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Wochenende 12. & 13. September 2020

Wolfgang
Anne
Katharina

Ein wunderbares Wochenende wünschen wir Euch! Wer diese Woche den Lesestoff nicht ganz geschafft hat, bekommt jetzt nochmal die Gelegenheit dazu. Undzwar gleich doppelt! Im Rahmen des Mental Health Month 2020 mit dem Titel #krisenkraft haben wir einige unserer Lieblingstexte eingelesen und veröffentlichen sie während des Monats online. Die drei Folgen erscheinen am Samstag, den 12.9., Sonntag den 20.9. und Samstag den 26.9.
→ Zum Podcast

Wir laden Euch ein, durch die Texte der Rubrik 360 Grad zu schmökern: Am Montag hat Wolfgang wieder einem Gespräch zwischen Mutkasper und Angstkrokodil gelauscht (dieses Mal über den D-Day), am Dienstag hat Katharina eine Geschichte über die Liebe geschrieben, Mittwochs durften wir uns mit Anne gemeinsam über Solidarität im Straßenverkehr ärgern, Donnerstag hat Katharina uns mit Musik beruhigt und wenn ihr Euch fragen sollt, wie ihr entscheidet, welchen Text ihr zu erst lest: Fangt mit Annikas Text über das Entscheiden an (das war Freitag) - hier findet ihr sicher einige gute Anregungen.

Damit wünscht ein schönes Wochenende
das Team von angstfrei.news

Übrigens:
Wir nehmen unser Motto ernst: Angst hat eine Stimme - Deine. Wir sind ein Team von Freiwilligen und schreiben über unsere Angst-, Lebens- und Alltagserfahrungen, ohne ein Richtig oder Falsch, oft mit Verstand und immer mit Herz. Wir freuen uns über dich in unserem Team. Trau dich einfach und schreib uns eine Mail an angstfrei.news@gmail.com.
Gefällt euch, was ihr lest? Was würdet ihr anders machen? Teilt es mit uns im Feedback.

360° | Die Texte diese Woche

Montag, 7. September

Mutkasper & Angstkrokodil über D-Day
von Wolfgang

Wir führen ständig innere Zwiegespräche. Das Ich, das sich entfalten will, wird vom inneren Zensor in Schach gehalten. Die Figuren Mutkasper und Angst(macher)krokodil tragen diesen inneren Disput nach außen. In der gleichnamigen Serie spielen wir typische Situationen durch. Handpuppen oder Fingerpuppen helfen, diese Kontroversen realistischer zu machen. Damit lassen sich auch Rollenspiele ausgestalten. Unsere Leben sind voll von solchen inneren Zwiespälten. Insbesondere bei Entscheidungen, unser Thema heute. Viel Spaß wie auch Erkenntnisgewinn beim Durchspielen eigener Situationen!

Mut-Kasper: Wir sind noch immer mitten in der COVID-19 Pandemie. Und ich armer Präsident muss entscheiden, ob und wie weit ich mein Land öffne. So viele Stimmen, für und wider, so hohe Risiken, meine Verantwortung für das Wohlergehen unser Bürger*innen – verflixt, was mach ich bloß, ich fühle mich so was von hilflos?

Angst-Krokodil: Na was schon, du bleibst im Mainstream. Die Infektionsgefahr ist weiterhin hoch, wie die Statistiken zeigen, also alle Schutzschilder und Palisaden hochfahren, weiterhin Quarantäne und Lockdown, fertig!

M-K: Hallo? die Wirtschaft geht doch kaputt daran! Der Industrieverband ruft mich dreimal am Tage an und drängt auf Rückkehr zur Normalität. Den Menschen gehen allmählich ihre Ersparnisse aus, ohne Arbeit oder in Kurzarbeit. Die Gewerkschaften sitzen mir im Nacken. Und überhaupt, da kriegt doch jeder einen Koller, wenn er weiterhin zu Hause bleiben muss, nach Wochen der Isolation. Eine ganze Nation, fix und fertig für die Psychiatrie!

A-K: Die Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Welche ist dir lieber?

