Montag, 20. Juli 2020 | Sommerzeit
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
schön, dass Ihr bei der ersten Sommerausgabe von angstfrei.news dabei seid. Wir starten heute unseren kleinen Rückblick auf 4 turbulente Monate mit einer Auswahl der markantesten Beiträge und sagen bei dieser Gelegenheit auch nochmal vielen Dank. Vielen Dank all den Beteiligten, ohne die das hier gar nicht möglich wäre. Und besonders für den großen Mut sich zu zeigen und damit anderen Orientierung und Halt zu geben. Ihr seid einfach toll!
Im März machten Wolfgang und Nicholas den Anfang mit dem, was sich danach in 360° entwickelt hat. Wolfgang ordnete am 23. März die damals für uns alle neue und beängstigende Situation historisch ein - Nicholas schrieb am 25. März von der Kraft im Zweifel. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Reinlesen und vielleicht auch in Euch Reinhören. Bis morgen - bleibt uns gewogen!
Euer Markus, Tim und das ganze Team von angstfrei.news
Mit frischem Wind in den Segeln geht's dann hier am 3. August nach der Sommerpause weiter. Ihr habt bis dahin Lob, Kritik oder Anregungen für uns? Schreibt uns gerne Euer Feedback.
Mikroerfolge - Wie langsam Heldentum wächst
von Nicholas
Goethe so: Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun. Und Recht hat er! Wer einen Heiermann fürs Phrasenschwein investieren möchte, der schiebt jetzt gerne noch “Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut!” (Euer Opa) hinterher oder alternativ auch “Ich bin genervt! Ich bin überfordert! Ich kann das jetzt nicht! Mein Rücken tut weh!” (Ich, eben, zu Katharina, tut mir leid.)
Resilienz ist ein kostbares Gewächs und will gegossen und gepflegt werden. Ich spreche gerne von einem “Skillset wie ein Panzer”, wenn ich von meiner Angstgeschichte und meiner Genese erzähle. Jahre des Trainings, kognitive Verhaltenstherapie, der Furcht furchtlos ins Auge blicken, solche Sachen. Ich war gewappnet in den letzten Jahren. So ziemlich jeder Situation bin ich mit nassforschem Aplomb begegnet und habe das Beste daraus gemacht. Die Angst hat mich stark gemacht, ich habe meinen größten Sieg gefeiert, als sie nicht mehr täglich kam. Gerade neulich habe ich einen Text zum Thema seelische Widerstandskraft geschrieben, der wie folgt tönte:
“Wir können uns wappnen, können eigene Ressourcen erkennen und daraus Strategien wachsen lassen, die uns gleichermaßen schützen und beweglich machen. Wir können echten Optimismus in der Tatsache finden, dass alles noch so Planbare manchmal derwischartig in jede unvorhergesehene Richtung ausbricht und können darin neues, kreatives Potenzial entdecken. Wir können das große Scheitern als Option strikt ablehnen, ohne uns dabei kaputt zu machen. Wir können sowieso mit so ziemlich allem umgehen. Resilienz hilft dabei. Sie ist kein Modewort und kein Wettbewerb. Sie ist erlernbar und Teil eines achtsamen Lebens. Sie steht nicht synonym für unsere festgesessene Vorstellung von „tough“ - Sie ist ein persönlicher und individueller Teil der Selbstfürsorge, der uns teamfähig und produktiv macht. Sie ist unser eigener Katastrophenschutz.”
Nicholas Müller (aus meinem eigenen Text, s.o.)
Und nun? Nun sitze ich hier und sorge mich. Ich sorge mich um meine Tochter, meinen Vater, meine Freundin, all meine Freunde*innen und nicht zuletzt um meine eigene Gesundheit. Ich hab mich zwei Jahrzehnte lang in Richtung Risikogruppe geraucht und bin gerade häufig zu nervös, um damit aufzuhören. Nervös bin ich, jawohl! Vom Aufstehen, bis zum ins Bett gehen. Und ein bisschen Schiss hab ich auch.
