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Montag, 29. Juni 2020 | 8 Uhr

Wolfgang
Markus

Liebe angstfrei.news Leserinnen und Leser,

zum heutigen Wochenstart wollen wir zwei Schwerpunkte ansprechen. Angst und Diskriminierung. Zwischen beiden besteht eine innige Verwandtschaft. Wir behandeln sie auf drei Ebenen: Faktisch, hintergründig, und ja, auch für Komik sollte hier ein Plätzchen sein.

Hiermit wünschen Euch Wolfgang und Markus zusammen mit dem gesamten angstfrei-Team einen umtriebigen Start in die letzten Juni-Tage des Corona-Jahres 2020.

Ihr habt Lob, Kritik oder Anregungen für uns? Schreibt uns Euer Feedback.

Die gute Nachricht des Tages

Angst goes Public

Angst ist ein internationales Wort. Mit den Corona-Umwälzungen und Verunsicherungen wird es immer häufiger in angelsächsischen Ländern und Sprachen, ja sogar im hispanischen Kultur- und Sprachraum verwendet. Damit nicht genug. Angst und mental-psychische Gesundheit werden auch immer häufiger in den Medien öffentlich von Expert*innen zusammen mit der Bevölkerung diskutiert. Hier eine Schlagzeile von letztem Freitag:

„Wir sind nicht verrückt, nicht die Einzigen und schon gar nicht die Minderheit.“

Im Text heißt es, dass laut Weltgesundheitsorganisation 450 Millionen Menschen auf der Welt eine seelische Beeinträchtigung haben. Die Gründe dafür seien Verletzung der Menschenrechte, Stigmatisierung, Diskriminierung. Allerdings seien Diagnose und Behandlung enorm erschwert, weil die meisten Betroffenen die Störung verbergen.

Das alles habe sich verstärkt durch die Corona-Krise, Shutdown und Quarantäne, Isolation und Distanzhalten, verstärkt um die Angst vorm Arbeitsplatzverlust und möglicherweise tödlicher Ansteckung, Realverlust von nahen Angehörigen durch Covid-19-Infektionen. Verlässliche aktuelle Daten, wie dadurch Ängste und seelische Beeinträchtigungen zugenommen haben, gibt es noch nicht.

Nach einer Medienabfrage haben 88,3 Prozent von 4250 Teilnehmern angegeben, Ängste, Depressionen und Stress erlebt zu haben. Das sind beträchtlich mehr, als reguläre Statistiken ausweisen. Viele haben Angst, damit in die Öffentlichkeit zu gehen, weil diese Symptome historisch als Schwäche etikettiert werden. Der Künstler J. Balvin äußerte sich zum Thema folgendermaßen:

„Über mentale Gesundheit zu sprechen sollte etwas völlig Normales sein. Das Tabu, welches ich kenne, sollte nicht mehr bestehen. Ich dachte immer, dass sei nur ein Thema für Verrückte. Bis ich bemerkte, dass ich selber der Verrückteste war, indem ich professionelle Hilfe dafür zurückwies.“

Einige Therapievorschläge der Expert*innen aus Psychologie, Medizin, Gesundheit: Aktives Zuhören, ohne Bewertung des Gehörten; Meditation und Mindfulness; Nachrichten 1x täglich, 15 Min. lang; unsere Gesellschaft überbewertet das Glück – die Traurigkeit hat denselben Stellenwert und eine wichtige Gesundheitsfunktion.

Diese öffentliche Diskussion wurde in Kolumbiens Medien mit Sachverständigen aus ganz Lateinamerika geführt. Wünschenswert wäre ein so breitbandiges Aufarbeiten von Corona-Ängsten überall auf der Welt und auch in Deutschland.

