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Montag, 8. Juni 2020 | 8 Uhr

Wolfgang
Markus

Liebe Montags-Leser*innen,

wir begrüßen Euch aufs Allerherzlichste zum Auftakt der zweiten Juni-Woche. Im Montags-Menü erwarten Euch frisch angerichtete Speisen in den bewährten und beliebten Rubriken. Dazu in 360° diesmal ein (Streit-)Gespräch über Wissenschaft und Corona: Ob wir nach 86 Tagen Pandemie wirklich klüger sind? Kontrovers und belebend, oben drauf eine fiktive Geschichte über ein beklemmendes Thema, das realistischer ist, als Viele annehmen.

Eine gedeihliche Lektüre wünschen die mittlerweile gut eingeswingten angstfrei-Paarläufer, Wolfgang und Markus, mit dem gesamten 22-köpfigen angstfrei.news Team.

Ihr habt Lob, Kritik oder Anregungen für uns? Schreibt uns Euer Feedback.

Die gute Nachricht des Tages

Rückenwind für die „Alten“*
In vielen Ländern der Welt sind die Alten die Weisen. In Japan gehört sich eine besonders tiefe Verbeugung vor ihnen. Im alten Rom gab es den Ältestenrat. In Stammesgesellschaften sind Senioren oft Medizinmänner. Das nicht nur in Asterix und Obelix. Nun könnten wir in Debatte darüber gehen, wie flexibel und anpassungsfähig die Älteren nun wirklich sind. Aber dass wir in den westlichen Gesellschaften sie ab 60 Lebensjahren ausrangieren, zwangspensionieren, in Altenheime stecken – im Corona-Lockdown in einigen Ländern den Über-70-Jährigen täglich eine halbe Stunde Ausgang und frische Luft gewähren, weniger als den Hunden: Das schlägt dem Fass nun wirklich die Krone ins Gesicht!

Hoffnung kommt von einer Partei, die bisher nicht mit so großer Reformwilligkeit glänzte. Diana Kinnert ist Unternehmerin, Thinktank- und Forschungsberaterin, Publizistin („Für die Zukunft seh‘ ich schwarz“) und: Mitglied der „Kommission für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ der CDU. Im „Achten Tag“ besprach sie dazu einen hörenswerten Podcast. Hier ein paar Kernsätze, bei denen „Silberlocken“ sich das Herz öffnen wird, etwa:

  • „Das Bild der Alten in unserer Gesellschaft ist entmenschlichend, entwürdigend, hochgradig primitiv … nicht an den Potenzialen dieser Generation orientiert.“
  • „Wir Jungen müssen verstehen: Wenn wir … innovative, solidarisch, freiheitliche Politik … umsetzen wollen, müssen wir in einer Demokratie zwingend mehrheitsfähig sein.“
  • „Die Alten müssen zurück in die Mitte der Gesellschaft. Das ist gut für sie. Das ist gut für uns.“

Gut gebrüllt für eine 29-Jährige (obwohl sich viele „Alte“ an ihrem veralteten Terminus reiben dürften, s. auch Stimme aus der Zivilgesellschaft: „Wer heute alt ist, ist morgen tot“), gleichwohl: Die Stimmen der Jungen wie Nicht-mehr-ganz-so-Jungen hätte diese Frau – Diana for Bundeskanzerlin?

→ Diana Kinnert Podcast | → Corona Stimme der Zivilgesellschaft

Die Nachrichtenlage

AfD im Umfragetief
Die Zustimmung zur AfD ist laut Sonntagstrend auf den niedrigsten Stand seit September 2017 gefallen. Zum vierten Mal in Folge habe die Partei im Vergleich zur Vorwoche einen Prozentpunkt verloren, so eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag von Bild am Sonntag und liegt nun bei acht Prozent, wie die ZEIT berichtet. Die CDU bleibt mit 38 Prozent die beliebteste Partei, gefolgt von den Grünen mit 16 Prozent und der SPD mit 15 Prozent. Die FDP kommt auf sieben Prozent, die Linkspartei auf acht Prozent.
ZEIT

