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Sonntag, 26. Juli 2020 | 8 Uhr Sommerzeit

Anne

Guten Morgen liebe Leser*innen,

Das Wochenende neigt sich schon wieder dem Ende zu. Aber natürlich geben wir euch zwei Beiträge zum schmökern mit in den Tag.

Die Kölner Band Kasalla schrieb mal ein Lied mit dem Titel Nit die janze Wohrheit. Auf Hochdeutsch - Nicht die ganze Wahrheit. Es geht darum, dass es manchmal vielleicht doch ganz okay ist Dinge zu….zu verschweigen, oder an der Wahrheit vorbei zu reden. In Evas Text vom 10.Mai. hingegen wird die andere Seite der Medaille beleuchtet. Es geht darum, was Lügen und auch das sich belügen, über die eigenen Gefühle, das eigenen Befinden mit uns macht.

Annika nimmt uns mit zurück ins Muttertagswochenende und in die Unsicherheit und die Angst, die ihr dort begegnet sind. Sie nimmt uns mit zu ihrem “tanzenden Affen”, aus der Ausgabe vom 16.Mai.

Wir hoffe euch gefällt das aktuelle Format während unser Redaktionsferien. Wir freuen uns sehr über Feedback hierzu. Ab dem 3. August geht es dann in gewohnter Manier, aber mit neuem Schwung weiter. Jetzt wünschen wir euch erstmal viel Spaß beim Lesen und einen guten Start ins Wochenende

Eure Anne und das ganze Team von angstfrei.news.

Die Größte aller Notlügen

von Eva

Du sollst nicht lügen. Als Katholik weiß ich das. Als Mensch auch. Aber was ist, wenn die Wahrheit niemand hören möchte? Schlimmer: Wenn sie mir gefährlich werden kann?

Ich bin ein Meister. Ein Meister im Schwindeln. Im Flunkern.

Mir geht es gut.

Die größte Notlüge von allen.

Dass es mir gut zu gehen hat. Als Mensch weiß ich das. Dass niemand wirklich hören will, was mir auf der Seele drückt. Ich weiß, dass man auf: Wie geht es dir? Immer brav zu antworten hat: Danke gut. Super, danke. Irgendwas in diese Richtung.

Dass man nie so Sachen antworten darf, wie: Ich habe Angst.

Ich schlafe schlecht.

Manchmal weiß ich gar nicht mehr.

Manchmal stehe ich vor dem Spiegel und denke, scheiße, was soll das alles hier. Nein. Das darf man nicht. Alles was ich sagen kann und darf und sollte: Danke. Gut. Manchmal träume ich davon, wie sich dieses Wort in meinen Körper frisst. Gut.

Es frisst und frisst und am Ende bleibt nichts mehr von mir, außer einem durchgekauten Gefühl. Das klebt dann und stinkt und wenn ich die Augen zumache, kann ich mir einbilden, das müsste so. Das müsste so und eigentlich und überhaupt im Grunde geht es mir doch total - gut.

Meine Therapeutin hat zu mir gesagt: Wann hören Sie auf zu lächeln, um sich zusammenzuhalten? Aufhören zu lächeln. Hah. Der war gut. Warte, da muss ich kurz drüber lachen. Mundwinkel hoch und so. Ich meine: Aufhören zu lächeln, wie könnte ich. Lächeln, das heißt doch: Mir geht es gut. Dass es mir gut zu gehen hat, als Mensch weiß ich das. Danke. Super. Wiedersehen.

Noch mehr Dinge, die ich weiß: Ich sollte froh sein, dass es mit Corona jetzt langsam wieder anders wird. Dass die Läden öffnen, dass ich wieder Kaffee mit Freunden trinken kann. Aber: Ich bin es nicht. Ich kann nicht aufhören, meine Gedanken durchzukauen, dieses ätzende Was-Wäre-Wenn. Doch statt etwas zu sagen, da fresse ich lieber weiter meine Wahrheit auf. Bis ich ganz voll bin. Bis ich glauben kann, das müsste so.

