Donnerstag, 30. Juli 2020 | 8 Uhr
Guten Morgen ihr Lieben,
wie bitte?! Schon wieder Donnerstag? Diese Woche war ein einziges Chaos von Verbindlichkeiten, To-Do-Listen und kurzen Nächten. Und nun ist Donnerstag und ich frage mich, wie ich diese Woche noch in den Griff bekomme - die anderen können es doch auch?! Ich sage mir: "Atmen. Dinge in Ordnung bringen." Und erinnere mich an meinen eigenen Text vom 20. Mai 2020, in dem ich über die Sehnsucht nach Ordnung geschrieben habe. Es geht nicht um das Puzzle der anderen. Sondern um mein ganz eigenes Bild - aber lest selbst.
Ideal dazu passt der Text von Sebastian vom 27. Mai. Er erklärt, was Salutogenese ist (ein Perspektivwechsel, wenn man so will) und lädt uns dazu ein, wohlwollend mit dem Gefühl umzugehen, sich verloren oder hilflos zu fühlen, obwohl alles ok ist. Ein guter Text für einen Donnerstag, wenn ihr mich fragt.
Damit einen schönen Tag und viele Grüße von
Katharina und dem ganzen Team von angstfrei.news.
P.S.: Wir hoffe euch gefällt das aktuelle Format während unser Redaktionsferien. Wir freuen uns sehr über Feedback hierzu. Ab dem 3. August geht es dann in gewohnter Manier, aber mit neuem Schwung weiter.
Die Sehnsucht nach Ordnung Oder: Das Leben ist (k)ein Puzzle
von Katharina
Ich arbeite derzeit mit Hochdruck an der Datenauswertung meiner ersten Studie und hatte heute Morgen ein Aha-Erlebnis (ich erspare Euch statistische Details.): Plötzlich fielen alle Teile an ihren Platz. Das war ein wahnsinnig gutes Gefühl, weil ich vorher so viele Gedanken und Möglichkeiten gleichzeitig jongliert hatte, dass ich besorgt war, sie würden mir aus den Händen und dem Geist gleiten. Kaum hatte ich mich zu Ende gefreut, fiel mir das nächste Fragezeichen in den Blick, das es zu lösen galt. Aber im Lichte des zurückliegenden Erfolgs erschien mir das als absolut machbar - also fing ich wieder an zu jonglieren.
Im "wirklichen Leben" fallen die Teile gerade weniger leicht an ihren Platz. Schon vor Corona habe ich einige große Veränderungen vorgenommen, die gehörig für Chaos in der Puzzleschachtel gesorgt haben (wer lesen möchte, wie das war, kann auf meinem Blog vorbeischauen). Das ging so weit, dass ich mir zeitweise nicht mehr sicher war, ob alle Teile in meiner Schachtel auch tatsächlich zum selben Puzzle gehören. Die letzte Energie des Sortiertseins, die es braucht um auch das nächste Chaos zu ordnen, war also eigentlich bereits zu Beginn der globalen Pandemie aufgebraucht. Corona kam trotzdem.
Zunächst dachte ich mir "Prima! Nun sind die anderen auch in diesem diffusen Chaos-Gefühl angekommen." Das war ungemein entspannend, weil ich mich in der Dissonanz zwischen dem Wunsch zu Sortieren und dem ständigen Scheitern an dessen Umsetzung nicht mehr alleine fühlte. Viele von uns wissen, dass dieses sich-nicht-alleine-fühlen oft sehr heilsam ist.
Mit der Zeit setzte sich der menschliche Drang zu Sortieren doch durch. Das ist nicht verwunderlich: Wir werden, wer wir sind, durch das Sortieren. Seit unserer Geburt sortieren wir auf unterschiedlichsten Ebenen gleichzeitig: Freund und Feind, Schmerz und Geborgenheit, Schmeckt mir oder Schmeckt mir nicht. So bauen wir uns Stück für Stück unser großes Ganzes. Neurowissenschaftler nennen das unser analytisches Denkvermögen. Es hilft uns, immer neue Informationen und Problemlösungen zu verknüpfen. Jede Erfahrung ist die Grundlage für die nächste. Wie beim Puzzle: Mit jedem Teil, das passt, sieht das Bild anders aus. Nur, dass es im Leben nicht auf ein vorgezeichnetes Bild herausläuft, das wir nachpuzzeln können.