→ El Colombiano | Semana

Die Nachrichtenlage

Kostenlose Corona-Tests für alle
In Bayern können sich künftig alle Bürgerinnen und Bürger freiwillig und kostenlos auf das neuartige Coronavirus testen lassen, auch wenn der Betroffene keine Symptome zeigt, nicht in einem kritischen Bereich arbeitet und keine Anordnung eines Arztes oder der Gesundheitsbehörden vorliegt. In diesem Fall übernimmt die Kassenärztliche Vereinigung (KVB) die Kosten und rechnet dann quartalsweise mit dem Freistaat ab. Darauf hatten sich die KVB und der Freistaat am vergangenen Dienstag verständigt. Allein die Laborkosten betragen rund 50 Euro pro Test, zuzüglich des vom Arzt entnommenen Abstrichs und des Transports. Bisher mussten Selbstzahler zwischen 150 und 300 Euro pro Test bezahlen. Nach den Vorkommnissen beim Fleischverarbeiter Tönnies werden auch Tests in Schlachthöfen und Fleischverarbeitungsbetrieben in Bayern einen Schwerpunkt der Untersuchungen bilden.
BR24

Politik will bei Tönnies hart durchgreifen
Dass die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie oft nur Mindeststandards erfüllen, ist nicht neu - aber der Corona-Ausbruch beim Gütersloher Hersteller Tönnies hat die Dringlichkeit des Problems in die Öffentlichkeit gebracht. Die Arbeits- und Produktionsbedingungen werden parteiübergreifend scharf kritisiert, und die Bundesregierung plant, Arbeitsverträge mit Subunternehmern zu verbieten. Ein solches Verbot sei überfällig, so Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus im "Bericht aus Berlin". Obwohl in der Vergangenheit viel getan worden sei - Brinkhaus spricht vom Mindestlohn oder einem Gesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte in der Fleischindustrie - reicht dies offenbar nicht aus.
Tagesschau

Mangelnde Abstandsregeln beim Fußball
Während des Zweitligaspiels von Dynamo Dresden gegen den VfL Osnabrück verletzten mehrere Fußballfans die Corona-Distanzregeln. Bis zu 2.000 Dresdner Fans hätten sich laut Polizeiangaben während des Spiels vor der für Zuschauer gesperrten Arena versammelt. Die Distanzierungsregeln seien weitgehend ignoriert worden. Ausserdem hätten Dynamo-Anhänger vor dem Stadion zahlreiche Feuerwerkskörper und andere pyrotechnische Geräte gezündet, rund 130 Polizisten seien im Einsatz gewesen. In der Zwischenzeit wurden mehrere Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eingeleitet, deren ganaue Zahl von der Polizei jedoch nicht bekannt geben wurde.
ZEIT

Präsidentschaftsstichwahl in Polen
Nach ersten Prognosen gewann der nationalkonservative Amtsinhaber Andrzej Duda die Präsidentschaftswahlen - ohne jedoch eine absolute Mehrheit zu erreichen. Duda muss sich nun dem Zweitplatzierten, dem liberalen Kandidaten Rafal Trzaskowski, in einer Stichwahl am 12. Juli stellen. Duda erhielt den Prognosen zufolge knapp 42 Prozent der Stimmen, Trzaskowski gut 30 Prozent. Die Wahl galt auch als eine Art Referendum über die Politik der nationalkonservativen PiS, die seit 2015 den Präsidenten stellt und im Parlament über die absolute Mehrheit verfügt. Eine zweite Amtszeit von Präsident Duda würde das Machtmonopol der Partei bis zu den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2023 untermauern. Dagegen würde ein Sieg Trzaskowskis die PiS deutlich schwächen.
Tagesschau

Wahlklatsche für frankreichs Präsident Macron
Die französischen Wähler haben bei den Kommunalwahlen die Partei von Präsident Emmanuel Macron bestraft: Nach ersten Hochrechnungen scheiterte "La République en Marche" in mehreren Großstädten, unter anderem in Paris - wo die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo gewann. Der große Gewinner der letzten Runde der Kommunalwahlen sind die Grünen. Sie gewannen in mehreren großen Städten auf einmal. In Lyon oder Straßburg steht ein Machtwechsel unmittelbar bevor, berichtete das französische Fernsehen. Eine Sprecherin der Gruenen sprach von einer grünen Welle. Grenoble ist bisher die einzige Großstadt mit einem grünen Bürgermeister.
Tagesschau

Demokraten fordern bundesstaatenübergreifende Maskenpflicht
In den USA fordern die Demokraten angesichts der hohen Zahl von Corona-Neuinfektionen eine landesweite Maskenpflicht. Die demokratische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Pelosi, sagte dem Fernsehsender ABC, eine solche Verordnung hätte schon längst umgesetzt werden sollen. Die Regierung müsse die Bedrohung durch die Pandemie endlich ernst nehmen. Während Präsident Trump die Fortschritten im Kampf gegen das Virus herausstelle, befinde sich das Land in Wirklichkeit in Bezug auf Infektionen und Todesfälle in einer schlechteren Position als alle anderen. In einigen US-Bundesstaaten gibt es bereits eine Maskenpflicht. Darüber hinaus rät die US-Gesundheitsbehörde CDC dazu, in der Öffentlichkeit Masken zu tragen. Trumpf hingegen erscheint in der Regel ohne Maske.
Deutschlandfunk

Corona in Zahlen
In Deutschland sind 193.499 Menschen als infiziert getestet worden (Stand: 28.06.2020 00:00 Uhr, Quelle: RKI), das sind 256 Personen mehr als am Tag zuvor.

