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Sonntag, 2. August 2020 | 8 Uhr

Nicholas
Katharina

Guten Morgen ihr Lieben,

heute ist die letzte Ausgabe unserer Sommerpause. Und sie beginnt mit einem Auszug aus Nicholas' Buch vom 23. Mai, die eingeführt wird mit dem simplen Satz "nichts ist für immer". Wie diese Sommerpause, diese Krise oder unsere Seelischen Turbulenzen. In viel bunteren Worten könnt ihr das bei Nicholas lesen.

Diese Sommerpause schließt mit einem Danke an die Freiwilligen, die dieses Projekt möglich machen und einander tragen. Ab morgen wieder täglich mit einigen wenigen Nachrichten und persönlichen Einblicken in Leben und Seelen.

Wir freuen uns, wenn ihr uns weiter begleitet!

Bis dahin einen schönen Sonntag wünschen
Katharina und das ganze Team von angstfrei.news

P.S.: Wir hoffe euch gefällt das aktuelle Format während unser Redaktionsferien. Wir freuen uns sehr über Feedback hierzu. Ab dem 3. August geht es dann in gewohnter Manier, aber mit neuem Schwung weiter.

Das Leben ist;

von Nicholas

Ich bin jetzt schon ein paar Morgen in Folge aufgewacht und hab mir gewünscht, den ganzen Mist hier nur geträumt zu haben. Ich war so richtig frustriert, mit allem Zipp und Zapp. Depressive Verstimmungen, die sich bei mir seit ein paar Jahren immer über scheußliche Rückenschmerzen melden, schlechte Laune, Antriebslosigkeit und eine diffuse Angst, die mir gar nicht mal so diffuse Angst macht. 

Über ein Jahrzehnt habe ich mich durch zahllose Panikattacken hindurch mit mir selbst gestritten, habe etliche Therapiestunden auf mich verwendet und verwenden lassen, hab meinen Traumjob dadurch sausen lassen müssen und stand zwischenzeitlich knietief in einem innerstädtischen Singlewohnungs-Eremitentum, das man weniger verschwurbelt gerne auch ‘ätzende Einsamkeit’ schimpfen durfte. 

All das hab ich jetzt nicht mehr. Keine Panik mehr, keine Not nach Therapie - auch wenn’s mir und den meisten Menschen sicher nicht schaden würde gerade - ganz trostvolle Jobaussichten und eine wunderbare Freundin habe ich. Ich hab irgendwie nicht Nichts und alles ausreichend und dann auch von nichts zu viel. Ich hab noch nicht mal Covid-19 und das gibt’s gerade gefühlt an jeder Ecke. Brauch ich nicht, will ich nicht, ich könnte doch so dankbar sein. Ich will doch so gerne so dankbar sein! 

Aber, aber. Wie Nena schon wusste: Dass sowas von sowas kommt. 

Die Welt gibt sich gerade bucklig und hier und da ordentlich bedrohlich: Sei’s durch Viren, sei’s durch Existenzsorgen allerorts, sei’s durch Rechtsruck featuring saublödem Verschwörungsirrsinn, sei’s durch wirr- und sturköpfige Machthaber mit Milben-IQ, Mauerbauplänen, Weltraumspezialeinsatzkräften und Allmachtsfantasien. Es ist ein ruppiger Ort hier und jetzt, da müssen wir uns nichts vormachen. Und dieses ‘Hier’, das ist gerade immer überall.

Da, wo solch rationale Angst ihren berechtigten Raum findet, findet meine innere Furcht vor einem Rückschritt ins alte Panikzimmer festen Tritt und Boden, beschreitet mein Territorium und will da siedeln, wo ich vor Jahren MEINE Mauern hochgezogen habe. Farbenfroh lackiert und mit Sinnsprüchen an allen Seiten. Hierhin kommt die Angst nie wieder! So ist’s der Plan und der ist ambitioniert, wie er wunderbar ist. Aber lässt sich das wirklich umsetzen? 

Blöde Frage, kann ich nicht beantworten. Wenn, dann mit einer Gegenfrage:  “MUSS ich das denn überhaupt?”

MUSS ich diesen Plan umsetzen und im Zuge dessen einen steten Kampf führen oder kann ich auch eine friedliche Koexistenz anstreben, bei der ich Tür an Tür mit der Angst und der Erinnerung daran lebe, ohne sie wieder vollends in mein Leben zu lassen? Wie ungeliebte Verwandtschaft, einen lieblosen Prügelonkel, der mir in Kindertagen die Ohren langgezogen hat und sich jetzt nicht mehr traut, weil ich ihm über den Kopf gewachsen und überlegen bin. Schimpfen kann er noch und drohen, aber die Hand, die erhebt er nicht mehr, aus Furcht vor einer Echo-Schelle. 

Der Witz ist: Genau diese Frage habe ich mir schon vor drei Jahren selbst beantwortet. 2017 wurde mein erstes Buch veröffentlicht. Es geht um Angststörungen und mein Leben. Lange Jahre fühlte es sich so an, als wäre das dasselbe. 