M-K: Das ist doch krasses Schwarz-Weiß-Denken. Das Lichtspektrum hat viel mehr Farben als diese beiden.

A-K: Wie immer wirst du auch bei Corona viel zu intellektuell und verkünstelst dich in Spitzfindigkeiten. Welche Farbe wäre dem Herrn denn recht, ein schrilles Pink oder smaragdgrün?

M-K: Ein mattes Zitronengelb, wenn ich ehrlich bin. So verwaschen fühle ich mich bei dieser historischen Entscheidung.

A-K: Du bist mir der richtige Regierungschef. Aber delegiere die Entscheidung doch einfach an deine Minister. So läuft der Hase doch. Dann bist du fein aus dem Schneider.

M-K: Den Eimer wie in einer Feuerlöschkette einfach weiterreichen? Du Opportunist, Feigling, Drückeberger. Nein, so geht’s nicht weiter. Hier muss was geschehen. Schnell. Ach was, SOFORT! Wir können nicht mehr atmen.

A-K: Du bist doch auch nur so eine arme Sau von Wirtschaftslobbyist. Denk dran, dass bei einer neuen Welle die Hinterbliebenen der Verstorbenen dich für eine Öffnung verklagen können. Willst du nicht für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt werden? Deine historische Würdigung als großer Mann, dein Denkmal wackelt.

M-K: „We can’t breathe“. In Quarantäne weiterzumachen wäre, als ob ich unser Land und seine Menschen erdrosselte, physisch wie auch psychisch, ich mit meinen eigenen Händen am Hals der Menschen. Immer fester zudrücken, sie röcheln schon, noch eine Minute mehr und mausetot sind sie.

A-K: Du schaust zu viel Nachrichten, mein Guter. Die „I can’t breathe“-Bewegung ist auch schon wieder von gestern. Renn nicht wie ein Lemming jedem Scheiß-Trend hinterer.

M-K: Quatsch. Das kommt doch zum ganzen Übel noch hinzu, dass die Ärmeren, Einwanderer, Geflüchteten, Asylanten sind doch noch schlimmer dran. Die sitzen nicht wie wir im sicheren Homeoffice, sondern sind die an der Virus-Front. Wir Etablierten dagegen im sicheren Nest.

A-K: Deine soziale Ader, ehrenwert. Aber die Leute bringen dir keine einzige Stimme. Vergiss es. Aber wenn du die als Hindernisse im Kampf gegen die Seuche benennst, dann schon. Du weißt schon, der rechte Rand. Der will doch auch eingebunden werden, bevor da wieder so ein neuer Führer kommt. Denk doch darüber mal nach.

M-K: Miststück, du Viech. Du bist ein moralisches Sumpftier. Du frisst bestimmt deine eigene Oma. Auch vor deinen Kindern schreckst du nicht zurück, wenn dir deren Verzehr Gewinn verheißt. Stimmt’s?

A-K: Typisch Entscheider. Wenn sie in der Sackgasse stecken und auf keinen guten Rat hören wollen, werden sie persönlich und verletzend. Schäm dich, selbst Sumpfratte!

M-K: Ja, ja, du und die Angst. Wieviel Verständnis muss ich dir und allen Querrednern denn noch entgegenbringen? Das bringt mich um!

A-K: Wenn das alles so schlimm ist, dann überlass doch mir die Entscheidung. Alles beim Alten zu belassen ist immer das Unriskanteste.

M-K: Eben nicht, du trägstes aller Krokodile. Reglos im Morast liegen, das könnte dir so passen. Die Tür in die Zukunft war immer die von mutigen Entscheidungen, bei den Menschen wie auch bei der Natur. Aber Geist, Wissenschaft und Philosophie – nichts liegt deinem eingerosteten Krokodilhirn ferner. Verschwinde endlich aus meinem Gesichts- und Gedankenkreis, du, du … Angst-Kanaille!

A-K: Immer gerne zu Diensten, dir und euch Mut-Willigen die Flausen aus den Köpfen zu vertreiben. Mit euch als Chauffeure der Weltgeschichte hätten wir ja schon dreimal den Planeten im Abgrund versenkt. Angst vor diesem berstenden Mut ist die beste Lebensversicherung, gibt es nirgendwo zu kaufen, dazu kostenlos, von mir!

