Montag, 13. Juli 2020 | 8 Uhr
Liebe angstfrei-Leserinnen und angstfrei-Leser,
der Montag ist ein wenig wie der Neujahrstag. Man schaut auf seinen Kalender, plant die Woche, nimmt sich einiges vor. So wie am Jahresanfang die guten Vorsätze für die nächsten 365 Tage, nur kleinteiliger. Warum für die anbrechende Woche heute am 13. Juli nicht ein wenig größer denken? Zum Beispiel mit MUT-ANFÄLLEN. Diese Ausgabe kreist rund um dieses Thema, u.a. in einem spannenden Interview mit der Erfinderin der MUTFABRIK.
Hiermit wünschen Wolfgang und Markus mit der gesamten angstfrei-Redaktion einen MUTIGEN, gerne auch anmutigen Start in diese Woche.
Die gute Nachricht des Tages
„Das Schicksal an der Kehle packen“
Einige gehen in die Kirche, um sich Mut zu machen. Andere lesen psychologische Literatur, etwa „Psychology Today“. Darin findet sich der für diese Zeiten sehr ermutigende Beitrag „Courage and the COVID-19 Crisis“. Im Zentrum steht der Terminus „existenzielle Courage“. Das ist für den Autor Stephen A. Diamond das Äquivalent für Mut. Dieser sei fürs Leben essenziell.
Der Autor bedauert, dass wir diese Courage heute als Ergebnis zivilisatorischer Annehmlichkeiten weitgehend verloren haben. In der Frühzeit, als der Mensch sich noch gegen wilde Tiere verteidigen musste, kämpfte er täglich ums Überleben. Noch im Mittelalter wusste er nie, ob er das nächste Jahr erleben würde. Kriege, Hungersnöte, Seuchen waren allgegenwärtig. Dass das Leben auf dem Planeten heute weiterhin massiv gefährdet ist, durch Kometen- und Asteroideneinstürze, Vulkanausbrüche und Naturkatastrophen jeder Art, haben wir verdrängt, ebenso dass ein kleiner Fehler oder ein verrückter Präsident immer noch einen Atomkrieg auslösen könnte.
Das Risiko des Lebens wurde uns erst jetzt durch die Covid-19 Pandemie wieder schmerzhaft bewusst. Mit anderen Worten: Das Leben ist immer lebensgefährlich. Und es verlangt uns täglich Lebens-Courage ab, es gegenüber allen Risiken zu meistern.
Mut und Courage (vom französischen Wort coeur = Herz) verleihen die Kraft, uns gegen die Umstände und das Schicksal auf die Hinterbeine zu stellen, schreibt Diamond, und einen Lebenswechsel einzuleiten, anstatt davor in Angst zu türmen. Mit der wilden Entschlossenheit des Seemanns Popeye: „That’s all I can stand, and I can’t stand no more!”
Es verlangt immense Courage, authentisch durchs Leben zu gehen, seinen eigenen Prinzipien treu zu bleiben, sein eigenes Schicksal zu reiten. Diamond verweist auf Ludwig van Beethoven, der mit 28 ertaubte und in den 30 Folgejahren völlig taub einige der schönsten Stücke der Musikwelt schuf. Wie?
„Sein Zorn über sein Los verlieh ihm die Courage, sich kämpferisch selbigem zu stellen, sich über alle Hindernisse zu erheben, das Schicksal an der Kehle zu packen, auf dass es ihn nicht ganz überwältigte.“
→ Psychology Today | Tillich, P. (1952). The courage to be. New Haven, NJ: Yale University Press | May, R. (1976). The courage to create. New York: Bantam Books
Die Nachrichtenlage
Trump zeigt sich mit Maske
Angesichts der dramatischen Zunahme von Coronavirus-Infektionen in den USA trug Präsident Donald Trump bei seinem Besuch im Walter Reed Military Hospital einen Mund- und Nasenschutz. Trump wurde zuletzt im Mai während der Besichtigung einer Fabrik in Michigan fotografiert, wo er vorübergehend eine Maske aufsetzte. Medienberichten zufolge beugt er sich dem Druck seiner Berater, die den Präsidenten seit Wochen drängen, die Empfehlung seiner Regierung, selbst Masken zu tragen, umzusetzen.