Und weil ich mich selber einigermaßen schlau fand, als ich heute diese Zeilen las, und das nicht ganz so häufig vorkommt, möchte ich die gerne mit euch teilen. Angeführt von diesem Vorwort - das länger ist, als der Text selber - hier die letzte Seite meines Buches, gefolgt von der Erkenntnis: Das gilt noch immer. All dem Quatsch, der gerade die Welt beherrscht zum Trotze. Wenn das mal keine gute Nachricht ist!

Nichts ist immer für immer.

Ich habe mir mal die Rede eines Motivations-Coaches angeguckt. Einer von der Sorte, die ein beschissen albernes Mikrofon am Schädel tragen und gestikulieren, als gäbe es einen Wettbewerb im Bescheuert-Sein zu gewinnen. Der schwadronierte vom Guten im Schlechten, von der Schönheit der Chance, vom Gewinnen im Scheitern. Wäre er ein Strauß Blumen oder eine Flasche Schnaps zum Trost gewesen, ich hätte es ihm direkt verziehen. Hätte ihm seine Heile-Welt-Attitüde gelassen. Aber bitte, sei doch ehrlich. Auch du sitzt abends in deinem Wohnzimmer und wirst dir deiner Mängel bewusst und zweifelst. Erzähl doch keinen haltlosen Mist.

Freunde, das Leben besteht aus Tod und Steuern. Aber dazwischen, in den bunten Lücken, in diesen wunderbaren Momenten, da ist es bahnbrechend schön. Wann immer ihr zum ersten Mal küsst, wann immer ihr zum nächsten Mal herzt, wann immer ihr euch groß fühlt, obwohl ihr naturgemäß klein seid in dem Kosmos, von dem niemand weiß, ob er schrumpft oder sich ausdehnt, dann seid euch dessen bewusst. Bahnbrechend schön ist das Leben.

Und dazwischen seid stark und groß und neugierig und klebt euch ein beklopptes Mikrofon an die Backe und postuliert es euch ins Hirn: Ihr seid so normal, wie man es nur sein kann, wenn es kein Normal gibt. Jedenfalls kein universelles, keines, das gesetzmäßig oder in Stein gemeißelt ist. Wer maßt sich an, euch überzeugen zu wollen, dass etwas so nicht stimmt? Also das fände ich nicht normal. Hah! Wisst ihr, ihr seid nicht alle wunderbar. Ein paar, so befürchte ich, sind auf dieser Welt sogar ganz schlimme Arschlöcher. Aber das lässt sich ja ändern. Was uns eint ist, dass wir alle ungleich sind. Und das macht uns grenzenlos ähnlich. Sprecht, schreit, singt, schreit darüber und fasst unbändige Freude und Verzweiflung und schüttelt sie, bis sie eins werden. Macht Grau aus Macht Grau aus Schwarz und Weiß und nennt es Mitte.

Seid nicht wunderbar für die Welt, das wär des Anspruchs zu viel. Aber seid auch nicht furchtbar für euch selbst.

Seid.

Ja, richtig. Ich schließe dieses Buch mit der Erkenntnis, dass mich die Angst noch nicht verlassen hat. Dass die auslösenden Situationen gar nicht so ausnähmlich sein müssen, um mich hier und da in eine Panik zu treiben. Dass ich entweder noch daran zu arbeiten oder die Angst als Begleiter zu akzeptieren habe.

Für die bunten Lücken.
Und fürs Grau.
Für die Mitte.

Gehabt euch wohl. Bleibt gesund. Und lacht darüber. Das Leben ist;

(Aus “Ich bin mal eben wieder tot - Wie ich lernte, mit Angst zu leben” / Droemer*Knaur 2017)

Über Kontrollverlust und Zusammenhalt*

von Katharina

Ich bin der grundlegenden Überzeugung, dass es an mir ist, die Ränder der Welt zusammenzuhalten, weil sie sonst auseinander driftet. Deswegen schlage ich oft vor, eine Sache selber zu erledigen, anstatt sie abzugeben, übernehme mehr Aufgaben, als ich tragen kann und biete immer jede*m meine Hilfe an, wenn es für ihn oder sie hart auf hart kommt. Manchmal ohne dafür selber die Kapazitäten zu haben. 

Gerade zu Zeiten des Kontrollverlustes lege ich in diesem Schema noch eine Schippe drauf. Es ist doch so einfach, der Corona-Unsicherheit etwas entgegenzuhalten, was (anderen) Sicherheit schafft, wie diese Webseite zum Beispiel. Es ist doch so befriedigend, wenn man in sich zwar Stürme spürt, aber anderen Stabilität liefern kann. Die Bastion des Nutzens gegen das gefühlte eigene Unnützsein. Je lauter die Stürme, desto stärker suche ich Möglichkeiten, an anderer Stelle die Stütze zu sein, die eine Situation wieder in Kontrolle bringt. Und ein bisschen was von dieser Kontrolle färbt dann auch auf mich ab. Wie schön. 