M-K: Und an alle, die sich wegen dir in ihre Angstlöcher verkriechen, gar nichts mehr entscheiden, alles für sich entscheiden lassen, denkst du überhaupt auch an die? Nach dem Motto: Denke oder du wirst gedacht. Entscheide oder du wirst entschieden. Vielleicht manchmal einfacher, eventuell sogar besser. Aber von wessen Interessen? Wer zieht die Fäden?

A-K: In der Demokratie die Mehrheit.

M-K: Eben. Und die hat mich gewählt, um für ihr Wohl zu sorgen. Die Krise drängt, für eine Volksabstimmung ist keine Zeit. Und so entscheide ich, morgen auf der Pressekonferenz anzukündigen, dass wir mit einer Woche Vorlauf in acht Tagen öffnen. Probeweise auf zwei Wochen. Und uns danach je nach Verlauf Korrekturen vorbehalten.

A-K: Die Opposition und die Gesundheitspartei werden dich genüsslich zerrreißen.

M-K: Keine Entscheidung ist oft die übelste Entscheidung, sehr geehrter Herr Zensor. Die Bürgerinnen und Bürger müssen verstehen, und das werde ich ausführlich ansprechen, dass nicht nur der Staat, sondern sie auch selbst verantwortlich sind für sich und dass sie sich selbst schützen müssen, AHM: Abstand, Hygiene, Mundschutz. Wer das nicht begreift, sollte vielleicht auch nicht wählen dürfen – so einfach ist die Rechnung!

A-K: Ui, das wird der politische Knüller, wenn du das morgen rauslässt!

M-K: Nein, das nur unter uns katholischen Pfarrerstöchtern. Aber entscheiden lernen und wollen, das ist der Kern von Demokratie, von ganz oben bis ganz unten. Bei aller Not und Zwängen, da köcheln wir alle im gleichen Topf.

Dienstag, 8. September 

Es war einmal
von Katharina

In meinem Treppenhaus stand heute ein ganzer Haufen Kram mit einem lieblosen “zu verschenken!”-Zettel. Darunter auch eine ganz wunderbare Schmuckschachtel. Dunkel, aus edlem Holz beherbergte sie allerhand Strassscheußlichkeiten und angelaufene Ohrstecker. Aber unter diesem Kuriositäten-Sammelsurium lag still schweigsam ein zarter goldener Ring, der mir passte, wie als hätte ich nie einen anderen getragen. Aus Gold und wunderschön. Mit einem Hang zur Feierlichkeit zwischen Strass und Straße steckte ich ihn mir an den Finger und versprach mir selbst die Treue. Dann zog ich ihn einer Intuition folgend ab und betrachtete seinen Innenseite mit forschendem Blick. Und tatsächlich: eine kaum mehr leserliche Inschrift zeigte sich im Licht der Neonlampe des Hausflurs. Mir wurde mulmig. Was, wenn er für die Treue anderer stand und seine Geschichte auf mich abfärbt?

--- Der Ring ---

Sie drehte den kleinen goldenen Reif gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Er hatte einen schönen, warmen Goldton. Wenn man ganz genau hinsah, nahm man die sanfte Beule wahr, die die Vollkommenheit des Kreises störte. Oder machte sie ihn gerade zu etwas ganz Besonderem? 

Sie war entstanden, nachdem sie das Schmuckstück hatte kürzen lassen. Als es zu groß geworden war und hilflos an ihrem Finger hin und herrutschte, nicht mehr ganz sicher, ob es am richtigen Platz war. Sie hatte es oft fast verloren: Mit beiden Händen beim Abwasch landete er um ein Haar im Ausguss, als sie sich hektisch die Haare geflochten hatte auf dem Weg zu einem Termin, war er vor ihr die Treppe hinuntergeeilt, eines Nachts rutschte er unbemerkt von ihrer Hand. Hektisch zerwühlte sie am nächsten Morgen das noch nachtwarme Bett und verpasste um ein Haar den ersten Termin - fast, nur fast. Dass der Ring wieder passte, bezahlte sie mit einem feinen Riss, einer senkrechten Linie, die ihn seit der Korrektur zeichnete. Sie dachte sich nichts dabei - aber es war diese Lücke, die langsam aber stetig dazu führte, dass der Ring den Alltag nicht mehr unbeschadet überstand. Wann immer sie aneckte verformte er sich unmerklich und wurde Opfer und Zeuge von all dem Verschleiß, den ein Leben so mit sich bringt.