Warum diese Zahlen? Wir zitieren hier die offiziellen Zahlen des RKI, diese werden einmal täglich – immer um Mitternacht – vom RKI aktualisiert und um 10 Uhr morgens online veröffentlicht. Und warum gibt es hier nicht mehr davon? Es ist wichtig, die aktuell angeratenen Verhaltensweisen zu befolgen, das wissen wir alle. Zahlen über Neuerkrankte helfen uns dabei nicht. Achtet aufeinander und haltet Distanz.

Gesundheitsticker: 5.546.050 Menschen sind weltweit wieder genesen, das sind 130.633 Personen mehr als gestern Früh. Davon 177.700 in Deutschland (Stand: 28.06.2020 22:25 Uhr, Quelle: Worldometers).

Tipp des Tages

Wurst Case: Informell Beschäftigte – auch in Deutschland tickende Zeitbombe

Getriggert vom NRW Fleischskandal und neuerlichen Covid-19-Peaks wird deutlich. Auch Deutschland hat (wie USA, England, Frankreich) ein markantes, von Politik und Gesellschaft ignoriertes Problem rund um die Diskriminierung von Nicht-Deutschen, Ost-Europäern, Migrant*innen, Geflüchteten. An den Fließbändern, auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Gesundheitssektor sind die „Front-Line-Worker“ meistens Nicht-Deutsche. Sie sind am infektions-gefährdesten (anders als Home-Office-Arbeitnehmer), mit den wenigsten finanziellen und rechtlichen Ressourcen. Covid-19 macht global sichtbar: Informell Beschäftigte werden in großen Teilen der Welt wie Sklaven behandelt, das auch in den USA.

Breaking News: New Yorks berühmtes „Natural History Museum“ holt US-Präsident Theodore Roosevelt (1901-1909) vom Sockel. Die Statue zeigt ihn hoch zu Ross, am Boden flankiert von einem Indianer und einem US-Afro-Amerikaner. Die US-Kader-Schmiede Princeton University entfernt US-Präsident Woodrow Wilson (1913-1921) aus seinem Namen. Beide Präsidenten gelten als Rassisten. Ersterer machte sich einen zweifelhaften Namen mit seiner „Big Stick Politik“, auch gegenüber Minderheiten: “Speak softly and carry a big stick; you will go far.”

CNN Moderator Wolf Blitzers Kommentar am Wochenende über Protest-Tweets des amtierenden Präsidenten, der seit fünf Wochen die Demonstrationen in sämtlichen US-Städten gegen den Polizistenmord am Afro-US-Amerikaner George Floyd ignoriert, gegen Demonstranten (O-Ton White House: „lowlifes“) dagegen Law and Order forciert „Der Präsident schützt Statuen, lebende Menschen sind ihm egal.“

Bereits Anfang Juni hatte Washingtons Bürgermeisterin die Straße zum Weißen Haus in „Black Lives Matter“ umwidmen lassen, mit u.a. 11 Meter großen quietschgelben Buchstaben quer über die Straßenoberfläche.

→ IPG | BBC | CNN | Wiki

360° Es war einmal

Als die Angst zum Psychiater kam

von Wolfgang

Es war einmal ein Wesen, das nannte sich Angst. Das war so eine Art Luftwesen, wie der Äther, kaum zu fassen, aber überall präsent. Die Angst fühlte sich zunehmend schlecht. Deprimiert und übelgelaunt. Immer angstvoller. Panikattacken krochen in ihr hoch. Es war die Zeit, als der Planet von einer Seuche überschwemmt wurde. Die Menschen zogen sich davor in Angst zurück, isolierten sich, hatten zunehmend mehr Angst voreinander, vor Viren, der Zukunft, vor allem. Unsere Angst fühlte sich hieran schuldig. Und wie sie darunter litt, dass die Menschen sie so sehr hassten!