Im Job ist es doppeltschlimm. Das mit dem Lächeln. Wie geht's Ihnen? Ach, alles superfein. Dieses Corona, pah. Das fliegt schon wieder vorbei. Lassen Sie uns über etwas anderes reden. Vor drei Wochen konnte ich das nicht mehr. Kurz vor meinem Urlaub ist mir dieses durchgekaute Gefühl in den Rachen gestiegen und hat mich ein bisschen erstickt. Ich dachte, es würde keiner merken. Lächeln. Lächeln kann ich gut. Weg mit der Wahrheit. Wiedersehen.

Meine Kollegen, die haben es bemerkt. Haben sich „Sorgen“ gemacht, wie sie betonen. Das Schlimme ist: Ich war nicht dankbar. Im ersten Moment habe ich mich bloß geschämt. Wie konnte mir das passieren? Wie konnte da ein bisschen Wahrheit durch das Lächeln brechen? Ich will nicht, dass andere von mir denken, ich sei schwach. Also Zähne beißen, lächeln, lächeln, lächeln. „Geht es dir gut?“, fragten die Kollegen. „Wir haben uns Sorgen gemacht. Aber: Geht es dir gut?“ Was hätte ich sagen sollen. Was. Ja klar. Das habe ich gesagt. Ja, danke, gut. Und so breit gegrinst, dass es garantiert jeder über meiner Maske sehen konnte.

Sicherlich würden mir keine arbeitsrechtlichen Schritte drohen, wenn ich die Wahrheit nach draußen lassen würde. Vermutlich wäre mir niemand böse. Vermutlich wäre alles halbsowild. Aber mein Kopf, der kann das gut. Das Doppeltsowilddenken. Also traue ich mich nicht. Weil Angst und Traurigkeit und all der alte Seelenmief eben so arg stinken, dass andere es doch an mir riechen würden. Vielleicht rieche ich es auch bloß selbst. Achweißdochnicht. In meinem Kopf aber, vielleicht auch außerhalb, da wäre ich: Die da. Die, die nicht belastbar ist. Die mit der Angst. Die mit der Depression. Die, die nicht funktioniert.

Die. Die. Die.

Also lieber lügen. Lieber: Ja klar, mir geht‘s gut.

Was hätte ich denn machen sollen.

Was mir noch viel mehr stinkt als all die Angst in mir?

Dass ich glaube, in einer Welt zu leben, in der ich lächeln muss. Weil sie alles andere nicht versteht. Ich wünschte, das wäre nicht so. Ich wünschte, ich könnte auf die „Wie geht es dir?“-Frage ehrlich antworten. Sowas sagen wie: Nein, sorry, gar nicht gut. Ich habe Angst. Ich hatte schon Angst, als das mit Corona losging. Seither habe ich stets das Gefühl, einen halben Meter neben der Realität zu laufen. Sicherheitsabstand. Ich habe Angst vor Veränderungen, ich habe Angst, dass alles für immer so bleibt. Ich bin ein Widerspruch und nichts an mir fühlt sich auch nur ansatzweise „gut“, „okay“, oder nach „super danke“ an. Und jetzt? Jetzt wo wieder alles so normal werden soll? Jetzt habe ich noch mehr Angst, dass alles viel zu schnell geht. Dass die Zahlen steigen und ich diese Bilder wieder sehen muss. Die aus Italien und die aus Amerika. Und gestern, da ist von unserem Kühlschrank dieser New-York-Magnet runtergefallen, den wir in den USA gekauft haben. Mittendurch ist er gebrochen. Ich habe Angst, dass meine Welt von nun an so ist. So mittendurch. Dass ich den Riss immer sehen muss, dass ich ihn nicht mehr wegbekomme. Davor hab ich solche Angst.

All das würde ich gern sagen.

Ich sage nichts davon, weil ich nichts davon sagen darf. Nicht, wenn ich weiter in dieser Welt irgendeine Chance haben will. Das mag vielleicht auf meiner Arbeitsstelle nicht so sein. Aber da draußen, da ist es auf jeden Fall oft genug so.