Washington wird Zentrum der Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt
In Washington richten sich die Demonstrationen nun hauptsächlich gegen US-Präsident Donald Trump. Zwar hat er den gewaltsamen Tod von George Floyd durch einen Polizisten am 25. Mai mehrfach verurteilt und das Recht auf friedlichen Protest betont. Ihm wird jedoch vorgeworfen, nicht klar gegen Rassismus Stellung zu beziehen und kaum Verständnis zu zeigen für den Zorn über Diskriminierung und Ungerechtigkeit im Land. Der Regierungssitz wurde weiträumig abgesperrt und Hubschrauber überflogen die Menschenmenge.
BR24

Aufräumen lohnt sich
Nach den Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt hat ein junger Mann in seiner Heimatstadt Buffalo zehn Stunden lang die Hauptverkehrsstraße von Abfall befreit, wie CNN berichtete. Nach Angaben des Senders wusste er, dass viele Menschen morgens die Straße benutzen würden, um zur Arbeit zu kommen. Als Dankeschön für seinen ungewöhnlich Einsatz schenkte ihm ein Mann ein Auto und er wurde mit einem College-Stipendium belohnt.
DER SPIEGEL

Belastung durch Mehrwertsteuersenkung
Die geplante temporäre Senkung der Mehrwertsteuer könnte für den Einzelhandel aufwendige Umstellungen bedeuten. Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland, befürchtet eine Belastung für die betroffenen Unternehmen in einem hohen zweistelligen Millionenbereich. So müssten beispielsweise Kassensysteme umprogrammiert, Preisschilder ersetzt und Werbung teilweise neu gestaltet werden.
ZEIT

Bald Maskenpflicht auch an deutschen Flughäfen
Nach Informationen des SPIEGEL soll auf deutschen Flughäfen bald eine generelle Maskenpflicht für alle Passagiere und Angestellte eingeführt werden. Ein Paket von Sicherheitsmaßnahmen wird derzeit von den zuständigen Behörden und Flughafenbetreibern vorbereitet. Dem Papier zufolge erfordert dies den Einsatz von Masken, da es in vielen Bereichen des Flughafens nicht möglich ist, genügend Abstand zu halten. Konkret erwähnt werden die Luftsicherheitskontrollen, die Flughafen- und Shuttlebusse oder der Bereich der Gepäckausgabe.
DER SPIEGEL

Gesundheitsminister Spahn besorgt
Auch bei wichtigen Anliegen gelte: "Abstand halten, Alltagsmaske tragen, aufeinander acht geben. Um uns und andere zu schützen", appellierte Spahn anläßlich der Demonstrationen gegen Rassismus und zeigte sich auf Twitter besorgt über dichte Menschenmengen. Zehntausende Menschen waren in den letzten Tagen gegen Rassismus und Gewalt in zahlreichen deutschen Städten auf die Straßen gegangen. Während die Demonstrationen gestern weitgehend ruhig verliefen, kam es in Berlin und Hamburg auch zu Ausschreitungen.
Tagesschau

Corona in Zahlen
In Deutschland sind 183.979 Menschen als infiziert getestet worden (Stand: 07.06.2020 00:00 Uhr, Quelle: RKI), das sind 301 Personen mehr als am Tag zuvor.

Warum diese Zahlen? Wir zitieren hier die offiziellen Zahlen des RKI, diese werden einmal täglich – immer um Mitternacht – vom RKI aktualisiert und um 10 Uhr morgens online veröffentlicht. Und warum gibt es hier nicht mehr davon? Es ist wichtig, die aktuell angeratenen Verhaltensweisen zu befolgen, das wissen wir alle. Zahlen über Neuerkrankte helfen uns dabei nicht. Achtet aufeinander und haltet Distanz.

Gesundheitsticker: 3.453.492 Menschen sind weltweit wieder genesen, das sind 40.143 Personen mehr als gestern Früh. Davon 169.100 in Deutschland (Stand: 07.06.2020 23:20 Uhr, Quelle: Worldometers).

