Donnerstag, 21. Mai 2020 | 8 Uhr
Guten Morgen!
Wir wünschen euch heute einen schönen Herrentag, Vatertag, Christi Himmelfahrt oder was oder wen auch immer ihr heute feiern mögt.
Nachdem die gestrigen Ausgaben ganz unter dem Motto des Ordnens und Puzzelns standen, widmen wir uns heute dem Thema des Perspektivenwechsels. In unserem Tipp des Tages geht es deshalb darum, die Welt mal durch eine Linse (und nicht nur die Linsen in unseren Augen) zu entdecken. Und auch in unserem Beitrag “Von Mensch zu Mensch” soll es um eine Art Perspektivenwechsel gehen. Wer dort welche Perspektive wohin wechselt? Das wollen wir euch nicht vorwegnehmen. Schaut deshalb einfach selbst!
Unser Block mit den aktuellsten Nachrichten aus der Nacht beschäftigt sich mit der Situation in Spanien und bei der Lufthansa. Außerdem gibt er einen Ausblick auf einen möglichen Sommerurlaub, die Fertigstellung der deutschen Corona-App und den kommenden G7-Gipfel. Und die “Gute Nachricht des Tages” ist heute vor allem eine gute Nachricht für Abiturient*innen.
In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen, Perspektiven finden und neu ordnen, wünschen euch Sebastian, Annika und das Team von angstfrei.news!
Und wie immer freuen wir uns über Ideen, Anmerkungen und auch Wünsche im Feedbackformular.
Die gute Nachricht des Tages
Hilfsaktion zur Vorbereitung auf die Abitur-Prüfungen
Die Schüler*innen der aktuellen Abschluss-Jahrgänge stehen aktuell gleich doppelt unter Druck. Nicht nur müssen Sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten wie schon viele andere Generationen vor ihnen, sie müssen sich dazu noch einer gänzlich unbekannten Situation stellen. Die Kommunikation zu ihren jeweiligen Lehrer*innen verläuft seit den Schulschließungen reduziert, und auch das gemeinsame Lernen in der Gruppe ist aufgrund der Kontaktbeschränkungen nur digital möglich.
Seit Mitte März 2020 hat der Stark-Verlag (bekannt für seine roten Abitur-Bücher) gemeinsam mit der Plattform Study Smarter eine Hilfsaktion gestartet. Das Ziel: Freier Zugang zu sämtlichen Lerninhalten des Verlags über die Lernplattform seines Partners.
Über Study Smarter können Schüler nicht nur Lern- und Übungsunterlagen herunterladen, sondern sich auch effizient mit Lehrern und anderen Schülern austauschen. So können sich ganze Klassen in Lerngruppen zusammenfinden und gemeinsam das Erlernte abklopfen.
Nun haben beide Unternehmen gemeinsam das Angebot verlängert - und zwar bis Ende des Schuljahres.
→ BASIC thinking
Entwicklungen seit gestern Abend
Maas rechnet mit europäischen Regelungen für den Sommerurlaub
Bei den Beratungen innerhalb der EU zum Abbau der Reisebeschränkungen sind offenbar Fortschritte erzielt worden, ein konkretes Ergebnis gibt es aber noch nicht. Außenminister Heiko Maas zeigte sich nach Videokonferenzen mit den Nachbar- und Urlaubsländern der Deutschen zuversichtlich, dass sich die EU-Staaten in den kommenden Wochen auf Regelungen für den Sommerurlaub in der Corona-Krise einigen.
Maas hatte heute mit den Außenministern der neun Nachbarländer Deutschlands beraten, am Montag konferierte er mit seinen Amtskollegen aus zehn der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen. Beide Videokonferenzen dienten dazu, die Aufhebung von Grenzkontrollen wegen der Corona-Pandemie und die Lockerung von Quarantänemaßnahmen mit Blick auf den Sommerurlaub vorzubereiten. Darüber hinaus ging es dabei um Strategien, wie der Schutz der Urlauber vor Infektionen gewährleistet werden könne.
→ Tagesschau
Spanien verlängert den Notstand bis 6. Juni
Das Parlament in Madrid billigte am Abend einen entsprechenden Antrag der Regierung Sanchez mit knapper Mehrheit. Für Touristen werden die Grenzen frühestens Ende Juni geöffnet. Gegen die strikten Ausgangsbeschränkungen hatte sich zuletzt vermehrt Widerstand gezeigt. Zum Teil demonstrierten hunderte Menschen dicht gedrängt auf den Straßen und verletzten damit das Versammlungsverbot. Sanchez wies in seiner Rechtfertigungsrede im Parlament die Kritik auch manch konservativer Abgeordneter zurück und betonte, den Notstand aufzuheben wäre grob unverantwortlich. Niemand habe das Recht, das, was man erreicht habe, leichtfertig zu verspielen.