Und vielleicht liegt da mein eigentliches Problem – in meiner Suche nach Ordnung. Ich glaube, es gibt eine Ordnung, die bereits da ist, ich muss sie nur finden, wie Michelangelo die Statue in seinem Marmor*. Oder bedenklicher noch: ich muss nur dem Bild auf der Box folgen, in die ich mein Leben sortiert habe. Manchmal bin ich mir nichtmal sicher, ob das meine eigene Box ist, oder ob ich mir das Bild auf der Box von jemandem vorstelle, den*die ich besser, toller oder erfolgreicher finde als mich selbst.
Womit wir wieder bei Corona sind. Nach zehn Wochen Pandemie hat sich ein Alltag eingeschlichen, aber von dem großen Aha-Erlebnis bin ich (von meiner Datenanalyse mal abgesehen) noch weit entfernt. Und dann schaue ich mich um und stelle fest: Andere bekommen das hin! Sie haben das Chaos überwunden. Und ich krame noch immer nach der richtigen Schachtel.
Dabei könnte es so einfach sein, wenn ich zwei Ratschläge beherzige, die ich mir selber geben kann:
(1) Perspektivwechsel statt ein Blick auf andere.
Der Blick auf "andere" hat noch nie geholfen. Wie Eckart von Hirschhausen so schön sagt: Wir wissen ja garnicht, was hinter deren Stirn abläuft, wir sehen nur das Außen, was wir sehen sollen und dürfen. Uns selber hören wir in unseren Gedanken und Abgründen zu. Kein Wunder, dass wir uns kritischer sehen. Was hilft ist, uns von außen zu sehen und uns dann mal in den Arm zu nehmen für all das Engagement, was wir aufbringen, für die Arbeit die wir machen und die Beziehungen, die wir pflegen und für uns selbst, die wir einfach mal eine Umarmung gebraucht haben.
(2) Wer sich eine Schachtel sucht, verstaubt im Regal.
Anders als beim Puzzle oder in der Statistik gibt es wohl keine Schachtel und kein Vorbild, nachdem wir unsere Teile ordnen sollten. Die Teile unseres Lebens fallen natürlich zusammen, wenn wir sie lassen. Atmen hilft dabei. Auch ein kühler Kopf ist erlaubt: Alles mal aufschreiben und Nützliches von weniger Hilfreichem unterscheiden. Nur nachpuzzeln sollten wir vermeiden. Das kann nicht passen, denn anderer Leute Bilder können wir nur mit anderer Leute Puzzelteile puzzeln und wir sind mit unseren eigenen Teilen beschenkt.
Seid ihr nicht neugierig, welches Bild dabei herauskommt?
*Michelangelo soll mal gesagt haben, die Statue sei schon im Marmor, bevor er mit seiner Arbeit beginnt. Er würde sie lediglich befreien.
Salutogenese
von Sebsatian
Vor kurzem war mal wieder einer dieser Tage. Es fing morgens schon damit an, dass ich den Kakao für die Lütte auf der Arbeitsplatte verteilt habe. Und wirklich besser wurde es im Verlauf des Tages dann auch nicht. Die Einzelheiten möchte ich Euch ersparen. Es war letztlich wohl ein Konglomerat aus Müdigkeit, Stress, Unsicherheit und unnötigen Grabenkämpfen an der neuen Arbeitsstelle, gepaart mit der sich schleichend aufdrängenden Frage, ob das denn gerade alles so seine Richtigkeit hat hier. Es ging mir nicht gut und ich habe gezweifelt. An mir und an der Welt. Wenn ich ehrlich bin, tat ich mir an diesem Tag einfach furchtbar leid. Und genau das hat mich im Laufe des Tages immer mehr geärgert.
Denn eigentlich geht es mir doch gut! Ich habe einen vernünftigen Job, bin körperlich gesund, habe eine tolle Familie und in meinem kleinen Patchwork-Kosmos fällt langsam aber sicher alles an seinen Platz. Warum fühle ich mich dann also so? Wo kommen diese Zweifel und diese Unsicherheit her? Warum geht mir das alles und gehe ich mir selbst so auf den Sender? Und ist das überhaupt erlaubt? Und wie gehe ich damit um?
