Freitag, 24. Juli 2020 | 8 Uhr Sommerzeit
Liebe Leser*innen: Jauchzet! Frohlocket!
So beginnt das Weihnachtsoratorium von Bach, das heute gleich ein doppelt passender Einstieg in den unsere Ausgabe ist. Denn heute ist einerseits der Internationale Tag der Freude - deshalb lohnt es sich zu jauchzen. Warum und seit wann es diesen Tag genau heute gibt weiß übrigens niemand mehr so genau. Aber das ist ja auch nicht so schlimm. Man kann sich ja einfach freuen, dass es ihn gibt.
Andererseits verweist das Weihnachtsoratorium natürlich auf die Feiertage im Dezember, an denen unser Autor Johannes beinahe gestorben wäre - keine Sorge, die Geschichte fand letztendlich doch ein ein freudvolles und vor allem friedliches Ende. Deshalb hat er sie mit uns auch am 22. April geteilt zusammen mit seinen Erkenntnissen, was eigentlich am Ende wirklich wichtig ist.
Diesen wirklich wichtigen Dingen hat sich auch Uwe in seinem Text vom 19. April zugewendet: Es gibt eine Menge Dinge wie Eisschokolade oder Pandemien, derer man überdrüssig sein kann. Doch auf einige hat unser Autor einfach immer Lust. Welche das sind, erfahrt ihr in dem folgenden Text.
Wir hoffe euch gefällt das aktuelle Format während unser Redaktionsferien. Wir freuen uns sehr über Feedback hierzu. Ab dem 3. August geht es dann in gewohnter Manier, aber mit neuem Schwung weiter. Jetzt wünschen wir euch erstmal viel Spaß beim Lesen und einen guten Start ins Wochenende
Euer Tim, Markus und das ganze Team von angstfrei.news
Zum Abgewöhnen zu schade
von Uwe
Ich unterhalte mich mit einem Bekannten. "Was denkst Du, wie lange geht das noch so?" Immer die gleichen Themen, immer die gleichen Gesprächsschleifen. Wie öde. Und dann versuche ich mal, über etwas anderes zu reden, und doch landen wir kurz darauf wieder bei Corona. Wie es einem Kinderlosen geht, wenn er auf einer Party mit lauter Eltern ist.
Das Thema ist durch, es ist öde, ich bin erschöpft, ermüdet. Disaster Fatigue nennen das die Psychologie-Kollegen, lese ich. Eine Ermüdung nach permanenten Katastrophen-Nachrichten. Oder ein Gewöhnungseffekt? Nee, übermüdet und erschöpft. Weil es echt anstrengend ist, so viele negative Nachrichten zu verdauen. Abzuwehren. Und optimistisch bleiben.
Aber wollte ich nicht immer Abenteuer? Eine Gesellschaft, die sich auf einmal ganz anders verhält? Den Ausnahmezustand? Fand ich es nicht immer eintönig, wie alles seinen gewohnten Gang geht?
Als ich 17 Jahre alt war, habe ich in den ersten drei Wochen der Sommerferien gejobbt, um die letzten drei Wochen finanzieren zu können. Zumeist hatte ich mir Jobs über die Zeitarbeitsagentur geholt, da ich das abwechslungsreich fand. So landete ich dieses Mal bei Moritz-Eiskonfekt in Hamburg-Bahrenfeld (die 1996 leider dicht gemacht hat). Ich sollte trichterförmige Plastiktüten voll mit Eiskonfekt vom Fließband nehmen, in einen Karton packen, diesen dann nach 32 Eiskonfekt-Tüten zu machen und auf ein anderes Fließband legen. Dufte, das mache ich jetzt fünf Tage die Woche von 8:00 bis 16:00 Uhr, drei Wochen lang.
Ich mag Schokolade, und Eiskonfekt finde ich richtig gut. Aber schon am ersten Tag fand ziemlich schnell eine Sättigung statt. Und glaubt mir: In dem Jahr habe ich im Herbst echt keine große Lust auf Schokolade mehr gehabt. Und bis heute esse ich gerne mal eine Tafel, aber ein richtig starkes Verlangen ist seitdem nicht (mehr) da.
Das ist sensorische Sättigung. Einer Untersuchung bei Schizophrenen und Gesunden entnehme ich, dass die Leute den Geruch von Bananen auf irgend so einer Skala als ziemlich lecker beschreiben (Mittelwert 7.16; SD =1.9), dann aber nach dem Futtern von ein paar Bananen dieser Geruch nur noch mit 4.8 (2.95) eingeschätzt wurde, also sank (Danke an Verena Huth für diese Untersuchung von 2008!).
Ja, ich finde das auch nicht mehr lustig, ich habe keinen Hunger mehr auf Abenteuer. Ich bin satt. Aber leider gilt immer noch: Smells like disaster.
Und jetzt habe ich echt keinen Bock mehr auf dieses Thema. Disaster Fatigue. Ja, das habe ich. Sachen, von denen ich dachte "Wie ätzend" wie diese immer gleiche Gesellschaft - ich will sie zurück, nun merke ich: ich hatte euch lieb! Wie bei einer Ex-Freundin: Man merkt erst, wie stark man sie liebte, wenn sie weg ist und sie vermisst.