Habe ich nun alles verlernt? Müsste ich nicht auch dieser unmöglichen Situation mit kühler Stirn (Fieberwitz hier einfügen) und Löwenmut begegnen?
Ich! Hab! Das! Doch! Gelernt! Ehrlich, mich kannste losschicken! Ich erledige das für dich!
Aber gerade nicht. Und das ist ok. Es sind besondere Zeiten. Merkwürdig sind sie auch: Egal, was sonst noch so passiert, das hier werden wir uns merken! Und deswegen sollten wir uns selbst mit Geduld begegnen. Auch, wenn da draußen alles im Turbo beschleunigt und wir scheinbar alle fünf Minuten zu neuen Handlungen und Schutzschilden befähigt sein müssen. Das stimmt ja nämlich schon mal gar nicht: Unsere stärkste Handlung gerade ist es nichts zu tun. Nicht raus zu gehen, uns und unsere Mitmenschen nicht zu gefährden, nicht ständig die Nachrichtenapp zu aktualisieren, nicht durchzudrehen. All das ist, Resilienz hin oder her, Gewöhnungssache. Es ist unschön, ungewohnt, unbequem, ungeil und selbst mit größtem Positivismus nicht so wirklich schön zu reden.
Also legen wir jetzt alle mal unser Cape ab und gewöhnen uns, um dann später mit noch schönerem Cape wieder die Stadt zu retten. Heldentum wächst langsam in uns. Diese neue Routine hier wird nicht ewig dauern, aber bis dahin will sie gewonnen werden. In kleinen Schritten. Stein für Stein, so wie Rom damals.
Die Neurobiologie von Routinen
Neurobiologisch betrachtet geht es darum, die Handlung vom Bereich des Bewussten in tiefere Hirnregionen zu verlagern. Ist sie erst einmal dort verankert, nimmt ihre Ausführung viel weniger kognitive Ressourcen in Anspruch. Dadurch werden wieder Kapazitäten für die wirklich wichtigen Dinge frei. Rationales Denken, Planen und bewusste, komplexe Entscheidungen. Also all das, was in den Zuständigkeitsbereich des präfrontalen Cortex fällt. Er ist aktiv, wenn eine Handlung noch neu und ungewohnt ist. In diesem Stadium verlangt sie von uns die volle Aufmerksamkeit.
Wird die Handlung belohnt, erhöht das die Wahrscheinlichkeit immens, dass sie wiederholt wird und eine nachhaltige Verhaltensänderung nach sich zieht. Und somit in weiterer Folge auch, dass sich aus einem guten Vorsatz tatsächlich eine bleibende Gewohnheit formt. Das gute Gefühl, das sich breit macht, wenn wir „aufhören, wenn es gerade am Schönsten ist“, kann als diese nötige Belohnung fungieren. Serotonin und Dopamin fluten deine Rezeptoren.
Die Psychologin Lis Weseley auf der Internetseite von "Ein guter Plan"
Ich glaube, das können wir auch auf unseren derzeitigen Alltag übertragen. Möge er noch so ungewohnt und neu sein und der Wunsch in uns, sofort alles wieder auf “davor” zu stellen noch so groß, wir müssen ihm mit Routinen begegnen. Das fällt uns eben nicht leicht und das ist ok so, aber schaffen können wir das trotzdem.
Also lasst uns gemeinsam nicht raus gehen, nicht uns und unsere Mitmenschen gefährden, nicht ständig die Nachrichtenapp aktualisieren, nicht durchdrehen. Lasst uns gemeinsam geduldig sein, an jedem Tag, bis wir es verstanden haben. Als Belohnung wird am Ende stehen, dass wir auch diese Situation gemeistert haben. Und ganz ehrlich, was soll uns dann noch nervös machen?