Jetzt ist das Ganze schon wieder ein paar Tage her. Und ein paar Mützen Schlaf und eine Handvoll positiver Erlebnisse und Gespräche mit den neuen Kolleg*innen später ist auch alles wieder gut irgendwie. Und trotzdem ließ mich in den letzten Tagen die Frage nicht so recht los, wie das denn zusammen passt: Diese negativen Gefühle und meine eigentlich ja doch ganz positive Lebens-Situation. Und dann viel mir beim Ausmisten meiner virtuellen Ordner auf dem Arbeits-PC eine Präsentation in die Hände, die ich vor einiger Zeit mal im Unterricht verwendet habe. Thema: Das Salutogenese-Konzept.
An dieser Stelle muss ich vielleicht ein wenig ausholen. Das Salutogenese-Konzept ist, so habe ich das zumindest für meinen persönlichen Bedarf heruntergebrochen, ein grundlegendes Konstrukt zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Vorläufer dieses Konzeptes war das Konzept der Pathogenese. Einfach ausgedrückt hat sich die Pathogenese beschäftigt mit der Frage: Wie und warum wird jemand krank? Und hat zwischen beiden Zuständen eine klare Grenze gezogen. Liegt Parameter x im Bereich y, bin ich gesund. Liegt er außerhalb, bin ich krank. Habe ich eine Diagnose, bin ich krank, habe ich keine, bin ich gesund. So weit, so einfach. Dummerweise passt das nicht so recht zu unser aller Lebenswelt. Weder ist es möglich, die Zustände „gesund“ und „krank“ immer und für alle so genau zu definieren, noch macht es Sinn, immer nur danach zu schauen, was einen krank macht.
So entstand das Modell der Salutogenese. Fortan war die entscheidende Frage nicht, „was macht mich krank?“, sondern „was macht oder hält mich gesund?“. Plötzlich war nicht mehr von Barrieren die Rede die es abzubauen gelte, sondern von Ressourcen, die gefördert werden müssten. Ganz eingängig fand ich in diesem Zusammenhang immer die Metapher einer Ski-Piste. Die Pathogenese beschäftigte die Frage, warum ich mir der Abfahrt das Bein gebrochen habe und welche Faktoren und Hindernisse meinen Sturz verursachten. Die Salutogenese fragt, welche Faktoren denn verhindern können, dass ich stürze und welche Ressourcen gestärkt werden können, damit ich alle Hindernisse meistere.
Ein Paradigmenwechsel, der bis heute unser Verständnis von Gesundheit und unser Gesundheitssystem bestimmt (oder zumindest bestimmen sollte).
Und noch ein wichtiger Aspekt steckt für mich in diesem „neuen“ Konzept. Die Salutogenese unterscheidet nicht streng zwischen „gesund“ und „krank“. Sie spricht vielmehr von einem Kontinuum zwischen beiden Polen, auf dem sich jeder Mensch zeitlebens bewegt. Mal befindet er sich näher am Pol „Gesundheit“, mal am Pol „Krankheit“. Aber nie ganz am einen oder am anderen Ende des Kontinuums.
Und genau dieser Gedanke hat für mich etwas Tröstendes. Ja, ich kann körperlich fit sein, einen Job haben der mich ernährt und der mir vielleicht sogar Spaß macht, ich kann in einem funktionierenden Umfeld leben – und trotzdem kann es mir mal schlecht gehen. Kann mir alles zu viel sein, kann ich mich dem Leben mal nicht gewachsen fühlen. Denn letztlich heißt das nur, dass ich mich in genau diesem Moment eben mal eher ein bisschen weiter links auf dem Kontinuum befinde. Und dass ich nur die richtige Ressource finden muss, die mich wieder weiter nach rechts schiebt – anstatt mich nur damit zu beschäftigen, was mich denn da nach links gerückt hat.
Funktioniert das immer? Sicherlich nicht. Aber der Gedanke daran ist für mich schon einmal ein Anfang.