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Montag, 27. Juli 2020 | 8 Uhr

Anne
Katharina

Guten Morgen ihr Lieben!

Wie bitte? Schon wieder Montag?! Vielleicht habt ihr aber auch Urlaub und Euch sind die Wochentage gerade egal - ich finde, das ist ein wunderbares und unheimliches Stadium zugleich. Auf der einen Seite steht das für Entspannung, auf der anderen Seite ist man der Welt irgendwie ein wenig abhanden gekommen.

Ein bisschen geht es auch im ersten Text darum: Am 17. Mai habe ich, Katharina, über das Thema "Zuhause" geschrieben und mir die Frage gestellt, wann man sich Zuhause fühlt. Anne nimmt uns danach mit in ihr Urlaubstagebuch von 2017, wo sie über Angst nachdenkt und vorschlägt, dass wir emotionale Kompetenzen brauchen, um als Gesellschaft besser zusammenzuleben.

Mit diesem Lesestoff für den Montag (für alle, die den Wochentag in den letzten Zeilen schon wieder vergessen haben...) wünschen wir euch einen guten Start in die Woche!

Katharina und das ganze Team von angstfrei.news.

P.S.: Wir hoffe euch gefällt das aktuelle Format während unser Redaktionsferien. Wir freuen uns sehr über Feedback hierzu. Ab dem 3. August geht es dann in gewohnter Manier, aber mit neuem Schwung weiter.

Die Sache mit dem Zuhause

von Katharina

Die meisten von uns verbringen gerade die meiste Zeit Zuhause. Für viele ist das ein ganz klarer Ort: Dort, wo sie mit ihre*r Parter*in leben, dort, wo die Familie wohnt, dort, wo das eigene Bett steht, der Kleiderschrank oder wo sich das WLAN von alleine verbindet. 

Für andere von uns ist Zuhause ein flüssigerer Begriff: Vielleicht nennen wir unser Elternhaus Zuhause und gleichzeitig unser WG-Zimmer. Vielleicht haben wir eine Wohnung unter der Woche und eine am Wochenende oder vielleicht geht es einigen von Euch wie mir und ihr nennt einen Menschen euer Zuhause und seid in der Konsequenz etwas überfordert, was den dazugehörigen Ort angeht. Das ist gerade jetzt, wo wir mehr als je zuvor an einen Haushalt gebunden sind, eine Frage, die es zu lösen gilt.

Mich beschäftigt das Thema schon länger. Eigentlich bereits seit dem Auszug aus meinem Elternhaus – nach Lateinamerika habe ich eine Insel, eine Oststadt, eine Europastadt und eine Bundeshauptstadt mein Zuhause genannt. Und immer gab es parallel noch ein anderes Zuhause: Das meiner Eltern, das meines Partners, das, was ich gerade verlassen hatte. Und parallel dazu sprach ich, wann immer ich weg war, von der Heimat – dem Landstrich mit seinen kulturellen Eigenheiten, der mich, mein Wertesystem und mein Radfahrerherz geprägt hat. Es stellte sich eine Verwirrung ein, die ich dachte mich geklärt zu haben und die mich jetzt wieder einholt: Wo bin ich Zuhause? 

Donnerstagnachmittag habe ich mich in den Zug gesetzt und bin von meinem Corona-Wahlzuhause in Münster, nach Berlin in meine Wohnung gefahren. Ich lebte neun Wochen aus einem Handgepäckkoffer, der für einen Frühmärztrip nach London gepackt war, richtete mein Büro erst auf der Fensterbank, dann im Schlafzimmer und zuletzt in einem eigenen Büroraum am Wasser ein und purzelte herzvoran in einen neuen (Familien)Alltag mit allem, was dazu gehört. Als die ersten Lockerungen kamen dachte ich mir, "es ist Zeit, mal wieder nach Berlin zu fahren." Das Zuhause in der Hauptstadt hatte ich mir gerade erst aufgebaut und ganz nach meinen Bedürfnissen gestaltet. Ich mag meinen Ort hier in Berlin und die Leute auf der Straße und diese verrückte Stadt. Doch als ich Donnerstag im Zug saß dachte ich nur: "Was mache ich hier eigentlich?!" Denn es war klar, so richtig nach Hause fahre ich nicht - den ein Teil von mir blieb in Münster. Hab ich also mehrere Zuhause(s) (oder Zuhäuser?)?

Ich habe das Thema vor sieben Jahren in meiner Masterarbeit verarbeitet. Ich habe Leitfadeninterviews geführt, Gruppendiskussionen veranstaltet und eine Statistische Wortanalyse gemacht. Das Ergebnis: Unser Konzept von Zuhause lässt sich grob in drei Typen unterteilen: das Prägungszuhause als Ort des Lernens und Aufwachsens, das Entwicklungszuhause als dynamische Form der Selbstverortung unter Einbezug und Abgrenzung der eigenen Herkunft und das Stabilitätszuhause als Ortskonzept des wieder-Ankommens. Zuhause ist dabei ein Gegenwartsbegriff. Das heißt, alle Typen sind Zustände, die immer jetzt stattfinden, entdeckt, aktiv gelebt und verstanden werden. Ein Ergebnis war auch: nicht jede*r erlebt die Zuhausetypen in der gleichen Reihenfolge oder überhaupt alle drei.