So beschloss sie, mit ihrem letzten Quäntchen Mut, leidend und schleppenden Schrittes einen Psychiater aufzusuchen, um bei ihm Rat und Hilfe nachzusuchen.

Der begrüßt sie, sehr überrascht, merklich unwohl in seiner Haut.

„Oh-ho, welch unerwarteter Besuch. Hm, die Angst … Was, was führt Sie zu mir, könnte ich, hm, nun ja irgendwie zu Diensten sein?“

Die Angst spürt seine Angst, vor ihr und der für ihn bizarren Situation. Was wenig dazu beiträgt, sich in dieser Praxis behaglicher zu fühlen. Die Wände sind zwar in entspannendem Grün gestrichen. Von der Wand blickt der Angst ein überlebensgroßer Dr. Freud entgegen, über einer roten Couch hängend. Er strahlt Vertrauen aus, im Gegensatz zum verspannten Psychiater.

„Tja, hm“, räuspert sich die Angst. „Wissen Sie, Herr Doktor, eigentlich ist es mir das ja alles hochnotpeinlich und, ganz ehrlich, ich stehe so ein bisschen, nee völlig neben mir. Aber steht die ganze Welt nicht Kopf? So viel Angst! Überall. Ich fühle mich schuld daran. Hätten Sie für mich nicht eine passende Therapie?“

„Da-das überrasch-t-t mi-mich“, stottert der Psychiater. „Eigentlich, ja eigentlich, also bestimmt müssten Sie sich so wohl wie nie zuvor fühlen. Vor allem, weil sie in diesen schwierigen Zeiten doch eine ganz wichtige Schutzfunktion haben. Richtig systemrelevant. Stellen Sie sich doch mal vor, keiner hätte Angst vor Ansteckung. Macht Ihre Präventivfunktion Sie denn nicht ein wenig stolz?“

„Oh je“, jammert die Angst, „ganz im Gegenteil, Herr Seelenheiler. Alle fürchten und hassen mich, noch mehr als das Virus. Früher, da wurde ich eingeladen, saß kuschelig wohl in Therapie- und Selbsthilfegruppen. Wurde befragt, man berührte mich an, fasste mich an, damit die Menschen die Angst vor mir verlören.“ Verträumt: „Tolle Zeiten“ – dann wütend, fast weinend: „Heute bin ich schlimmer als die Pest.“

„Wie sind Sie denn überhaupt versichert?“, fragt der Psychiater dazwischen und murmelt für sich ‚was für‘n verrückter Fall‘. Dann nimmt er professionelle Haltung an, rückt in seinem Exekutiv-Sessel aus schwarzem Leder ein wenig nach hinten, auf Nummer sicher, zieht seinen Gesichtsschutz bis unters Kinn und blickt die Angst ernst an.

„Also, ich könnte Ihnen vier Behandlungsformen anbieten. Sehr zu empfehlen Exposition, ein Klassiker: Sich der Angst stellen, am besten inmitten von angst- und seuchenbesessenen Menschen, die Beleidigungen und Verwünschungen ausstoßen, das alles so lange ertragen, bis Ihre eigene Erregung und Panikkurve abflacht und Sie feststellen: Hallo, die fressen mich ja gar nicht, haben noch mehr Schiss als ich. Mit dieser Methode hat der alte Goethe bereits seine Höhenangst auf der Spitze des Straßburger Münsters kuriert.“

„Das hielte ich nie aus“, jammert die Angst und windet sich allein beim Gedanken an diese Tortur in Qualen. „Hätten Sie nicht etwas weniger Anstrengendes im Angebot?“

„Aber natürlich“, entgegnet der Psychiater, der auf ihm bekannten Terrain nunmehr zunehmend Tritt fasst. „Wie wäre es denn mit einer Gesprächstherapie? Dabei legen wir alte Konflikte aus der Kindheit, Traumata, Sexuelles und so, Schuldgefühle offen. Könnte aber dauern“, ergänzt er mit vielsagendem Blick auf die Couch, „bis zu ein paar Jahre.“

„Oh je“, stöhnt die Angst, „das ist ja eine Ewigkeit. So lange kann nicht warten, da ticke ich aus. Gibt’s da wirklich nichts Schnelleres?“