→ Deutschlandfunk
Entscheidung über Lufthansa-Rettung „in Kürze“
Bezüglich der Rettung der durch die Corona-Krise in Schieflage geratenen Lufthansa bahnt sich eine Entscheidung an. Die Regierung sei in „intensiven Gesprächen“ mit dem Unternehmen und der EU-Kommission, sagte Bundeskanzlerin Merkel am Abend in Berlin. Details zu den laufenden Gesprächen könne sie nicht nennen. Ein Regierungssprecher sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Gespräche seien zwar weit gediehen, aber noch nicht beendet. Unklar ist, ob der Bund bei der Lufthansa im Gegenzug für die geplanten Milliardenhilfen eine Sperrminorität von 25 Prozent plus einer Aktie erhält. Dies hatte die SPD gefordert.
→ Deutschlandfunk
Apple und Google veröffentlichen Schnittstelle für Corona-Apps
Apple und Google haben heute die im April angekündigte Programmier-Schnittstelle (API) für Bluetooth-basierte Contact-Tracing-Apps veröffentlicht. Gesundheitsbehörden in aller Welt können damit nun entsprechende Anwendungen für Apples Betriebssystem iOS und Googles Android entwickeln und zur Freigabe in den App-Stores der beiden Unternehmen einreichen. Mehrere US-Bundesstaaten sowie 22 weitere Länder auf fünf Kontinenten haben den Zugang zur Schnittstelle bereits beantragt und bekommen, teilten Apple und Google am Mittwoch mit. In Deutschland entwickeln SAP und T-Systems derzeit eine entsprechende App zur elektronischen Kontaktermittlung von Corona-Infizierten, die Mitte Juni fertig sein soll.
→ Der Spiegel
Trump erwägt G7-Gipfel doch als reales Treffen
Der Präsident der Vereinigten Staaten erwägt, den diesjährigen G7-Gipfel nun doch nicht per Video abzuhalten. Trump schrieb auf Twitter, da sich das Land von der Corona-Krise erhole, denke er darüber nach, die Zusammenkunft am ursprünglich geplanten Termin oder an einem "ähnlichen Datum" in Camp David, dem Landsitz des US-Präsidenten, zu veranstalten. Dies wäre ein großartiges Signal der Normalisierung, erklärte er. Die anderen Länder starteten auch bereits ihr Comeback, schrieb Trump weiter. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich betont zurückhaltend zu dem überraschenden Vorstoß aus dem Weißen Haus.
Ob es tatsächlich zu einem realen Treffen kommt, bleibt fraglich. Experten zufolge ist die Krise in den Vereinigten Staaten keineswegs überstanden. Auch europäische Länder sind trotz erster Lockerungen noch weit von einer kompletten Rückkehr zur Normalität entfernt.
→ Süddeutsche Zeitung
Grenzstädte erwarten Ansturm von deutschen Shopping-Touristen
Die niederländischen Grenzstädte Venlo und Roermond haben sich auf einen Ansturm von Einkaufstouristen vorbereitet. Ein verstärktes Aufgebot von Ordnungskräften soll am Himmelfahrtstag auf die Einhaltung der Corona-Regeln achten, wie die Sprecher in den Städten sagten. Nach der Erfahrung des vergangenen Sonntags, an dem Venlo für Corona-Verhältnisse viel zu voll gewesen sei, warnte die Stadt vor Verstößen. Sie mahnte, nicht mit der ganzen Familie zu kommen. Beim Einkaufen gibt es den Angaben nach keine Schutzmaskenpflicht. Eine wichtige Regel gegen die Ausbreitung des Virus ist die Abstandsregelung von eineinhalb Metern. Gruppen, die nicht einer Familie angehören und ohne Abstand unterwegs sind, droht nach Angaben der Stadt Venlo pro Person ein Bußgeld von 390 Euro. Sollte es trotz des Appells zu voll werden, will Venlo Parkplätze und Parkhäuser schließen oder auch Zufahrtsstraßen vorübergehend abriegeln. (dpa)
NRW: Positive Bilanz nach 8 Wochen Beschränkungen
Die nordrhein-westfälische Polizei hat seit Inkrafttreten der Corona-Kontaktbeschränkungen im März rund 13.000 Verstöße geahndet. Bei knapp 12.400 Verstößen seien Ordnungswidrigkeiten-Anzeigen erfolgt, in 640 schwereren Fällen seien Strafanzeigen erstattet worden, berichtete eine Sprecherin des NRW-Innenministeriums auf dpa-Anfrage. Seit acht Wochen gelten die Auflagen. In dieser Zeit seien fast 38.400 Menschen durch Verstöße aufgefallen. Waren in den ersten Wochen 2.000 bis 2.500 Ordnungswidrigkeiten pro Woche registriert worden, sank ihre Zahl in der zweiten Hälfte auf zuletzt gut 300. Der Überwiegende Teil der Bevölkerung habe sich demnach aber an die Auflagen gehalten (dpa)
Corona in Zahlen
In Deutschland sind 176.007 Menschen als infiziert getestet worden (Stand: 20.05.2020 00:00 Uhr, Quelle: RKI), das sind 797 Personen mehr als am Tag zuvor.