Was lerne ich also jetzt von mir selbst? Mit meinem Zuhause-Menschen möchte ich ein Stabilitätszuhause aufbauen. Das wusste ich schon ganz früh und das hat sich nicht verändert. Im Gegenteil: Corona trägt die Verantwortung dafür, dass wir das in null Komma nix zwischen Paarromantik, Pandemie und Patchwork hochgezogen haben. Und im Lichte des Chaos' um uns herum haben wir das ziemlich gut gemacht, finde ich. Aber wir sind unserer Zeit einfach ein bisschen voraus und für ein "echtes" Stabilitätszuhause fehlen auch einige Kriterien, wie eine gemeinsame Wohnung oder ein Kleiderschrank größer als ein Handgepäckskoffer. Deswegen quengelt auf meinem anderen Ohr das Entwicklungszuhause: "Wir sind noch nicht fertig miteinander!"

Und ich? Ich stehe in der Mitte und frage mich noch immer, wo ich hingehöre. Meine Freundin sagt: "Du bist ja in einer Umbruchphase und in einer solchen ist es doch auch spannend, die Verheißungen verschiedener Orte auch als konkret greifbare Optionen zu haben. Klar, das muss man aushalten. Aber vielleicht schafft man das ganz gut, wenn man vor allem gegenwartsorientiert unterwegs ist, ohne jeweils allzu viel darüber nachzudenken, wie es nun an den jeweils anderen Orten wäre." Ich finde, das klingt klug. 

Dem Vermissen hilft das nicht. 
Aber vielleicht ist das auch eine gute Nachricht.

Verständnis, darf’s ein bisschen mehr sein?

von Anne

Während ich so vor meinem Laptop saß und überlegte was ich denn schreiben könnte, was das Thema dieses heutigen „von Mensch zu Mensch“ -Textes sein könnte, durchforstete ich meinen Rechner und bin bei meinem Urlaubstagebuch von 2017 hängen geblieben. 

Damals sind wir nach Schweden gefahren. Als ich meinem Umfeld von den Urlaubsplänen erzählte reagierten die meisten eher skeptisch bis verständnislos. Ob ich denn KEINE Angst hätte, so ganz alleine mit zwei Kindern über 1000km zu fahren? 

Nein, ich hatte keine Angst. Ich habe nie verstanden warum ich in diesem Fall Angst haben sollte. Aber das Auto könnte liegen bleiben, ja stimmt, kann mir aber auch hier passieren. Ich fuhr einen Volvo, den bekommen Schweden schon repariert entgegnete ich. Und wenn ein Kind krank wird, dann gehe ich dort zu einem Arzt. Die Schweden sprechen alle fließend Englisch und viele sogar Deutsch, das Gesundheitssystem ist gut. 

Ist das nicht paradox? Mangelndes Verständnis, dass ich keine Angst hatte? Umgekehrt können viele der Bekannten meine Sorgen bezüglich des Klimawandels nicht verstehen und versuchen dies mit einem Kopfschütteln abzutun und wechseln möglichst schnell das Thema. 

Ich habe keine Angststörung, aber Angst kenne ich natürlich, kennen alle Menschen. Sie begleitet uns das ganze Leben.

Als Kind die Angst irgendwo hoch zu klettern oder runter zu springen. Als Teenager, auf der einen Seite die Angst nicht dazu zu gehören, auf der anderen Seite suchten wir die Angst in Horrorfilmen und Büchern wie ES. Dann nochmal später Angst die falsche Entscheidung bezüglich Studium/Ausbildung zu treffen und womöglich für den Rest des Lebens einen Job zu machen, auf den man eigentlich keine Lust hat. 

Und dann, vor Corona, die Angst ob das Kind wohl gut in der Schule angekommen ist, ob es sicher zurück findet. Ob der Kleine sich gut im Kindergarten einlebt. Mit einem Blick aufs politische Parkett, die Angst davor wie sich unsere Gesellschaft entwickelt. Angst davor ob die Politiker*innen es schaffen die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit wir dem Klimawandel entgegenwirken können und so weiter. Ganz „normale“ Ängste, die jeder spürt, über die aber niemand spricht. Warum eigentlich nicht? 

In der jetzigen Situation wird das Alles viel diffuser. Jetzt ist die Angst gar nicht so richtig greif - und benennbar. Klar da ist eine gewisse Existenzangst, werde ich meine Stelle behalten? 