Sie hatte den Ring so lange getragen, dass sich an ihrem Finger eine kleine Beule abzeichnete, auch dann, wenn sie ihn ablegte. Er ging über in die Breite des Fingers, sie spürte schon lange nicht mehr, welche Teile ihrer Hand er tatsächlich berührte. Nur, wenn sie ihn an der anderen Hand oder nur am Nachbarfinger probierte wurde sie sich seiner Form bewusst, seines Gefühls, seiner fragilen Stabilität und seines Platzes an ihrem Finger. Sie hatte ihm den Platz gerne gegeben. Zunächst war es komisch, wie der neue Name und der neue Status. Wie fasziniert sie war, wann immer sie ihre Hand betrachtete, dass dort dieses warme Gold schimmerte. Wie ein Versprechen, das sie halten sollte und sie halten wollte. Er war etwas Besonderes. Und dann, Stück für Stück, lebte er sich ein, bekam Kratzer, wurde selbstverständlich. Und nur, wenn er weg war, wurde sie sich seiner Spuren bewusst. Die Kerbe in ihrem Finger. Die weiße Linie darunter, die nie die Sonne sah.

Hätte sie ihn häufiger ablegen sollen, damit die Haut nachbräunt? Die Kerbe nicht entsteht? Das neue Gefühl bleibt? Ihn nie kürzen sollen, sich selber zurückentwickeln, damit er wieder passt? Ihn ablegen, wenn die Arbeit zu hart wurde, damit er keine Schäden davon getragen hätte? Aber warum. Das war es doch gerade, was sie sich versprochen hatten, als sie den Ring das erste Mal für immer trug. Er sollte versprechen, versichern und verbinden. Es gab Zeiten, da war er es, der sie zusammen hielt. Und Zeiten, da hätte er es um ein Haar nicht geschafft. Aber deswegen, die Kratzer vermeiden? Es waren doch Gebrauchsspuren. Keine Verbrauchsspuren. Oder?

Viele Kratzer waren mit der Zeit weich geworden. Das Datum war kaum mehr zu lesen, weil es im jetzt der letzten Jahre verschwommen ist. Es hat sich mit dem Ring verbunden, ist in ihm verschwommen, weil all die Zeit so viel mehr in ihm steckt, als dieser eine Tag. Ein ganzes Leben. Zwei ganze Leben. Ein ganzes Leben. “Vielleicht haben wir 40 Jahre zusammen, aber eines Tages werde ich gegangen sein. Eines Tages wirst du gegangen sein.” Das Lied, das sie seit so langer Zeit begleitete, hatte sie überholt. Sie hielt die Pergamenthand fest, die so normal geworden war, dass ihr der Ring so lange nicht mehr aufgefallen war, der sie zierte. Ebenfalls voller Kerben. Ebenfalls matt. Ebenfalls noch da. Und dann wieder nicht.

Sie streifte ihren Ring wieder an seinen Platz. Und kurz erinnerte sie sich daran, wie vorsichtig er ihr das erste Mal angesteckt wurde. Wie geliebt sie sich gefühlt hatte. Wie wenig selbstverständlich. Wie fragil. Und doch war er ein Leben lang geblieben. 