Stattdessen rede ich also lieber stets einen halben Meter neben der Wahrheit. „Danke, gut“, sage ich. Sorgen? Ach Nein, doch nicht um mich. Lächeln. Weiter.

Ich habe die leise Hoffnung, dass diese Welt, die gerade eine Zeit der kollektiven Angst erlebt, ein wenig mehr Akzeptanz lernt. Aber um das wirklich zu glauben, dazu fehlt mir der Mut. Ich wünschte, ich hätte nicht so ein verdammtes Herzstolpern dabei, dieses Mensch-zu-Mensch mit meinem Namen zu unterschreiben. Es wäre so leicht, oder? Einfach einen anderen darunter setzen. Hach, im Internet kann man so herrlich lügen. Man muss dabei nicht mal lächeln. Nicht mal bei einem Text wie diesem.

Die Angst sagt: genau das. Der Kopf sagt: Sei mal nicht feige. Und das Herz: tock, tock, holper, tock. Weil ich fürchten muss, irgendwer könnte mich entdecken, wissen, ahnen, verurteilen. Schlimmer noch: Weil ich fürchten muss, jemand könnte mich darauf ansprechen, mich fragen, wie es mir geht.

Alles. Nur das nicht. Bitte.

Macht‘s gut, seid doch mal zur Abwechslung ganz wahr.

Eure Lügnerin (heute mal oben ohne, ohne Lächeln, maskenfrei. Also: Eva)

Vom Tanz mit dem Affen

von Annika

Normalerweise sind Wochenenden meine Ruheoase. Endlich mal kein frühes Aufstehen, kein Alltagsstress. Dafür viel Zeit für all das, was in der Hektik der Arbeitstage verloren geht. Am vergangenen Muttertagswochenende sah das Ganze bei mir allerdings etwas anders aus.

Ich habe bereits Tage vorher mit mir gehadert, ob es gut wäre, meine Mutter zum Muttertag zu besuchen. Lockerungen hin oder her, ein gewisser Respekt vor zusätzlichen sozialen Kontakten liegt mir immer noch in den Knochen. Letztendlich wurde die Entscheidung mir aber abgenommen - meine Mutter musste nämlich den ganzen Sonntag arbeiten. So schwer mir das auch einerseits fiel, war ich andererseits auch etwas erleichtert. So musste ich nämlich nicht weiter abwägen und schon gar keine Enttäuschung bei meiner Mutter wecken, hätte ich mich gegen einen Besuch bei ihr entschieden.

Für mich war also alles in Ordnung. Nur habe ich meine Rechnung dabei ohne meinen Freund gemacht - der wollte seine Mutter nämlich sehr gerne besuchen. Und als er mir das ein paar Tage vorher mitteilte, war zunächst auch noch alles gut.

Bis… Tja. Bis der Samstag kam.

Wir sprachen noch einmal über die Muttertagspläne und sein Vorhaben, als sie mich auf einmal traf, wie ein Blitz.

Oh, hallo Angst, lange nicht gespürt! (Zugegeben: das war gelogen. Hört sich aber besser an, als „ich hatte gehofft, ich hätte mal ein paar Tage Ruhe vor dir“.)

Die Angst flüsterte mir die wildesten Gedanken und Phantasien darüber ins Ohr, was passieren könnte, wenn mein Freund Kontakt zu seiner Familie hätte. Was, wenn sie ihn anstecken? Oder er sie unbewusst infiziert? Welche Folgen hätte das für seine Familie, für ihn, für uns? Und je länger meine Angst so auf mich einredete, um so mehr entfernte ich mich von dem Gespräch mit meinem Freund. Rationale Gedanken zuzulassen, war schon längst nicht mehr möglich.