Warum diese Zahlen? Wir zitieren hier die offiziellen Zahlen des RKI, diese werden einmal täglich – immer um Mitternacht – veröffentlicht und um 10 Uhr morgens online bereitgestellt. Das bedeutet für unsere Webseite, dass ihr immer Abends aktuelle Zahlen bei uns abrufen könnt. Und warum gibt es hier nicht mehr davon? Es ist wichtig, die aktuell angeratenen Verhaltensweisen zu befolgen, das wissen wir alle. Zahlen über Neuerkrankte helfen uns dabei nicht. Achtet aufeinander und haltet Distanz.
Gesundheitsticker: 2.024.231 Menschen sind weltweit wieder genesen, das sind 34.174 Personen mehr als gestern Abend. Davon 156.900 in Deutschland (Stand: 21.05.2020 07:08 Uhr, Quelle: Worldometers).
Tipp des Tages
Perspektivenwechsel: Der Blick auf die Welt durch die Augen einer Kamera
Zum heutigen Tipp des Tages wurde ich (Annika) durch meinen Freund inspiriert: Der verbrachte nämlich auch vor Corona schon einen Großteil seiner Freizeit mit der Fotografie. Egal ob es die Blume auf dem Balkon, der Schmetterling auf einer Blüte im Garten oder der See im Stadtpark war - irgendein Fotomotiv fand er eigentlich immer. Und so sehr es mich manchmal auch nervte, für einen Ausflug von vornherein zwei Stunden mehr Zeit einzuplanen (weil es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass ihm ein interessantes Motiv vor die Linse sprang, das aus jeglichen Perspektiven aufgenommen werden musste), umso erleichterter bin ich jetzt auch, dass er seinem Hobby auch trotz jeglicher Beschränkungen weiter nachgehen konnte. Das Fotografieren beruhigt ihn und ermöglicht ihm einen völlig anderen Blick auf die Welt. Kleine Details, die sonst im Alltag an uns vorbei rauschen, nimmt er plötzlich viel intensiver wahr. Und sein Hobby ist vielseitiger, als ich es erwartet habe: An den Tagen, an denen er keinen Spaziergang mit seiner Kamera unternehmen möchte, widmet er sich der digitalen Nachbearbeitung der Fotos oder sieht sich Tutorials zu Techniken oder potenziellen neuen Projekten an. Besonders hat es ihm dabei der Fotograf und YouTuber Stephan Wiesner angetan, der seit Corona auch in Live-Videos Fragen zur Fotografie beantwortet. Seine Ausführungen verstehe meistens auch ich - die Videos richten sich also nicht nur an Fortgeschrittene, sondern auch an Anfänger*innen oder diejenigen, die bisher in erster Linie mit der Kamera am Smartphone (und nicht der kostenintensiven Spiegelreflexkamera) unterwegs waren. Seinen Channel mit allen Videos findet ihr → hier.