Mittwoch, 9. September

Auf den Straßen dieser Stadt
von Anne

Ich wohne in der südlichen Kölner Altstadt. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe um meinen Sohn zur Kita zu bringen, dann kommen wir mindestens an drei Obdachlosen vorbei, die von dem morgendlichen Lärm und den Passanten, die auf dem Weg zur Arbeit sind, geweckt werden. Mindestens ein Autofahrer nimmt uns die Vorfahrt, weil er auf der Suche nach einer Parklücke nicht auf Fußgänger achtet. Mindestens ein Fahrradfahrer überholt uns auf eine sehr rasante, brisante Art und Weise und mindestens ein Fußgänger oder Radfahrer geht/fährt bei Rot über die Ampel, weil es ihm egal ist, dass da auch ein Haufen Schul- und Kindergartenkinder steht, denen er eventuell ein Vorbild sein könnte. Mein Sohn schaut ihnen jedes mal etwas mitleidig hinterher, und wundert sich, dass so viele Menschen die Farben noch nicht können. 

Und dann ist in einer Woche hier Kommunalwahl und an jeder Laterne hängt mindestens ein Wahlplakat, viele davon hängen inzwischen nur noch in Teilen, oder sind, nennen wir es mal, weiter gestaltet worden. Auf den Plakaten ist viel zu lesen von „Solidarität im Veedel“ (*Veedel ist das Kölsch Wort für Wohnviertel*) oder was der oder die Kandidat*in, oder die Partei alles für uns Bürger*innen tun möchten, tun werden. 

Und ich frage mich, wie passt das, was ich morgendlich erlebe und das was auf den Plakaten steht zusammen. Die Stadt und ihre Bürger*innen wird sich nicht von jetzt auf gleich verändern, nur wenn genug Menschen am Sonntag hier oder dort ihr Kreuzchen machen. Natürlich ist es wichtig zu wählen und sich im Vorfeld Gedanken zu machen, wem man seine Stimme gibt. Das ist klar. Aber fängt Veränderung wirklich an dieser Stelle an? 

Diese Gedanken begleiten mich jeden Morgen, jedes mal, wenn ich durch die Straßen meiner Stadt laufe. Und manchmal verzweifle ich darüber. Manchmal verzweifle ich, weil auch meine Tochter mir diese Fragen, die ich mir selber schon zu genüge stelle, stellt. Und ich kann sie nicht beantworten. 

Aber dann kommt mir manchmal der Gedanke, dass die Veränderung im kleinen Anfängt, dass sie bei uns selbst anfängt. Und so wie der Fußgänger oder Radfahrer, der die Ampel bei Rot überquert hat ein weniger gutes Vorbild ist, so kann ich, so können wir gute Vorbilder sein. Indem wir nicht nur über das Sprechen, was uns antreibt, und ärgert, sondern in dem wir handeln, im Kleinen. Und Ich bemerke dass jede rücksichtsvolle Geste mindestens mit einem Lächeln entlohnt wird, oder mit einem kurzen netten Gespräch. Und dann beantwortet meine Tochter ihre Fragen schon selbst, mit der einfachen Erkenntnis, dass die Welt wohl nicht immer nur gut oder schlecht ist. 

Donnerstag, 10. September

Die Macht der Musik
von Katharina

Vor genau einer Woche war es so weit: Ich habe das erste Mal seit über einem halben Jahr wieder mit Menschen gesungen. Natürlich auch mit Abstand und draußen - aber vor allem MIT MENSCHEN! Ich bin fast nach Hause geschwebt, so erfüllt war ich von der Harmonie, den Klängen von Mozarts Requiem und dem Gefühl, all diesen wunderbaren Menschen meines Berliner Chores Cantus Domus zu begegnen. Unser Chorleiter ist Mitautor des Berliner Hygienekonzepts für Musikschaffende, wir hatten zwei CO2-Messgeräte in der weitläufigen Kirche, in der wir sangen und jede*r saß auf einem akkurat distanzierten Kreppkreuz und trug nur dann keine Maske, wenn er oder sie am Platz saß. Ich fühlte mich sicher. Im Klang, in der Gruppe und mit dem Hygienekonzept. Für alle, denen es in einer Gesangsgruppe noch nicht so wohl ist, übertragen wir die Proben weiterhin live per Video.