Tipp des Tages

Grüne Symphonie
Nicht nur der Garten ist ein Rückzugs- und Erholungsort, sondern die gesamte große Natur. Ein Stück Grün finden wir alle, ganz egal, wo wir sind. Gras und Tau unter den nackten Füßen, einen feuchten Klumpen Erde in den Fingern, frische Luft in der Nase. Einfach nur so. Der Garten und Natur als Heilstätte. Auch als Zukunftsidee in Zeiten der Wende. Mit „Crowd und Rüben“: Private Haushalte packen gemeinsam an, ackern und ernten. Eine grüne Symphonie in einem Magazin, für das publizistisch stets gilt: „Humans First.“
→ Grün ist die Liebe

360° – Im (Streit-)Gespräch

Sind wir jetzt wirklich klüger?

Lob und Tadel für die Wissenschaft in der Corona-Krise. Darum ging’s beim Bürgerradio Lora (München 92,4) am letzten Donnerstagabend. Die beiden Moderatoren Günter Löffelmann (GL), Biologe, und Wolfgang Chr. Goede (WG), Politologe, debattierten die Frage: „Wissen wir jetzt wirklich mehr“? Hier zehn Kernfragen aus der Kontroverse (paraphrasiert, wörtlich nachzuhören unterm Link unten).

Was ist Wissenschaft?

GL: Sie öffnet uns die Augen. Erklärt uns, was die Welt zusammenhält. Begeistert und ermöglicht Fortschritt. Aber sie kann nicht alle Fragen beantworten. Besonders auch nicht die aktuellen zur Corona-Pandemie.

WG: Sie ist unsere allerbeste Methode der Wahrheitssuche. In der Theorie. In der Praxis hat Wissenschaft erhebliche Defizite. Sie ist zu wenig in Gesellschaft und Politik eingebunden. Kommuniziert ungenügend.

Gibt es dafür aktuelle Corona-Beispiele?

WG: Die Verunsicherung über die Risiken für Kinder (Kawasaki Syndrom und Todesfälle). Ganz aktuell die Frage, wie groß die einzuhaltende soziale Distanz sein muss. Zwei Meter ist ein eher willkürlicher Wert. Neueste Atmosphärenforschung kommt zum Schluss, dass die Aerosolwolke des Menschen und darin befindlichen Viren viel weiter reicht.

GL: Hat die Gesellschaft nicht zu hohe Erwartungen an die Wissenschaft? Auch weil Menschen mit Ungewissheit so schlecht umgehen können?

WG: Vielleicht, aber bessere Kommunikation schüfe mehr Sicherheit. Ein Beispiel sind die um die Welt gegangenen Bilder und Kommentare von US-Präsident Trumps unsäglichen Pressekonferenzen. Dabei stand sein wissenschaftlicher Berater, der angesehene Immunologe Dr. Fauci. Trump hat die Risiken der Pandemie wochenlang heruntergespielt, sogar Bleichmittel als Heilmittel empfohlen. Fauci war zugegen, hat zwar Grimassen geschnitten, später aber nur sehr verhalten dagegen argumentiert. Wo war der Aufstand der internationalen Wissenschaft gegen ihren Missbrauch durch die Politik? Für mich die Kastration der Wissenschaft.

Öffentlichkeit – ausreichend über Corona informiert?

GL: In Deutschland gab es spezielle Talksendungen zu Corona. Die ARD hatte sogar eine tägliche Sondersendung. Ich sehe keine kommunikativen Defizite.

WG: Sind wir dadurch wirklich klüger geworden? Wissen wir, wo das Virus herkam, wo es mit uns hingeht. Allein die verwirrende Fülle der unterschiedlichen Maßnahmen der einzelnen Bundesländer? Insgesamt registriere ich – was die Rechte politisch nutzt – große Desorientierung. Info-Flut, Widersprüche, Verwirrung. Wie während der Tschernobyl-Reaktorschmelze 1986.

Wie erfolgreich ist die Corona-Wissenschaft?

GL: Der Krankheitserreger wurde in Rekordzeit identifiziert, ebenso schnell Tests entwickelt. Mit neuen Impfstrategien stehen wir vor einem Innovationssprung. Ich finde, Wissenschaft hat einen guten Job gemacht. Sie ist systemrelevant. Wobei man hinter der Kommunikation ein Fragezeichen setzen könnte. Aber im Gegensatz zu dir bin ich ausdrücklich nicht der Meinung, dass Wissenschaft die Konsequenzen aus ihren Erkenntnisgewinnen durchsetzen müsste. Vielleicht aber Empfehlungen formulieren sollte.