Und für all diejenigen unter euch, die ebenfalls fotografieren und damit höher hinaus möchten, gibt es regelmäßig eine Vielzahl an Fotografiewettbewerben, die sich oftmals einem bestimmten Thema gewidmet haben. Noch ein Tipp dazu: manche Teilnahmen sind mit Erhebung einer Teilnahmegebühr verbunden; lest deshalb die Beschreibungen der Wettbewerbe vor dem Einreichen eurer Fotos. Einen Überblick zu gegenwärtig laufenden Wettbewerben und den jeweils damit verbundenen Konditionen findet ihr zum Beispiel unter den folgenden beiden Links:
→ Fotobuchmagazin | Fotowettbewerbeliste
Von Mensch zu Mensch
von Annika
Von Gewalt- und Gefühlskreisläufen
In meinem „richtigen Leben“ arbeite ich mit straffällig gewordenen Menschen, unter anderem als Anti-Gewalt-Trainerin. Insbesondere innerhalb dieser Trainings stellt die Kommunikation über eigene Gefühle einen großen Bestandteil dar. Den Teilnehmern (tatsächlich handelt es sich dabei in erster Linie um Männer) soll es dadurch ermöglicht werden, ein Gefühl von Empathie gegenüber den Betroffenen der eigenen Gewalttaten entwickeln zu können.
Die Bilder und Erlebnisse, die sich dabei ergeben, ähneln sich oftmals sehr stark. Da es sich um ein Gruppentraining handelt, beginnen die Trainings in den ersten Sitzungen zumeist damit, dass sich die Teilnehmer gegenseitig beweisen wollen, wie „stark“ oder „gefährlich“ sie wären. Sie berichten fast mit Stolz über ihre Gewalttaten. Schwäche? Kennen sie nicht. Sie sind schließlich stark und unverwundbar. "Richtige Männer“ also.
So?
Im Laufe der Sitzungen weichen diese Muster dann langsam auf. Die Teilnehmer lassen an der einen oder anderen Stelle durchblicken, dass sie etwas emotional bewegt (und sei es „nur“ die Tatbeschreibung eines anderen Teilnehmers, der seine Freundin oder sein Kind verletzte - hoch emotional besetztes Thema!). Diese Momente sind kurz. Sie werden schnell wieder von der Fassade des unnahbaren Mannes abgelöst. Aber sie sind da.
Mein erstes Training habe ich noch als Zuschauerin innerhalb einer Justizvollzugsanstalt begleitet. 15 Teilnehmer, die Körperverletzungen, Raubdelikte und Morde begangen haben. Und ich, gerade 23 Jahre alt geworden, mittendrin. Einerseits voller Neugier auf das, was mich erwarten sollte, aber gleichwohl auch voller Respekt vor dem, was das Ganze wohl mit mir machen würde.
Wenn ich an das damalige Training denke, ist mir eine Sitzung davon besonders in Erinnerung geblieben: Es ging es um den Lebenslauf eines Teilnehmers. Und zunächst zurückhaltend, begann er nach und nach zu erzählen. Gewalterlebnisse in der Kindheit, der abwesende Vater, Mobbing und Gewalt in Kindergarten und Schule. Der typische Inhalt dessen, was bei medialen Berichten zu Strafprozessen gern als „typische schlechte Kindheit“ betitelt wird. Keine Entschuldigung für die späteren Straftaten – aber durchaus eine Erklärung dafür, weshalb sich gewaltfördernde Ansichten und Fassaden in ihm aufgebaut haben. Dieser Mensch hatte seit seiner Kindheit eine Mauer um sich herum aufgebaut. Eine Mauer, die von außen aus Stein bestand und alles und jeden abwehrte, der oder das ihm zu nahe kommen wollte.
Als er sich als junger Erwachsener in einer Situation zu stark bedrängt und überfordert fühlte, fehlten ihm die notwendigen Fähigkeiten, das auch zu kommunizieren. Aus eigener Hilflosigkeit und dem drängenden Bedürfnis nach Freiraum erschlug er letztendlich eine Frau - und wurde deshalb zu lebenslanger Haft verurteilt. Und während er nun dort saß und von seiner Vergangenheit erzählte, verstand er plötzlich den Zusammenhang zwischen seiner eigenen Sozialisation, seinen erlernten Verhaltensweisen und den durch ihn begangenen Straftaten. Und nun saß dieser körperlich große Mann vor seiner auf einem großen Stück Papier verbildlichten Biografie und weinte. Echte, ehrliche Tränen. Und in demselben Raum, in dem kurz zuvor noch jeder Teilnehmer dem anderen beweisen wollte, wie unnahbar er doch sei, herrschte nun völlige Stille.