Her mit dem Cape!
Das Genie Newton, geboren aus der Quarantäne
von Wolfgang
Er war ein gebrechlicher junger Mann und Student des Trinity College, als in den 1660er Jahren in England die Pest ausbrach. Sie war 1347 über Schiffe aus dem Mittleren Osten nach Europa eingeschleppt worden und sollte 25 Millionen Menschen, ein Drittel von Europas Bevölkerung dahinraffen. Besonders betroffen war das damals bereits eine halbe Million Menschen zählende London. Kein Mensch wusste damals etwas über Mikroorganismen, Bakterien, Viren und Übertragungswege, in diesem Fall durch die Ratten und die in ihnen nistenden Flöhe. Das brachte die moderne Naturwissenschaft erst zwei Jahrhunderte später hervor, gleichwohl die Menschen bei aller Unwissenheit wie auch Aberglauben instinktiv richtig reagierten. Sie mieden Sozialkontakte, schlossen sich zuhause ein, Lehranstalten und Universitäten schickten ihre Schüler und Studenten nach Hause, so wie auch heute in der Coronavirus Pandemie.
Der junge Newton verzog sich auf den Landsitz seiner Familie in Woolsthorpe nördlich von Cambridge und hing dort seinen wissenschaftlich umstürzlerischen Ideen nach. In der Einsamkeit des Landlebens erlebte der damals erst 22-Jährige 1665 sein“annus mirabilis“, sein Wunderjahr. In den nächsten zwei Jahren entdeckte und erforschte er Zusammenhänge, die die Physik und Mathematik revolutionierten. Damit erschuf der das moderne Zeitalter der Wissenschaften, eröffnete das Zeitalter der Aufklärung und des kritischen Verstanden und ist damit der Vater unserer modernen Zivilisation.
Newton hatte eine unstillbare Neugier, setzte in Selbstversuchen oftmals sein Leben auf Spiel – alles um seine Lust am Wissen und Mehr-Wissen-Wollen zu befrieden. Er entdeckte das weiße Licht, die Lichtbrechung und schuf das Prisma; er entwickelte die Differenzialrechnung (praktisch zeitgleich mit Leibniz, aber unabhängig von ihm), ohne der das moderne Ingenieurswesen undenkbar wäre; mit seiner Gravitationstheorie erklärte er den Kosmos und warum der Mond uns nicht aufs Haupt stürzt. Letzteres, weil er in der Abgeschiedenheit seiner Pestquarantäne unter einem Baum saß, von dem ein Apfel fiel, der ihm anders als der Mythos will nicht auf den Kopf gefallen war, wie Historiker versichern.
Dank der Vernunft der Engländer, den Quarantänemaßnahmen und selbstgewählter Isolation verzog sich die Pest ab und 1667 kehrte Newton nach Cambridge zurück. Zwei Jahre später wurde er zum Professor ernannt und war bis 1703 der Präsident der ehrwürdigen „Royal Society“, Vatikan und Papst der Wissenschaften der beginnenden Neuzeit. Newton ging als Universalgenie in die Historie ein und gab sich vielen anderen Forschungen hin, u.a. der Alchemie, Vorfahre der modernen Chemie, und der Theologie, die er mit Traktaten und Streitschriften bereicherte.
Er war ein streitbarer und in den Augen vieler seiner Wissenschaftskollegen ein höchst unbequemer Zeitgenosse, der sich von keinem die Butter vom Brot nehmen ließ, nicht mal von seinem eigenen König – eine Eigenschaft, mit der der Neu-Denker seine Erkenntnisse gegen viele Widerstände durchsetzte und die der zarte Jüngling während seiner zweijährigen Quarantänezeit in Woolsthorpe entwickelte .
Verfasst in Anlehnung an „El Colombiano“, Sonntagsbeilage „Generacíon“, 22. März 2020: „Los días de Newton en una cuarentena“