Das Gute ist: Es gibt Nahrungsmittel, bei denen nur wenig sensorische Sättigung zu beobachten ist. Brot, Reis und Nudeln können (auch ohne Beilagen als Variation) über lange Zeit gegessen werden, ohne dass die Anziehungskraft des Nahrungsmittels nachlässt. Und dass ist mit Freiheit, mit sozialen Kontakten auch so. Die sind mir zum Abgewöhnen zu schade. Bei den immer gleichen Gesprächen über das C-Wort aber nicht - die habe ich satt.
Weihnachtsfrieden
von Johannes
Vor drei Jahren bin ich fast gestorben. Ausgerechnet an Weihnachten. Ohne Vorwarnung. Einfach so. Das klingt jetzt erst einmal schlimm, daher nehme ich an dieser Stelle vorweg, dass die Sache gut ausgeht.
Es war zwei Tage vor Heiligabend. Wie aus dem Nichts hatte ich auf einmal schwere Schmerzen in der Brust. Als diese nicht aufhörten, fuhr ich ins Krankenhaus. Allerdings erst nach Stunden, weil ich dachte, ich hätte mich nur irgendwie verrenkt und die Schmerzen würden auch so wieder weggehen. Leider taten sie das nicht. Diagnose: Lungenembolie in beiden Lungenflügeln, jeweils an mehreren Stellen.
Rückblende - Ich spreche mit der Ärztin: "Lungenembolie! Ist das nicht gefährlich?" Doch, sehr häufig sogar tödlich. Aber keine Sorge, das Gefährlichste haben Sie schon überstanden. Wenn es tödlich ist, dann in der Regel direkt. Sie bekommen jetzt Medikamente, die lösen die Gerinnsel auf. In der Regel funktioniert das, wenn man schnell handelt.
Meine Frau kommt ins Krankenhaus. Sie weint. Wir reden. Wir verabschieden uns vorsichtshalber voneinander. Also nicht für den Tag, sondern für immer. Abschied. Nur für den Fall. Alles klären. Zum Glück bin ich ein friedlicher Mensch. Ich habe keinen offenen Streit mit irgendjemandem. Auch ansonsten regele ich immer alles direkt. Keine offenen Baustellen. Das ist ganz gut jetzt. Meine Frau muss dann irgendwann gehen. Wir haben auch noch ein Kind.
Ich liege im Bett und warte. Mal sehen, wie sich der Tod anfühlt, falls er denn kommt. Seit über zwanzig Jahren meditiere ich - mal mehr und mal weniger regelmäßig. Beim Meditieren geht es darum, zu beobachten und loszulassen. Theoretisch habe ich das immer getan. Das dachte ich zumindest. Jetzt liege ich hier und ich kann überhaupt nichts tun. Gar nichts. Nur warten, ob ich vielleicht doch noch heute sterbe. Und weil ich sowieso nichts anderes tun kann, lasse ich los. Zum ersten Mal lasse ich wirklich los. Vollständig, ohne Einschränkungen. Ich hoffe nichts, ich befürchte nichts, ich lasse einfach los und beobachte, was passiert.
Ohne Vorwarnung ist er plötzlich da: Frieden! Wobei das nur das beste Wort ist, das mir dazu einfällt. Es ist ein Zustand, der mit Worten leider nicht annähernd zu Beschreiben ist. Auf einmal ist alles absolut klar. Alles ergibt Sinn. Da ist überhaupt keine Angst, sondern ein völliges Aufgehobensein in der Welt. Alles ist gut. Wirklich alles. Nicht als Gedanke, sondern als tiefes Verständnis der Tatsache: Es ist wirklich alles gut!
Verrückt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Da liegt man an Weihnachten im Krankenhaus und findet seinen ganz persönlichen Frieden. Wer hätte das gedacht?
Ich bin dann übrigens nicht gestorben. An Silvester durfte ich wieder nach Hause. Bis heute hat niemand herausgefunden, wieso ich die Lungenembolie hatte. Ich rauche nicht, ich treibe regelmäßig Sport und ich habe auch sonst überhaupt keine Risikofaktoren. Man könnte sagen, dass ich einfach Pech hatte.
Ich glaube allerdings, dass ich großes Glück hatte. Nicht, weil ich überlebt habe, sondern weil die Sache meinen Blick auf die Welt korrigiert hat. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden fällt mir heute leichter als vorher. Das Gefühl des Friedens kommt immer mal wieder zu mir, es ist aber leider kein dauerhafter Gast. Und das Loslassen fällt mir heute sehr viel schwerer als damals, als ich im Grunde keine Wahl hatte. Aber immerhin darf ich ab und zu mal schauen und dafür bin ich sehr dankbar. Ich weiß jetzt für mich, dass ich absolutes Vertrauen haben und dass mir letzten Endes gar nichts passieren kann. Völlig egal, welche Höhen und Tiefen es zwischenzeitlich gibt.
Auch die Corona-Krise ist nur eine Episode, die vorüber gehen wird. Eine extrem anstrengende und unangenehme Episode, aber sie wird vorübergehen. Hinter all den Sorgen, Nöten und Ängsten, die wir haben, sind wir geborgen. Immer. In jedem einzelnen Augenblick. Da bin ich mir absolut sicher.