→ Süddeutsche
Verschärfte Corona-Regeln für Mallorca-Urlauber
Feiern ohne Distanz und Maske ging vielen auf Mallorca nun doch zu weit. Nach den Partys des Wochenendes ohne Rücksicht auf die Corona-Regeln haben die Verantwortlichen nun reagiert. Ab morgen gilt auf den Balearen eine strengere Maskenpflicht im Freien. Ausnahmen sind nur für Strände und Schwimmbäder vorgesehen.
→ Tagesschau.de
WHO meldet Rekordanstieg neuer Corona-Infektionen
In den vergangenen 24 Stunden seien weltweit mehr als 230.000 neue Krankheitsfälle registriert worden, teilte die WHO am Sonntag mit. Die größte Zahl der Neuinfektionen innerhalb eines Tages verzeichnete die WHO erst am Freitag mit über 228.000 Fällen. Nach Angaben der WHO liegt die Zahl der bestätigten Infektionsfälle weltweit inzwischen bei 12,5 Millionen.
→ Deutschlandfunk
Studie dämpft Hoffnung auf schnellen Impfstoff
Wissenschaftler auf der ganzen Welt führen Antikörperstudien im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus durch. Die Ergebnisse sollen Erkenntnisse über den Krankheitsverlauf und die Immunität liefern, aber auch Hinweise für die Entwicklung eines möglichen Impfstoffs geben. Eine neue Studie an genesenen Covid-19-Patienten dämpft nun jedoch die Hoffnungen auf eine lang anhaltende Immunität und damit auch auf die langfristige Wirksamkeit einer möglichen Impfung.
→ Spiegel
Ausgangssperre in Katalonien
In Spanien wurde zum ersten Mal seit der Lockerung der Corona-Maßnahmen im Juni eine Ausstiegsbeschränkung verhängt. Ab Montag dürfen die Menschen in der Stadt Lleida und in sieben umliegenden Gemeinden ihre Häuser nur noch zur Arbeit, zum Einkaufen oder für dringende Angelegenheiten wie Arztbesuche verlassen, berichtete die Zeitung La Vanguardia unter Berufung auf die Regionalregierung von Katalonien.
→ Zeit
Corona in Zahlen
In Deutschland sind 198.804 Menschen als infiziert getestet worden (Stand: 12.07.2020 00:00 Uhr, Quelle: RKI), das sind 248 Personen mehr als am Tag zuvor.
Warum diese Zahlen? Wir zitieren hier die offiziellen Zahlen des RKI, diese werden einmal täglich – immer um Mitternacht – vom RKI aktualisiert und um 10 Uhr morgens online veröffentlicht. Und warum gibt es hier nicht mehr davon? Es ist wichtig, die aktuell angeratenen Verhaltensweisen zu befolgen, das wissen wir alle. Zahlen über Neuerkrankte helfen uns dabei nicht. Achtet aufeinander und haltet Distanz.
Gesundheitsticker: 7.573.141 Menschen sind weltweit wieder genesen, das sind 112.991 Personen mehr als gestern Früh. Davon 184.600 in Deutschland (Stand: 12.07.2020 22:49 Uhr, Quelle: Worldometers).
Tipp des Tages
Mut zum Sein
Mut ist eine zeitlose Herausforderung der Menschheit. Seit Jahrtausenden setzen sich die Menschen damit auseinander. Traditionell vor allem auf philosophischer Ebene. Davon zeugt ein Buchklassiker zu diesem Thema von Andreas Dick über den „Mut über sich hinauszuwachsen“. Dazu zitiert der Autor viele Denker mit erkenntnisreichen Sätzen aus vielen Perspektiven, beginnend bei griechischen Philosophen, über die der Neuzeit, bis zu Schauspielern.
Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende: Demokrit.
Glücklich ist, wer das, was er liebt, auch wagt, mit Mut zu beschützen: Ovid
Mut ist jede Art von Kraft die zu erkennen hilft, wie man wirklich ist: Spinoza
Der Mut ist es, der es dem Menschen erlaubt, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen: Nietzsche
Im Mut zur Selbstverwirklichung kann der Mensch die Angst vor der Freiheit überwinden: Fromm
Schöpferischer Mut verleiht der Realität einen neuartigen Ausdruck; Kreativität entsteht aus dem Mut heraus, dem Tod etwas Bleibendes entgegenzusetzen: May
Wir müssen immerfort Deiche des Mutes bauen gegen die Flut der Furcht: Luther King
Ganz und gar man selbst sein, kann schon einigen Mut erfordern: Sophia Loren
Das alles verdichtet Andreas Dick zu folgendem Resümee.