Der Psychiater, mit der Geduld kämpfend: „Bei den Medikamenten haben wir eine große Bandbreite von angstlösenden Präparaten, von Betablockern bis Benzos. Die haben aber Nebenwirkungen“, blinzelt: „Sucht.“ Und weiter: „Johanneskraut gäbe es auch noch, günstig im Naturheilladen.“ Hat sich missbilligend ein wenig nach vorne gelegt: „Da könnten wir ja gleich mit Bachblüten rummachen. Daran muss man glauben, wissen Sie: Placebo und Autosuggestion. Aber da hätte ich bei Ihnen in Ihrem Zustand Zweifel. Aber wissen Sie, was am schnellsten hülfe?“

Die Angst lehnt sich erwartungsvoll ebenfalls nach vorne, sodass der Psychiater erschreckt zurückschnellt und hinter seinem Eichenschreibtisch wieder in soziale Distanz geht.

Der Mann fährt mit dem Finger rasch durch die Luft, murmelt verschlagen wie Max und Moritz ‚ritscheratsche‘ und sagt: „Nerven durchschneiden.“

Die Angst blickt ihn verständnislos an.

„Na ja“, bequemt sich der Psychiater, „den Sympathikus halt und alle die Stränge, die Angst, Schwitzen, Erröten, Zittern triggern.“

„Huuuch“, schreit die Angst entsetzt, fährt zurück in ihrem engen Patientenstuhl, kämpft mit dem Gleichgewicht. „Das geht ja gar nicht. Ich habe so viel Angst vor Operationen und Blut.“

Der Psychiater denkt angestrengt nach, mittlerweile deutlich entnervt. „Also, Mensch, pardon, Angst, Sie sind der schwierigste Fall in meinen 40 Jahren Berufspraxis.“ Er deutet auf handsignierte Fotos auf der Wand gegenüber von Freud. „Und glauben Sie mir, hier ist schon so einiges an Prominenz ein und ausgegangen. Halb Hollywood pilgert zu mir – (mit schiefem Lächeln) samt verkorksten Schosshündchen. Härteste Fälle von Angst, wenn ich da an Präsident … (räuspert sich) denke. Der war hinterher ein völlig neuer Mensch, hat selbst mit dem Papst gestritten …“

„Aber ich bin kein Mensch, sondern die Angst“, fällt ihm die Angst unsacht ins Wort.

„Genau, das ist die zu knackende Nuss“, sagt der Psychiater, legt den Kopf in die Hand, greift nach einem Holzzahnstocher, den er vom linken in den rechten Mundwinkel und wieder zurück langsam hin und herwandern lässt. Während er forschend Freud mit seiner Zigarre in der Hand an der Wand anstarrt, dabei offensichtlich angestrengt nachdenkt. Während die Angst vor Angst und in Erwartung dessen, was der Seelenkundler sagen wird, noch tiefer in ihrem Stuhl versinkt.

Nach fünf langen Minuten erwacht der Psychiater zu Leben zurück, holt den zerkauten Zahnstocher aus seinem Mund, nimmt seine ungewöhnliche Patientin wieder in den Blick. „Also, bevor ich Sie doch noch auf meine Couch legen muss, versuchen Sie’s doch mal mit einem Regenbogen.“

Auch in die Angst ist Leben zurückgeflossen. Gespannt hängt sie an den Lippen des Mannes, verzieht sich jetzt allerdings zu einem Fragezeichen.

„Nun ja“, geht der Seelenkundige darauf ein, „denken Sie mal an die Wärme, die Sie in Therapie und Selbsthilfe erhalten haben. All die Menschen, die sich mit Ihnen angefreundet, sie umarmt und als Teil ihres Lebens und ihrer Gefühle angenommen haben. Dafür steht das Rot im Regenbogen.“

Das Gesicht der Angst hat sich aufgehellt, sie schwelgt kurz in Erinnerungen, lauscht dann konzentriert den Erklärungen.

„Und jetzt denken Sie mal an ihren letzten Regenbogen, den Sie am Himmel gesehen haben“, macht der Psychiater weiter, jetzt deutlich ermutigt von der einsetzenden Resonanz mit seiner Patientin.