Aber mir ist dieses Format nichts. In einen kleinen Bildschirm schauen, ganz alleine in den Harmonien stochern und bei jedem Ton daran erinnert werden, dass man getrennt ist. Mich hat diese Phase wahnsinnig traurig gemacht, angestrengt und mir mehr als viele andere Erlebnisse der Coronazeit meine eigene Einsamkeit vor Augen geführt. Wir sind doch irgendwie wir selbst durch die den Alltag den wir leben, die Kontakte die wir pflegen und die Orte, zwischen denen wir uns bewegen. Daraus entsteht das Konzept Zuhause, sagen Soziologen. Und so gesehen, fehlte mir über lange Zeit dieser Ort der Zugehörigkeit, der Sicherheit gibt, dass alles irgendwie ok ist. 

Und deswegen konnte ich mich nicht bewegen. Ich erinnere mich, dass ich spontan in Tränen ausbrach, als die Nachricht kam, das laufende Projekt sei abgesagt. Statt dessen standen Fragezeichen im Raum. Und anders als es meine Natur ist, blieb ich still, anstatt mich zu engagieren, eine Lösung für den Chor zu finden, als wir nicht mehr proben durften. Ich igelte mich ein. Lauschte einigen digitalen Proben, nahm an einem Workshop teil, zog mich aber immer mehr zurück. Darüber habe ich ein Gedicht für meine Mitsingenden geschrieben - es fühlt sich jetzt an wie Vergangenheit. Und das ist gut so.

Quarantäne-Poesie

Die erste Zeile – kein Betreff
Schrieb ich vor Wochen runter.
Heut seh‘ ich unsren Cantus-Chef
In Badehosen munter - - - 
Als Dirigent auf Instagram – wir ham es weit gebracht!
Und doch ändert‘s nur minimal
was Cantusfreiheit mir macht.
Drum lad ich ein in meinen Geist
der leer und turbulent
Worte häuft, das Herz verreißt – 
grad‘ so, wie ihr mich kennt.
Mit Tränen flogen erste Zeilen
Kurz nach dem es hieß: 
Kein Cantus für so manche Weilen – 
Das machte mit mir Dies: 

Vom Cantusfrei das Herz gebrochen
(Es schlug doch grad so schwach.)
Hab mich so gern bei Euch verkrochen
Noch immer hallen Klänge nach:
von Harmonien und Zukunftsrunden
von Witzeleien und Perlebier
von ganz besondr‘en Probestunden
Im Grunde seid ihr immer hier.

Was sagt uns das Kalender-Wissen?
Wir seh’n das Gute, wenn es fehlt!
Jetzt wo wir Proben missen müssen – 
Hätten wir uns gern verzählt
Hätten wir uns mehr gefreut
Beim letzten Tuttiklang! 
Hätten wir uns nicht gescheut
Beim letzten Tonanfang!
Hätten wir noch mehr gegeben!
Hätten wir der Quint gefrönt
Lägen wir mit Lust daneben!
Wären wir mit uns versöhnt.
Weil wir wüssten: nächstes Mal
Wenn alle um uns singen
Bin ich wieder nicht egal
Weil wir zusammen klingen.

Mit Ende dieser Sehnsucht – 
es war so Mitte März – 
begann Realitätsflucht
mit angebroch’nem Herz.
Und siehe da: wo ich noch litt 
Fingen an’dre an zu denken!
Und wie so oft, macht jeder mit
Dann kann man sich beschenken: 
Mit Proben digitaler Art:
Das ausgefeilte Top-Konzept
Geht lichtgeschwind sofort an‘ Start:
Kein Fehler wird ihr lang verschleppt –
Die Lernkurve bleibt steil! 
Von „flatten“ ist hier keine Spur – 
Und das Ergebnis: Leider geil.
ich fehl mir selber nur.

Ich seh‘ Euch zu als Gast am Zaun
und hör den Klang, den ich vermisse
such meinen Platz im neuen Raum
in dem ich meine Fahnen hisse:
Mann und Kind und Quarantäne 
so weit weg im Münsterland – 
wie gerne ich nach Hause käme
ein Ort so fern wie unbekannt.
Doch fühle ich mich aufgehoben
wenn in mir die Lieder toben
die mich mit Euch so fest verbinden,
dass sie niemals nie verschwinden. 