„Ohne Mut gibt es kein erfülltes Leben. Erst der Mut macht aus unseren Idealen und Werten erlebbare Wirklichkeit. Nur durch den Mut ist es möglich, sich aus Ängsten und Abhängigkeiten zu befreien, sich liebend anderen Menschen hinzugeben, existenzielle Krisen zu bewältigen, echt und unverstellt zu leben und nie aufzuhören an seine Träume und das Gute zu glauben. Der Mut gibt uns die Kraft zurück, das Richtige zu tun.“
→ Amazon | Mut – über sich hinauswachsen Andreas Dick, Huber-Verlag, 2010
360° Im Gespräch
Wolfgang mit Susanne Halbig von der Mutfabrik
Susanne Halbig ist Erzieherin (pädagogische Fachkraft Frühe Bildung), systemischer Coach und Moderatorin für Zukunftswerkstätten. Diese wurden vom Zukunftsforscher Robert Jungk erfunden. Darin werden Betroffene zu Beteiligten, Gestalter*innen ihres eigenen Lebens. Von der Jubiläumsveranstaltung zu Jungks 100. Geburtstag in Salzburg kennen Susanne und ich uns. Für angstfrei-news befragte ich sie zu ihrer Methodik und Arbeit, Rolle von Ängsten wie auch Mut darin. Als Gründerin der „Mutfabrik“ ist sie Expertin dafür.
Liebe Susanne, ich freue mich, dass dieses Gespräch über Zoom mit so hervorragender Bild- und Tonqualität über große Entfernung klappt. Was ist für dich Mut?
Mut ist sowohl ein Gefühl, als auch eine Eigenschaft wie auch ein sichtbares Verhalten. Mut spornt an, sich auf „unsicheres Gelände“ zu wagen. Dadurch erweitern Menschen ihre Möglichkeiten.
Wie leitet dich Mut durch deine therapeutische Arbeit?
Zunächst einmal selbst den Mut aufzubringen, den Menschen keine Ratschläge zu erteilen. Das ist ein unschöner Automatismus von uns allen. Sondern stattdessen als begleitende Beraterin zu wirken, Menschen beiseite zu stehen, ihren Weg zu finden, eigene Antworten auf ihre Fragen zu finden und sie dazu zu er-Mut-igen.
Wie machst du das?
Ich benutze viele Bilder und Metaphern, damit die Dinge anschaulich werden. Wichtig dabei ist mir der direkte Dialog mit empathischen Fragen. Meine Klienten kommen so ins Nachdenken über sich selbst. Wenn sie ihre Probleme selbst umrissen haben, frage ich gerne, was für sie anders wird, wenn sie das Problem gelöst haben. Das ist zentral, als Zukunftsbild und Zielmarkierung.
Die Wortschöpfung „Mutfabrik“ finde ich sehr gelungen. Welche Geschichte steht dahinter?
Im Vorlauf der Gründung 2007 beseelte mich der Gedanke, etwas bei mir zu verändern. Ich bin um fünf Uhr früh aufgestanden, wenn der Kopf am frischesten ist, und habe meditatives Schreiben praktiziert. Wohin will ich mit meinem Leben? Hieraus ist Mutfabrik entstanden: Aus Veränderung und Arbeit. Für Ersteres brauchst du Mut, für Letzteres steht die Fabrik.
Was für Fälle behandelst du?
Sehr viel Burnout. Probleme am Arbeitsplatz mit Kolleg*innen oder Führungsprobleme. Zusammen mit den davon verursachten Ängsten. Betroffen sind besonders auch Menschen, die sich stark sozial engagieren, etwa in Betriebsräten. Für ihren Einsatz erhalten sie oft viel Zuspruch und Lob. Sie machen immer mehr, das Hamsterrad dreht sich immer schneller, bis sie nicht mehr herausfinden. Durch Fragen und ihre Antworten darauf tasten wir uns an die persönliche Thematik heran. Insgesamt arbeiten wir daran, vorhandene Strategien und Muster zu überprüfen, neu zu entwickelnde zu identifizieren, in einem Satz: Probleme in Fähigkeiten zu verwandeln.