„Und was haben wir gegenüber von Rot am anderen Ende des Regenbogens? Blau. Stechend wie die durchdringenden Augen eines Detektivs, hart und abweisend wie ein stahlblauer Panzer. Das ist Ihr Erleben jetzt während der Seuche. So normal und naturgesetzlich wie das Sonnenlicht und seine unterschiedlichen Wellen, die als Farben im Regenbogen sichtbar werden.“

„Dann bin vielleicht auch ich ganz normal?“, fragt die Angst, schüchtern, aber erstmals selbst über sich nachdenkend, sehr angestrengt.

Das Gesicht des Psychiaters klärt sich auf. „Genau, bravo!“, bricht es aus ihm hervor mit professionell gebremster Erleichterung. „Sie sind so naturgesetzlich wie die Lichtwellen, mal rot, mal blau. Dazwischen grün und gelb und in allen anderen denkbaren Farbschattierungen. Angst ist das Grundprogramm der Schöpfung. Und es macht vor Ihnen keine Ausnahme. Mal fühlen Sie sich angenommen und wohler, mal unwohl und abgestoßen, wie in der derzeitigen Krise.“ Und erhebt sich zur Verabschiedung: „Warum sollte es Ihnen besser gehen als mir und uns Menschen? Surfen Sie mit auf diesen Farb- und Gefühlswellen, machen Sie‘s Beste daraus.“

Und wenn Menschen und Angst vor Angst nicht gestorben sind, dann leben beide noch heute – in einträchtiger Ko-Existenz.

Wissenschaft nicht aus dem Elfenbeinturm, sondern dialogisch und narrativ, anfassbar und hands-on, spielerisch und humorvoll. Wolfgang ist Mitherausgeber eines Buches, das im Herbst 2020 bei Springer Nature mit dem Titel erscheint: „Kann Wissenschaft witzig?“ angstfrei.news sind bereits weiter. Sie sind ein beeindruckendes Praxisfeld für moderne Wissenschaftskommunikation. Davon zeugen etliche Beiträge der Autor*innen.
→ TELI | TUM

daz - die angst zeitschrift

360° Epilog von Morgen

Fischen lernen

von Wolfgang

Eine spezielle Form der Angst ist die vor der Öffentlichkeit. Nicht die soziale Angst, sondern die Angst, sich in den mit Staat und Allgemeinheit verflochtenen Angelegenheiten einzumischen und das öffentliche Wort dazu zu ergreifen. In Anlehnung an Cicero und sein großes staatstheoretisches Werk ließe sich diese Furcht „Res publica Angst“ oder „Publica Phobie“ nennen.

Wer sich in der Schule herumgequält hat mit der Übersetzung des römischen Staatsphilosophen, der mal Kikero und mal Zizero ausgesprochen wird, erinnert sich vielleicht: Er sah es als Pflicht eines jeden Einzelnen an, sich für den Staat zu engagieren. Er ist Gemeinwesen und Sache des Volkes. Das schrieb er 1800 Jahre vor den ersten zarten Trieben der Demokratie.

Heute hätten wir vielerlei Möglichkeiten, das öffentliche Wort zu ergreifen. Allein, wer tut‘s? Die meisten grummeln und schimpfen über Politik, schreiben ein paar unflätige Worte in die sozialen Medien, sind aber öffentliche Schweiger. Das nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern Angst vor öffentlicher Rede. Diese schweigende Mehrheit lässt sich bei jeder Versammlung, in jedem Seminar, auf jeder Konferenz beobachten. Die sich trauende Minderheit hat das Sagen. Seit vor Beginn der christlichen Zeitrechnung verhallen Ciceros klugen Worte im historischen Nirwana.

Wann werden wir unsere Angst überwinden und uns zur öffentlichen Rede ermächtigen? Jetzt, wo angeblich die Karten für die große Transformation der Nach-Corona-Zeit gemischt werden, wäre der Moment, unsere Wünsche zu bekunden, zu kanalisieren und uns dafür aufzustellen.

Vermutlich hätte Cicero große Freude am Community Organizing gehabt. Das ist eine Methode des politischen Empowerments, die etwa Obama als junger Mann erlernte. Sie ließ ihn Politik und ihre Stellschrauben begreifen und brachte ihn am Ende ins höchste politische Amt. Und so funktioniert Bürgerermächtigung.

Ein Community Organizer geht in einen Stadtteil, spricht dort mit ganz vielen Bewohnern und erstellt eine Liste von Problemen, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Sie gründen eine NGO, suchen sich Verbündete, erschließen Gelder und arbeiten die Missstände Stück für Stück ab. Und zwar auf der öffentlichen Bühne.

