensängste viel geringer. Erst in der Neuzeit hat sich dieses Verhältnis umgedreht.

Der moderne Mensch will die Angst vor dem möglichen Scheitern nicht sehen. Dabei ist jedem klar, dass er nicht wirklich für sein Glück verantwortlich ist, denn das hat er gar nicht unter Kontrolle. Verantwortlich ist er aber für ein sinnerfülltes Leben. Und dieses findet man nicht durch Angstvermeidung, sondern gerade im Gang durch die Angst. Nur durch die Angst wird einem das Leben im tieferen Sinne bewusst. Statt dem flüchtigen Glück nachzujagen, sollten wir uns der Angst stellen. Die Angst ist eine Kraft. Sie hat ihren negativen Ruf nicht verdient. 

Stigmatiserung psychisch Kranker

Die Auffassung, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist, bedeutet umgekehrt, dass jeder auch für sein Unglück verantwortlich ist. Wer also im Leben nichts auf die Reihe kriegt, wer unfähig ist, gar an einer psychischen Erkrankung leidet, ist letztlich selber schuld. Aus der negativen Bewertung der (eigenen) Angst folgt die Abwertung anderer Personen, die offenbar zu schwach sind, ihr Leben zu meistern.

Diese Abwertung psychisch Kranker nennt man Stigmatisierung. Stigma (wörtlich “Wundmal”) ist die Zuschreibung bestimmter negativer Eigenschaften an eine Gruppe von Personen, die zu abwertenden Urteilen und Verhalten führt. Typische Zuschreibungen an psychisch Kranke sind: charakterschwach, labil, unberechenbar, nicht belastbar, willensschwach, verrückt und andere.

Zu diesen generellen Vorurteilen gesellt sich meist noch Unwissenheit hinzu, was die Abwertung verstärkt. Wie wenig in der Öffentlichkeit über die Ursachen psychischer Erkrankungen bekannt ist, hat die Studie “Depression: So denkt Deutschland” der Deutschen Depressionhilfe von 2017 aufgezeigt (leider gibt es für Angsterkrankungen keine entsprechende Studie, aber die Zahlen dürften wohl vergleichbar sein). Demnach glaubt 53% der deutschen Bevölkerung, die Ursache für Depression sei falsche Lebensführung, 31% geben Charakterschwäche an und 20% falsche Ernährung. Ein Drittel bis die Hälfte der Befragten geben also dem Erkrankten selbst die Schuld,  die entweder in seiner Persönlichkeit oder seiner falschen Lebensführung liege! Genauso haarsträubend sind die Empfehlungen, die als Hilfen angegeben werden: In den Urlaub fahren (78%), Lichttherapie (56%), Sich zusammenreißen und Schokolade essen (jeweils 18%).

Formen der Stigmatisierung

Die Stigmatisierung zeigt sich im Alltag auf vielfältige Weise, zum Beispiel als Tabuisierung. Damit ist das Vermeiden von Kontakt, von persönlichen Gesprächen mit dem Betroffenen gemeint, der Rückzug aus einer Beziehung, aber auch einfach das Totschweigen einer Erkrankung. Gerade in der Familie oder im engsten Bekanntenkreis stellt das Schweigen aus Scham ein Problem dar, da dem Betroffenen so nicht frühzeitig geholfen werden kann. 

Eine andere Form der Stigmatisierung ist die bewusste Zurückweisung und Abwertung eines Betroffenen. Das reicht von negativem Reden, in Form scheinbar harmloser Witze oder sich lustig machen, über Vorwürfe, die Krankheit diene nur der Erreichung eigener Vorteile bis zur Ausgrenzung aus einer Gruppe, etwa durch Mobbing. Auch erleben viele Erkrankte Diskriminierung, also Benachteiligung, etwa wenn ein Erkrankter aufgrund seiner Erkrankung bei einer Stellenbewerbung oder einer Beförderung übergangen wird.

Angst braucht eine Lobby

Die wichtigste Maßnahme gegen Stigmatisierung ist die Vermittlung von Wissen über psychische Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung wie unter den Angehörigen und Betroffenen selbst. Das negative Bild Erkrankter in der Öffentlichkeit muss sich ändern ebenso wie die Schuldzuweisung. Umgekehrt müssen Betroffene sich bemühen, aus der Tabuhaltung herauszukommen, sich nicht als Opfer zu sehen, sondern als Menschen, die mehr widrige Umstände zu ertragen hatten als andere und dennoch in der Lage sind, ein befriedigendes Leben zu leben.