Toller einprägsamer Satz – wie gehen solche Fälle aus?
Die Betroffenen finden sich neu, entdecken Stärken aus einem neuen Blickwinkel und erwerben sich so neues Selbst-Bewusstsein. Nach dieser Vorarbeit gehen viele Klienten in eine Reha. Danach beim Arbeitsplatz gibt es oft ein Wiedereingliederungsverfahren. Manchmal bleiben Ängste oder neue tauchen auf. Etwa vor großen Einkaufszentren. Glücklicherweise gibt bei uns im ländlichen Raum Baden Württembergs viele kleinere Geschäfte.
Und mit welchen Mitteln arbeitest du?
In der Regel im direkten Kontakt, besonders jetzt, in Corona-Zeiten. Oft telefonisch, aber auch gerne mit Video, das kommt gut an und funktioniert manchmal besser als nur Audio. Ich biete maximal 20 Sitzungen an.
Sprechen deine Klienten ihre Ängste an?
Nicht direkt. Angst ist schambehaftet. Es wird oft darum herumgeredet. Ich darf Menschen das Thema nicht überstülpen. Um darüber zu sprechen, muss ich ihnen einen sicheren Rahmen geben. Mit größerer sozialer Akzeptanz von Ängsten wäre viel gewonnen.
Sind Ängste und Depressionen durch die Corona-Pandemie gestiegen?
Das ist für mich schwierig zu bewerten, da ich als Folge der Ausnahmesituation in den letzten drei Monaten wenige Klienten hatte. Was ich beobachte ist die „verkleidete Angst“. Corona gibt den Verschwörungstheoretikern und so manchem Menschen aus der rechten Szene eine Bühne.
Ist Mut das Gegenteil von Angst?
Nicht ganz. Mut kommt vom althochdeutschen muot. Es steht für Sinn, Seele, Geist, Gemüt. Daraus ist das englische „mood“ für Stimmung, Laune hervorgegangen. Insofern ist Mut eher eine Erweiterung von Angst. Die Brücke der beiden ist die Liebe.
Danke und viel gelingende Arbeit weiterhin mit der Mutfabrik, liebe Susanne. Dies sind Zeiten, in denen wir eine Extradosis Mut verdienen.
Ich danke auch und wünsche Euren Leser*innen, sich zu trauen, künftig täglich einen ganz kleinen mutigen Schritt zu tun.
Buchempfehlung der Mutfabrik mit einfachen Mut-Übungen und wunderschönen Illustrationen, die auch Kinder lehren, mutig zu werden. Ein Best- und Longseller:
Claudia Croos Müller: Nur Mut! Das kleine Überlebensbuch. Soforthilfe bei Herzklopfen, Angst, Panik & Co. Randomhouse, 11. Auflage 2019
→ Randomhouse | → Die Mutfabrik
Dies & Das
Covid-19 Mut-Song
Corona Virus Mut & Kraft Song von Stefan Laier:
Stay at Home - Bleibt gesund - haltet durch
→ YouTube
All you need is less
Niko Paech in einem Online Vortrag über die Frage, ob Suffizienz (genug zum Leben zu haben) Verzicht bedeutet.
→ YouTube
“Dürfte ich zum Haka-Tanz bitten?“
Rituelles Tanzen der Maori. Es verleiht Neuseelands Ureinwohnern Mut, Stolz, Eintracht.
→ New Zealand
Die deutsche Sprache glänzt mit schöpferischen Wortverbindungen. Außer mit Mut könnt Ihr auch mit Langmut, Freimut, Sanftmut durch diese Woche schreiten. Die angstfrei-Redakteure wünschen Euch auch eine Prise Demut dabei.
Gerne hören wir über das Feedbackformular von euch. Ihr wollt unsere Arbeit unterstützen: Spenden und Fördermitgliedschaft bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V.
Quellen
Corona in Zahlen (RKI) | Gesundheitsticker | Über die Landesregierung NRW sind wir außerdem an den dpa-Nachrichten-Ticker angebunden, den wir immer als Quelle verwenden, wenn wir (dpa) schreiben.