Im weiteren Verlauf des Trainings habe ich dann auch verstanden, wieso: die Biografien ähnelten sich. In allen Lebensläufen fanden sich Kreisläufe von Gewalt wieder, aus denen sie es bisher nicht schafften, auszubrechen. Keiner dieser Männer hatte je gelernt, Gefühle zuzulassen, zu spüren und zu kommunizieren. Stattdessen wurde ihnen vermittelt, dass es etwas Negatives sei, Gefühle von Schwäche, Trauer oder Schmerz zuzugeben. Dass sie dadurch weniger „Mann“, weniger wert wären.
Und so fern mir ihre Lebenswelt auch manchmal sein mag, ertappe ich mich doch hin und wieder dabei, dieses Muster auch bei mir anzuwenden - wenn auch ohne Gewaltkreisläufe. Ich mag mir oftmals auch keine Schwächen eingestehen und so sehr sie auch ein Teil meines Lebens ist, zähle ich meine Angst oft dazu. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, eine Fassade um mich herum aufzubauen und Menschen nur selten an mich heranzulassen. Ich möchte nicht „enttarnt“ werden und schäme mich für meine Gefühle. Also gebe ich nicht zu, dass ich Angst habe, sondern reagiere in Situationen, in denen ich sie empfinde, mit abweisendem Verhalten. Mit Aggressionen.
Sicher – glücklicherweise habe ich irgendwann in meinem Lebenslauf gelernt, dass Gewaltdelikte oder Mord keine Alternative sind, um Probleme zu lösen. Aber wie sähe mein Leben jetzt wohl aus, wenn ich nicht so privilegiert aufgewachsen wäre? Wenn es in meinem Leben keine liebevolle Mutter und keine umsorgenden Großeltern gegeben hätte? Ich kann nicht dafür garantieren, dass ich dann nicht auch irgendwann in einer Justizvollzugsanstalt vor meiner aufgemalten Biografie gesessen und ehrliche Tränen geweint hätte.
Es liegt noch eine Menge Arbeit vor mir, bis ich irgendwann hoffentlich so mit meinen Gefühlen und meiner Angst umgehen kann, wie ich das gern hätte. Und auch, wenn mein Weg dahin wahrscheinlich anders aussieht, als der meiner Teilnehmer, ist er doch genauso lang und steinig.
Ich verbringe den ganzen (Arbeits-)Tag damit, andere Menschen dabei zu unterstützen, einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden. Ich ermutige sie dazu, diese Gefühle nach außen zu tragen. Allerdings gibt es immer wieder Trainingssitzungen, in denen ich spüre, dass ich das, was ich dort predige, manchmal selbst nicht einhalten kann. Je nach Gruppendynamik gebe ich das dann auch zu - und ernte damit meistens erstaunte Gesichter unter den Teilnehmern. Die „allmächtige Trainerin“ soll also diese Gefühle auch kennen? Auch sie fühlt sich manchmal schwach oder schämt sich für das, was in ihr vorgeht? Tja. Leider ja.
So manches Mal hat diese Situation schon zu einer verbesserten Arbeitsbeziehung in den kommenden Sitzungen geführt. Und komischerweise wird dem, was ich ihnen vermitteln möchte, plötzlich viel aufmerksamer zugehört. Es fühlt sich an, als wäre eine Barriere zwischen uns verschwunden, die im Vorfeld verhindert hat, dass sie das, was ich ihnen erzähle, auch annehmen können. Auf einmal werde ich nämlich nicht mehr als „allmächtig“ wahrgenommen, sondern kann authentisch von meinen eigenen Gefühlen berichten. Und diese sind nun einmal auch nicht durchweg positiv. Dafür muss ich den Teilnehmern auch nichts von Psychologie und Krankheitsbildern erzählen - das beklemmende Gefühl von Angst kennen sie selbst.
Und wenn sie das Training am Ende dann mit Erkenntnissen über ihre eigenen Gefühle verlassen und diese Erkenntnisse zukünftig auch nur eine einzige potenzielle Gewaltstraftat verhindern, hatte meine Offenheit über meine eigenen Dämonen auch einen Sinn.
Die vorhin beschriebene Sitzung klang übrigens musikalisch aus. Nach der Verabschiedung lief im Trainingsraum „Hey“ von Andreas Bourani, in der Version von Yvonne Catterfeld:
„Wenn die Angst dich in die Enge treibt, es fürs Gegenhalten nicht mehr reicht, du es einfach grad’ nicht besser weißt, dann bleib’.
Es geht vorbei.
Es geht vorbei.