Das heißt übrigens nicht, dass ich nicht aufrichtig gerne helfe - das liegt in meinem Wesen: Die Welt macht mehr Spaß mit anderen. Und ich möchte, dass es ihnen allen möglichst optimal geht. Nur mich beziehe ich in "die anderen" nicht ein. Ich setze andere Maßstäbe, andere Anforderungen - ich kenne ja meine Möglichkeiten und bin nicht nachsichtig, wenn ich diese nicht ausschöpfe. Der*die aufmerksame Leser*in merkt: Ich messe mit zweierlei Maß. Aber was ist schon so verkehrt daran, sich in den Dienst der anderen zu stellen?! Vorbilder aus Jahrtausenden haben das so gemacht - die waren doch auch nicht alle verkehrt. Und am Ende hat es mir doch geholfen, andere zu unterstützen. Es lenkt von meinem eigenen Chaos ab. Wie schön. 

Was aber, wenn das Konstrukt brüchig wird?

Ziemlich genau vor einer Woche hätte ich hier eine Ausgabe Angstfrei betreuen sollen - eine Notlösung, denn eigentlich war ich mit meiner Familie auf einem Familienwochenende und ich wusste, dass das zeitlich wahnsinnig knapp werden würde. Aber mein Innerstes mahnte mich, ich werde nun gebraucht und ohne mich würde es keine Lösung geben. Also schoben wir Schichten, zwei Freiwillige übernahmen andere Tage und der Sonntag war gelöst. Als ich dann im Sauerland ankam brach meine schön zusammengeschobene Notfallösung am nächsten Funkmasten zusammen: Kein. Internet. Weder W-Lan in der Wohnung noch irgendwas, das über Edge auf dem Berggipfel hinausging. Mein Sturm durchbrach die Kontrollmauern und fegte mich davon. "Oh je! Das war doch schon so viel Aufwand für alle das möglich zu machen! Wie soll das nur werden, wenn ich nicht kann?!" Mit rasendem Herzen und wachsender Angst tippte ich auf dem nächstbesten Sauerländer Berg eine Nachricht auf unsere Koordinationsplattform und fragte nach Hilfe, bereit für Kritik, Frustration und Kummer. 

Das blieb aus.

Statt dessen meldete sich der Autor der Ausgabe, die für den damals morgigen Tag geschrieben wurde und bot an, ein paar von seinen "Dies und Das" Punkten zu spenden. Eine andere Autorin, die schon vorher gesagt hatte, sie könne helfen, wenn es zu Engpässen käme, bot an die Nachrichten zu machen und würde auch mal schauen, was sie sonst so findet. Auch eine technische Vertretung fand sich im Handumdrehen und eh dass ich mich versah hatte eine andere Autorin auch noch den Tipp geschrieben. Den 360° Text hatte ich schon vorab verfasst und er ließ sich mit Hängen und Würgen an das Notfall-Team übersenden. 24 Nachrichten auf unserer Organisationsplattform, viel Verständnis und Improvisationsbereitschaft - und nicht ein kritisches Wort - später stand die Ausgabe. Einfach so. 

Natürlich war das für niemanden das optimale Szenario. Aber es ging. Und es ging gut. Weil wir einander sicher sind. Der Zusammenhalt in diesem Team ist eine Mischung aus Lust an der Sache, dem Bewusstsein, dass jede*r begrenzte Kapazitäten hat und ganz viel Nachsicht für das Menschsein des*der einzelnen. Wir verlassen uns darauf, dass keine*r in diesem Team die anderen ausnutzt und jede*r mit dem Herzen dabei ist. Und dieses Klima macht es möglich, Kontrolle abzugeben - ob man nun muss oder 'nur' mal braucht. 

Vielleicht sollte das in Zukunft viel häufiger auch (m)eine Strategie sein: Darauf vertrauen, dass es ok ist, Aufgaben abzugeben, dass mein Umfeld weiß, dass ich viel lieber helfen, Brände löschen oder präsent sein würde. So hätte ich vielleicht den Mut, nicht aus meinen Ängsten heraus schutzlos in die Bresche zu springen, sondern vorher nach meinen Möglichkeiten zu horchen. Ganz vielleicht dreht sich die Welt auch dann weiter, wenn ich mal nicht die Kontrolle habe. Es hat ja schon einmal geklappt.

*Dieser Text ist entstanden als Dank an das wundervolle Freiwilligen-Team von angstfrei.news. Die Atmosphäre der Zusammenarbeit, die ihr hier zaubert, stärkt mein Vertrauen in andere und erinnert mich immer wieder daran, dass  diese Form des Miteinanders nicht nur einen Selbstwert hat sondern auch zu ganz wunderbaren Ergebnissen führt. Danke.