Zu den Themen werden Vertreter aus Politik, Verwaltung und den Institutionen eingeladen. Jeweils die Zuständigen, die auch die Macht besitzen, die Probleme zu lösen. Diese Nöte werden ihnen präsentiert von Menschen, die vorher noch nie öffentlich aufgetreten sind. Die aber nicht die Rolle von Bittsteller*innen einnehmen, sondern fordernden Bürger*innen und Steuerzahler*innen, die ein gutes und sogar einklagbares Recht auf Problembeseitigung haben.

Der Community Organizer ist dabei der Katalysator, Regisseur, Trainer. Er übt mit den Menschen die Dramaturgie ein, veranstaltet Rollenspiele, arbeitet darauf hin, dass der Res Publica Akt auch rhetorisch möglichst wirkungsvoll gerät.

Menschen, die eine solche öffentliche Inszenierung ihrer legitimen öffentlichen Belange als Akteure und Sprecher miterleben, gehen daraus verändert hervor. Ihre Passivität und Angst überwunden zu haben, gemeinschaftlich in Auseinandersetzung, oft Clinch mit öffentlichen Amtsträgern getreten zu sein, am Ende die Forderungen durchgesetzt zu haben, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Medien – das alles ist für die meisten Staatsbürgerunterricht live und in vivo, eine Lektion fürs Leben, die oft völlig neue Horizonte und Entwicklungswege eröffnet.

Das Jahr 2020 wäre die Stunde dafür. Die Barrieren der Angst zu fällen, angstfrei und mitgestalterisch in die Zukunft zu blicken, mutig anzupacken, vor allem auch mit dem öffentlichen Wort. Community Organizing ist aus den USA nach Deutschland eingewandert, etabliert sich an den Hochschulen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik und lehrt eine Weisheit des Konfuzius, 500 Jahre älter als die des Cicero:

Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.
→ Foco | Wiki

Dies & DAS

Smarte Masken
„C Masks“ aus Japan verbinden direkt mit Smart Phone.
→ Forbes

Plädoyer für „Verantwortungseigentum“ **
Wider Shareholder-Values & Heuschrecken-Kapitalismus: Unternehmer Armin Steuernagel bricht eine Lanze für „moralisch-gemeinschaftsverpflichtendes Unternehmertum“, im 8. Tag.
→ Achte Tag

Trump verschickt eine Million Corona-Schecks an Tote
Der Scheck über 1200 US$ trägt seinen Namen. Der Rechnungshof rügt Schlampigkeit. Wieviel von dem Geld verloren ist, ist unbekannt.
→ DER SPIEGEL

Silence is not an option
Hörenswerte Podcast-Serie, wie es sich mit brauner oder schwarzer Hautfarbe lebt.
→ Apple

Corona-Tango
Walzer und Salsa: Der kunstvolle Paartanz bleibt auf der Corona-Strecke. Nicht so Tango. Argentinien und Südamerika entdecken den Corona-Tango. Mit Gesichtsschutz und in Distanz – notfalls hilft eine Trennscheibe.
→ Clarin | El Colombiano

Gletscher Air Show
Künstler und Artisten suchen nach neuen Bühnen. Auf dem Schweizer „Glacier 3000“ werden sie fündig. Atemraubender Seiltanz und mehr auf Alpengipfeln und Seilbahnen.
→ BR

Wandel beginnt mit Imagination
„Wenn wir uns beginnen vorzustellen, dass die Dinge auch anders sein könnten – erst dann können wir sie verändern.“
Juan Villoro, mexikanischer Schriftsteller in BBC Mundo.
→ BBC

Zum Abspann der Montags-News ein Eye-Catcher:

Jahresmitte ist Zeitenwende?

Gerne hören wir Eure Imaginationen und Ideen, Hoffnungen wie auch Ängste dazu über das Feedbackformular. Ihr wollt unsere Arbeit unterstützen: Spenden und Fördermitgliedschaft bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V.

Quellen
Corona in Zahlen (RKI) | Gesundheitsticker | Über die Landesregierung NRW sind wir außerdem an den dpa-Nachrichten-Ticker angebunden, den wir immer als Quelle verwenden, wenn wir (dpa) schreiben.