Und ihre Defizite?

GL: Ich fand den Wettbewerb der Experten in Podcasts nicht gut. Auf Teufel komm raus zu kommunizieren, da lässt sich Wissenschaft vor den Karren der PR spannen. Lösungen wurden vorschnell ohne Erkenntnisgrundlage präsentiert.

WG: Noch viel krasser, zunehmend mehr geht es um Verkaufe. So wie die Presse ist Wissenschaft immer mehr kommerziell getrieben. Ihre Öffentlichkeitsarbeit ist PR-geleitet. In der Drittmittelforschung bestimmt die gewinnorientierte Industrie die Forschungsagenda.

Wissenschaftsethik – relevant?

WG: Jahrhundertelang ging’s der Forschung allein um Erkenntnis und wissenschaftliche Wahrheit. Mit der Atombombe verlor sie ihre Unschuld. Eine Antwort darauf ist der Verein Deutscher Wissenschaftler VDW, der für die Verantwortung der Forschung eintritt.

Welche Bedeutung hat die Politik?

GL: Die Wissenschaft hat genug mit sich zu tun. Das Nicht-Wissen ist überall greifbar. Es gibt viele Zweifel, auch bei den therapeutischen Maßnahmen gegenüber dem Corona-Virus. Das ist forschungs-immanent. Für Entscheidungen sehe ich die Politik in der Verantwortung. Also: Schuster bleib bei deinen Leisten. Wissenschaft forscht, Politik lenkt.

WG: Ist Politik wirklich so kompetent? Seit 4000 Jahren kennen wir Seuchen, fast 20 allein in diesem Jahrhundert, immer wieder als Folge des Verzehrs wilder Tiere. Die derzeitige Pandemie war vorausgesagt. Mit der wachsenden Weltbevölkerung setzen wir uns immer größeren Infektionsrisiken aus. Wie die Blinden stolpern wir in den Abgrund. Ist die Wissenschaft nicht viel näher dran an diesem Thema? Müsste sie nicht mehr Richtung vorgeben, als die in Vier-Jahreszyklen gefangene Politik? Auch in der Impfstofffrage?

GL: Die Verteilung eines Covid-19-Impfstoffs, seine Bepreisung, wo er zum Einsatz kommt ist einzig und allein eine politische Frage.

Erwartungen an die Gesellschaft?

GL: Ich frage mich, ob die Bildzeitung stilbildend ist. Dieser Schlagabtausch etwa mit dem Virologen Drosten und dem Blatt, in dem es felsenfest Erwartungen der Gesellschaft vertrat und diese mit klaren Handlungsempfehlungen an die Wissenschaft versah.

WG: Das war wie vor 2000 Jahren, ein öffentliches Spektakel um Brot und Spiele, mit Helden und Antihelden. Dieser Zirkus macht uns am Ende noch orientierungsloser. Die Gesellschaft ist und bleibt unaufgeklärt. Was wir brauchen ist Reform an Haupt und Gliedern, eine neue Aufklärung.

Was bringt die Post-Corona-Zeit?

WG: Katharsis. Die Krise ist die Zeit der Läuterung, Chance, des Neubeginns. Ideen dafür gibt’s genug.

GL: Ich zitiere Churchill: „Never let a good crisis go to waste” (Vergeude nie eine gute Krise).

Weiter so, wie bisher? Oder hinein in die Wende?

WG: Bei allen Katastrophen und Abstürzen, die Evolutionskurve des Homo sapiens zeigt seit 100.000 Jahren stets nach oben.

GL: Das kann ich so nicht sehen. Wir sind bequem geworden auf der Insel der Seligen. Die Geschäfte und Grenzen öffnen sich und alle stürzen sich zurück in den Konsum, in den nächsten Urlaub. Ich wünschte mir Bescheidenheit und die Fähigkeit, auch in Armut üppig leben zu können.