Er erkennt den langsamen Übergang von leichten Bedenken und Sorgen zu meiner Angst glücklicherweise. Aber ich erkenne ihn oftmals nicht. Denn meine Angst ist geschickt: Sie verkauft mir ihre Phantasien als Realität. Und bevor ich merke, dass sie längst Besitz von mir und meinen Gedanken ergriffen hat, denke ich noch, ich könnte rationale Gespräche führen. Also fühle ich mich unverstanden, wenn mir mein Gegenüber (und sei es auf die liebevollste Art, wie nur irgendwie möglich) mitteilt, dass gerade meine Angst aus mir spricht - und nicht mehr ich.

Denn meine Angst ist real. Nur die Gründe für meine Angst sind es oftmals nicht.

Ich weiß das normalerweise. Aber wenn sie kommt, kommt sie schleichend und ich kann mich ihr nur schlecht entziehen. Der Singer-Songwriter Bosse hat mein Gefühl in seinem Lied „Alter Affe Angst“ ganz gut zusammengefasst:

Dann kommt dein alter Affe Angst und tanzt und tanzt und tanzt mit dir.
So lang, so lang, bis du den Boden unter deinen Füßen verlierst.
Dann kommt dein alter Affe Angst und tanzt und tanzt dich weg von hier.
In seinen dunklen Dschungel, in dem du alles, was du liebst auf einmal verlierst.

(Bosse - „Alter Affe Angst“)

Genau so fühlt es sich für mich an. Die Beschreibung von dem Affen, der mich unkoordiniert herumwirbelt und nicht loslässt, bis mich das Gefühl vollends umgibt, trifft es sehr gut. Bis ich mich in seinem dunklen Dschungel wiederfinde.

An einigen Tagen finde ich recht schnell wieder aus dem Dschungel heraus. An anderen dauert es länger. An diesem Tag habe ich nicht wieder herausgefunden. Dabei habe ich mein Bestes gegeben: Ich habe versucht, mich abzulenken. Habe Balkonpflanzen gekauft und eingepflanzt. Und ich war stolz auf mein Werk. Das beklemmende Gefühl, sobald ich an den nächsten Tag dachte, ließ mich allerdings nicht los.

Am nächsten Tag fuhr mein Freund zu seiner Familie. Ich bin nicht mit ihm gefahren, das habe ich nicht geschafft. Aber obwohl ich den Affen noch in meinem Rücken spürte, konnte ich ihn fahren lassen, ohne bereits am Morgen wieder in den tiefsten Angst-Dschungel entführt zu werden. Und so klein dieser „Erfolg“ auch wirken mag, mein Freund und ich wissen, wie groß er eigentlich in dieser Situation war. Das mulmige Gefühl gab es noch. Aber der Affe hatte kurz nicht aufgepasst, sodass ich schon einmal zum Rand seines Dschungels flüchten konnte.

Während der Mittagspause meiner Mutter telefonierten wir; quasi als „Ersatz“ für den nicht realisierbaren Besuch zum Muttertag. Und wir telefonierten lange. Gespräche zwischen meiner Mutter und mir lösen immer wieder dieselben Gefühle in mir aus. In diesen bin ich immer wieder „Kind“ und egal, wie oft ich darüber schon die Augen verdreht habe (wenn auch meistens mit einem Grinsen auf den Lippen), vermittelt es mir auch das Gefühl von Geborgenheit. Von Heimat. So auch dieses Mal. Und je länger wir telefonierten, desto besser ging es mir. Es war, als wenn meine Mutter an diesem Tag etwas in mir auslöste, was den Affen vollständig verjagte. Und nach dem Telefonat saß ich auf dem frisch bepflanzten Balkon in der Sonne und konnte zum ersten Mal an diesem Wochenende wieder durchatmen.

Sicherlich, mein Affe wird irgendwann wiederkommen. Aber jedes Mal, an dem ich es wieder aus seinem Dschungel heraus schaffe, ist für mich ein Gewinn. Jedes Mal macht mich ein bisschen hoffnungsvoller und gibt mir das Gefühl, stärker zu sein, als meine Angst. Stärker, als mein Affe.

Und dann ist es vorbei.
Der Affe weg, ich wieder hier.
Die Tage sonnig, ganz ohne Furcht und das haarige Angstgetier.

(Bosse - „Alter Affe Angst“)