Hey, sei nicht so hart zu dir selbst.
Es ist ok, wenn du fällst.
Auch wenn alles zerbricht, geht es weiter für dich.
Hey, sei nicht so hart zu dir selbst.
Auch wenn dich gar nichts mehr hält - du brauchst nur weiter zu gehen.
Komm nicht auf Scherben zum Stehen.“
(Yvonne Catterfeld - „Hey“)
Eure Annika
Dies und Das
Kostenfreies Hilfsangebot von „HelloBetter“
Unter dem Motto „Gemeinsam stark durch die Krise!“ wurde durch die Initiator*innen von „HelloBetter“ ein digitales Angebot zum Umgang mit negativen Gefühlen, bedingt durch die Corona-Krise, ins Leben gerufen. Neben einer Mediathek, in der ihr unter anderem Tipps für euren Alltag, zum Umgang mit Schlafproblemen oder zum Umgang mit Einsamkeit findet, bietet die Plattform auch eine telefonische Beratung, bei der ihr zwischen 8 und 20 Uhr kostenlos und direkt mit Psychotherapeut*innen und Psycholog*innen sprechen könnt. Eine wichtige Anmerkung jedoch dazu: Das Angebot der Seite ist vielseitig aufgestellt. Es richtet sich an all diejenigen, die gegenwärtig unter Schwierigkeiten oder Ängsten in Zusammenhang mit der Corona-Krise leiden und diesbezüglich Unterstützung suchen. Es ist damit nicht explizit auf Angstpatient*innen ausgerichtet. Deshalb kann es sein, dass ihr manche Tipps der Seite für euch als nicht weitreichend genug oder als nicht hilfreich empfindet. Gebt deshalb bitte gut auf euch acht und zieht euch bestenfalls das aus dem Angebot, was ihr für euch als angenehm und hilfreich einschätzt.
→ Gemeinsam durch die Krise
Bei Schwerhörigkeit: Mundbedeckung darf kurzfristig abgenommen werden
Die Beratungsstelle Essen des Deutschen Schwerhörigenbundes Nordrhein-Westfalen weist darauf hin, dass Mund-Nasen-Bedeckungen, zum Beispiel durch Verkäufer*innen im Supermarkt, im Kontakt mit schwerhörigen Menschen abgenommen werden dürfen. Das ermögliche eine bessere Verständigung mit den hörbeeinträchtigten Personen, die unter Umständen auf die Sichtbarkeit des Mundbildes beim Sprechen angewiesen wären. Für Menschen mit Hörbeeinträchtigung gelte daher bei der Mundschutzpflicht der Corona-Schutzordnung Nordrhein-Westfalen eine Ausnahmeregelung. Die Schwerhörigkeit müsse nicht durch einen entsprechenden Ausweis oder ähnliches nachgewiesen werden; es genüge auch eine „plausible Darlegung“, zum Beispiel durch den Hinweis auf ein Hörgerät.
→ dpa
Biergarten statt Parkplatzflächen
Um Betreiber*innen von gastronomischen Einrichtungen die Umsetzung der ländereigenen Vorgaben für die Öffnung der Betriebe zu erleichtern, entbrannte in einigen Städten eine Diskussion darüber, Parkplatzflächen für die Außenbestuhlung von Restaurants, Cafés oder Bars zur Verfügung zu stellen. In Köln wurde diese Möglichkeit grundlegend bereits beschlossen; Betreiber*innen warten nun noch auf die offiziellen Genehmigungen. Die Nutzung der bereitgestellten Flächen soll kostenfrei erfolgen.
→ Deutschlandfunk Nova
Und in diesem Sinne wünschen wir euch nun einen schönen Feiertag! Egal, ob ihr diesen auf dem Fahrrad, mit Abstandsregeln in einem der geöffneten Biergärten oder mit euren Liebsten verbringt - seid gut zu euch, habt euch lieb und gebt gut auf euch acht!
Euer Sebastian, eure Annika
und das Team von angstfrei.news.
Ideen, Anmerkungen, Wünsche? Gerne hören wir über das Feedbackformular von euch. Ihr wollt unsere Arbeit unterstützen: Spenden und Fördermitgliedschaft bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V.
Quellen
Corona in Zahlen (RKI) | Gesundheitsticker | Über die Landesregierung NRW sind wir außerdem an den dpa-Nachrichten-Ticker angebunden, den wir immer als Quelle verwenden, wenn wir (dpa) schreiben.