Original Audio-Datei der Lora-Kontroverse bei: „Zwischen Urknall und Apokalypse – Themen die uns alle angehen“

→ Radio Lora Wissenschaft Kontrovers

daz - die angst zeitschrift

360° – Es war einmal …

TOTENTANZ

Hommage auf BLACK LIVES MATTER (and others too) – 500 Jahre Rassismus, Versklavung, Ausbeutung

In der Zelle ist es so schwarz, wie es in einem unterirdischen Verlies in hundert Metern Tiefe nur sein kann. Nirgendwo auch nur das winzigste Pünktchen eines Lichts. Später kann Lisa Joana nicht mehr sagen, ob die folgende Szene sich wirklich zugetragen hatte. Oder einer ihrer Träume, die zwischen Wahn und Hellseherei wechselten.

Da sprangen aus der nebeligen Schwärze auf einmal Fabelwesen hervor. Sie tanzten ekstatisch wie eine Armee von Derwischen durch den Raum. Alles begann sich zu drehen wie auf einem Karussell. Für einen Moment glaubt Lisa Joana, sich aufzulösen und in den kreisenden Wirbel hineinzustrudeln. Dann plötzlich ordnet sich das Chaos zu einer langen Schlange von Menschen, die sich auf Lisa Joana zuschlängelt.

Der Menschenzug wird angeführt von jemandem, der Kolumbus ähnlichsah. Als er bei Lisa Joana angekommen ist, erklimmt er eine Bühne. Er wendet sich zur Menge, zieht seinen verwitterten Hut und entschuldigt sich mit vor der Brust demutsvoll gefalteten Händen für die Öffnung des modernen Seewegs nach Amerika. Sein mittelalterliches Spanisch ist umständlich und dem eines Don Quijote würdig. Er zuckt hilflos mit den Achseln. Die Zeit sei reif dafür gewesen. Wenn nicht er, dann hätte es bald darauf ein anderer geschafft. Er blickt in eine Kristallkugel. Darin, erzählt er den Anwesenden, sieht er eine Invasions-Armada von Indianerschiffen nach Europa übersetzen. Wer weiß, fragt er, welches Schicksal er verhindert hat? Die Menge johlt.

Kolumbus folgen ein paar Kaziken, mit Edelsteinen, Federn geschmückte Indianerhäuptlinge. Sie umtänzeln die Sonne, einen zuckenden Glutball, den sie anbeten und ihm kleine Kinder opfern. Die Konquistadoren Cortés und Pizarro, von hässlichsten Brandwunden entstellt, betrachteten den Akt voller Abscheu und Hass. „Heiden, Kindermörder, Teufel“, brüllen sie durch den Raum, „warum haben wir die Gottlosen zu Ehren unseres Allmächtigen nicht alle restlos verbrannt?“ „Für diese Sünde“, lamentiert Pizarro, „zahlen wir seit 500 Jahren mit Höllenqualen“, und zeigt mit schmerzverzogenem Gesicht auf sein und Cortés‘ verschmortes Fleisch.

Es schleppt sich ein völlig entstellter Indigener vorbei, mit abgeschnittenen Fingern, Ohren,

Nase, Lippen, Penis. Ein schwer mit Gold behangener Papst schubst ihn brutal beiseite und wirft sich in seine schmächtige Brust. „Ich, Sixtus der Fünfte, habe damit nichts zu tun. Ein treuer Diener unseres Gottes, habe ich den Wohlstand unserer Heiligen Kirche vermehrt, ohne einem einzigen Indianer auch nur ein Stäubchen Gold entwendet zu haben. Dafür habe ich alle Ehebrecher zur Kasse gebeten und damit die Vatikandächer mit Gold überziehen lassen, um unseren großen Herrn zu ehren und zu preisen.“ Und leise in sich hineinkichernd: „So einfach geht das Geschäft.“

Und so geht es weiter, in einer immer länger werdenden Kolonne, mit den schrecklichsten Zeugnissen der Konquista und des Kolonialismus, des Imperialismus und der Sklaverei, der Armut und Ausbeutung auf dem Kontinent. Auch die modernen Revolutionäre und Konterrevolutionäre tauchen auf, Fidel Castro und Pinochet, Che Guevara und die argentinischen Junta-Generäle, in Südamerika untergeschlüpfte Nazi-Schlächter, jeder mit seinem Plädoyer, warum gerade ihm die Geschichte einen Lorbeerkranz flechten müsste.