Aber nicht nur das. Durch die Lockerungen der Schutzmaßnahmen kommt bei mir tatsächlich noch viel mehr Unsicherheit auf. Ich arbeite in einem Beruf in dem ich engen Kontakt mit Menschen habe. Es ist nicht immer möglich den Abstand von 1,5m einzuhalten, wenn ich meinen Job richtig machen möchte. Die Kinder gehen in die Notbetreuung und bei mir kommt der Gedanke auf, dass wir uns besser fernhalten von Menschen. Wer weiß, ob wir uns angesteckt haben und es nicht merken, es dauert ja auch bis zu ersten Symptomen. Im Alltag, beim Einkaufen und beim Spaziergang ist das gar nicht so problematisch. Wir haben die Abstandsregeln ganz gut verinnerlicht, auch die Kinder, und machen, wenn es sein muss eine großen Bogen oder wechseln die Straßenseite. Aber wenn es darum geht Freunde zu treffen, habe ich einen Kloß im Hals. Ich möchte sie nämlich gerne in den Arm nehmen, damit wir uns gegenseitig ein wenig Trost spenden können. Doch es muss, aus den Gründen bei einem Fuß-Check zur Begrüßung bleiben und ich weiß nicht ob ich das kann. Ich habe Angst vor der Nähe zu den Menschen denen ich nah sein will. 

Das, gepaart mit dem Unwissen, wie es denn weitergehen soll. Wie denn unsere Gesellschaft und Wirtschaft nächstes Jahr aussieht. Das alles macht mich nervös und unsicher. 

Auch die wieder begonnenen Schule tut uns nicht gut. Der gerade geschaffene Alltag, der einem fragilen Kartenhaus gleicht, wird wieder durcheinander gebracht. Den Großteil an Unterricht muss ich leisten. In der Schule werden zwar die Aufgabe besprochen, aber die Fragen kommen ja, wenn die Kinder die Aufgaben erledigen. Schon die Diskussion, dass es jetzt Zeit ist für Mathe- oder Deutschaufgaben ist zermürbend. Und wenn meine Tochter eine Geschichte schreiben soll, aber antwortet, dass sie dafür den Kopf gerade nicht frei habe und nicht weiter komme, dann kann ich das absolut verstehen. Bevor ich diesen Text schrieb, hab ich auch erst gefühlte 2 Stunden auf den Laptop gestarrt. 

Ich bin so hin und her gerissen zwischen, natürlich muss sie die Schulaufgaben machen, es sollen keine Lücken entstehen und bereits Gelerntes nicht vergessen werden und es kann nicht gut sein, wenn die Schulaufgaben mit quälend langen Diskussionen verbunden sind. Was macht das mit uns und unserer Beziehung? Gut ist das mit Sicherheit nicht. Und dazwischen springt noch ein Dreijähriger, der auf den Spielplatz möchte, weil das ja nun endlich wieder geht. 

Ich lasse also häufig auch mal Fünf gerade sein, weil ich es richtig finde. Ich sehe, was sie sonst in dieser Zeit alles gelernt haben. Sei es etwas Praktisches wie Kochen, aber auch wie wichtig Rücksicht, Solidarität und Empathie sind. Das spüre ich in den Gesprächen und im Umgang der Kinder miteinander. Wie sehr sie zusammengewachsen sind. Und das berührt mich. 

Ich frage mich ob diese Sachen nicht viel wichtiger sind als schriftliche Multiplikation. Bei Mathematik hilft später der Taschenrechner, aber in Sachen Sozialkompetenz kann kein Rechner weiterhelfen. 

Das soziale- und emotionale Kompetenz in einer zukünftigen Gesellschaft wichtig sind, genauso wie Kreativität, das wurde schon vor Corona betont und dies hat sich durch die Krise nur noch verstärkt. 

Genau da sehe ich eine große Chance. Wir können mit alten Gewohnheiten und Mustern brechen. Wir sollten, nicht nur hier, sondern grundsätzlich mehr über uns, über Zwischenmenschliches, über Gefühle und natürlich auch über Ängste offen sprechen. Auch, damit zwielichtige Menschen diese Ängste nicht nutzen können um krude Theorien verbreiten zu können und damit keine offenen Türen einrennen.

Dafür müssen wir darüber reden. Ein offenes Ohr haben und Interesse an einem Diskurs. Interesse an den Sichtweisen und den Gefühlen der Mitmenschen. Im empathischen Gespräch miteinander schaffen wir es vielleicht, die eigenen Ängste und Gefühle - und die der Anderen - besser, tiefgreifender, nicht nur rational nachzuvollziehen, sondern auch emotional zu verstehen. Das wäre ein enormer Zugewinn, nicht nur für Menschen mit Angststörungen, sondern für alle. 

Wir müssen nicht immer verstehen, warum der*die Gegenüber so oder so fühlt und wahrnimmt, aber wir sollten Verständnis aufbringen. 

Eure Anne