Dazwischen springt der 1948 ermordete kolumbianische Präsidentschaftskandidat Gaitán von seinem Ehrenplatz auf dem 1000-Peso-Schein. Gaitán schmettert seine liberalen Heilsbotschaften, im hitlerartigen Furor mit Blut- und Bodensemantik, verdammt seinen Mörder, der mit seiner Tat einen Bürgerkrieg anzettelte, eine Gewaltorgie mit 200 000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen.

Hungernde Bananenarbeiter gehen mit ihren Macheten gegen das Kanonenfeuer der United Fruit Company vor. Die schießt gnadenlos den Streik nieder. Über das Massaker schreibt Gabriel García Márquez, sibyllinisch in blutrote Wolken hinein: „Nicht noch einmal 100 Jahre.“ Gegen Ende der mythologischen Prozession, die Jahre zu dauern scheint, betritt Lisa Joanas uruguayischer Journalistenkollege Eduardo Galeano die Szene. Sein Meisterwerk über die offenen Adern Lateinamerikas, wie im Rausche in die Schreibmaschine gedroschen, jeder Anschlag mit der Wucht eines Befreiungsschusses: eine künstlerische Dokumentation über die bluttriefenden Irrwege des Kontinents, im Zangengriff von Eroberern und Freibeutern, Königshäusern und Kirchenfürsten, Konzernen und Ausbeutern.

Dann ist der ganze Spuk verschwunden. In Lisa Joanas tiefschwarze Isolation unterm mexikanischen Dschungel dringt der Hall gestiefelter Schritte, die sich zielstrebig nähern.

Wolfgang Chr. Goede: Alpha Deus, S. 97f Kapitel aus dem Science Thriller, in dem eine Künstliche Intelligenz die Welt mit Gerechtigkeit und Frieden beglücken will.

Dies & Das

Tomaten-Gipfel
Alljährlich im August zelebriert das spanische Buñol seine legendäre Schlacht mit Tomaten. Der „Tomatina“ will München nicht länger nachstehen. Diesen Sommer feiert es seinen eigenen Tomaten-Gipfel. Eine Schau mit den Exoten aus der großen Tomatenfamilie mit 300 Spezies, darunter grüne, schwarze, knubbelige.
→ Kulturgipfel

400.000-Vergleich #1
In diesen Tagen hat die Zahl der Opfer der Covid-19 Pandemie weltweit 400.000 Tote überschritten. Sie nahm in der chinesischen Stadt Wuhan ihren Ausgang. Als 1937 die Japaner in China einfielen und besetzten, entspann sich eine der blutigsten Schlachten in Wuhan. Dort starben 400.000 Menschen.
→ Semana

400.000-Vergleich #2
Die 400.000-Covid-19-Todeszahl im Vergleich mit anderen Todeszahlen global und pro Jahr: Suizide 800.000, Krebs 9.600.000, Tabak 8.000.000, Alkohol 3.000.000, Hungertote: 3.909.894 (7. Juni, 20.38h MESZ).
→ WHO | → The World Counts

Wenn nicht jetzt, wann sonst …?
“What if 2020 isn’t cancelled?
What if 2020 is the year we’ve been waiting for?
A year so uncomfortable, so painful, so scary, so raw — that it finally forces us to grow.
A year that screams so loud, finally awakening us from our ignorant slumber.
A year we finally accept the need for change.
Declare change. Work for change. Become the change.
A year we finally band together, instead of pushing each other further apart.
2020 isn’t cancelled, but rather the most important year of them all.”

Leslie Dwight

→ Instagram

Mit dieser Montags-angstfrei-Kost hoffen wir Euch Kopf und Seele durchgepustet zu haben und wünschen Euch namens des gesamten News-Teams einen beschwingten Weg durch die Woche!

Quellen
Corona in Zahlen (RKI) | Gesundheitsticker | Über die Landesregierung NRW sind wir außerdem an den dpa-Nachrichten-Ticker angebunden, den wir immer als Quelle verwenden, wenn wir (dpa) schreiben.