Drum Dank dem Vorstand, Ralf und allen
die den Laden feste halten
dank denen Cantus-Lieder schallen
in neuen Digital-Gestalten.
Und dank Euch allen, die sich zeigen
ist ein Teil der Welt im Takt.
Und eines wird für immer bleiben:
Was ihr für uns geleistet habt.

Freitag, 11. September

Wer die Wahl hat… (Teil II)
von Annika

Ich hasse Entscheidungen. Das fängt schon vor der Speisekarte im Restaurant an und zieht sich dann über die (viel zu große!) Auswahl der verschiedenen Serien auf einem Streamingportal hin zu lebensverändernden Entscheidungen. 

Ich hasse Entscheidungen. 

Obwohl - eigentlich stimmt das so gar nicht. Ich hasse sie nicht. Aber sie jagen mir eine Heidenangst ein. Angst davor, mit den Konsequenzen meiner Entscheidungen nicht leben zu können. Angst davor, sie irgendwann schmerzhaft zu bereuen. Angst davor, zu spät zu merken, dass eine andere Entscheidung besser für mich und mein Leben gewesen wäre.

Eine sehr liebe Freundin von mir sagte mir zu Beginn der Corona-Pandemie und mitten in einem Entscheidungsprozess, dass es vielleicht einfach gerade nicht der richtige Moment wäre, um einen Entschluss zu treffen. Dass es deshalb so schwer wäre, weil diese Zeiten sich sowieso schon so unsicher und verrückt anfühlen würden. In dieser Sache hatte sie Recht. Aber so gern ich das Problem auf Corona schieben würde - auch schon lange vor der Pandemie habe ich Entscheidungen am Liebsten so lange wie möglich vor mir hergeschoben.

Dummerweise stehe ich allerdings gerade vor einer Entscheidung, die sich nicht aufschieben lässt und leider geht es dabei auch nicht nur um das richtige Essen im Restaurant. Es geht um ein Angebot, das mein Leben verändern kann und ich bin mir nicht sicher, ob es sich dadurch zum Positiven oder zum Negativen wenden wird. Klingt theatralisch? Stimmt. Ist aber leider mein erster Gedanke dazu. Und dieser sorgt dafür, dass mir die Wahl nicht unbedingt leichter fällt.

Es hilft nichts. Treffen muss ich sie trotzdem.

Also versuche ich abzuwägen, Risiken und Nutzen abzuschätzen und irgendwo dazwischen auf mein Bauchgefühl zu hören. Letzteres funktioniert nicht wirklich gut. Mein Bauch ruft zwar ziemlich laut, aber ich habe Angst, auf ihn zu hören. Angst davor, dass mir das, was mein Bauch mir rät, langfristig nicht gut tut. Ein „richtig“ oder „falsch“ gibt es - wie so oft im Leben - sowieso nicht. Aber momentan kann ich noch nicht einmal einschätzen, was für mich persönlich zumindest „richtiger“ wäre.

Ich wünsche mir eine Kristallkugel, mit der ich einen Blick in die Zukunft werfen kann. Leider gibt es diese aber nur im Märchen und in Fantasiegeschichten und ich bin nun einmal weit entfernt davon, eine Fee oder Zauberin zu sein. Deshalb probiere ich es auf die rationale Art: Ich mache mir bewusst, dass es bei meiner Entscheidung nicht um Leben oder Tod geht. Ich versuche, etwas Distanz zu erreichen, um die Situation besser einschätzen zu können. Ich erstelle eine Pro- und Kontra-Liste. Ich grübele die halbe Nacht und wache morgens mit denselben unsicheren Gedanken auf, mit denen ich eingeschlafen bin.

Egal, was ich versuche. Nichts scheint mir zu helfen.

Also greife ich zu Plan B: Ich binde mein Umfeld ein, mit dem ich nun jedes Detail meines Dilemmas auseinander nehme. Ich äußere meine Hoffnungen, meine Ängste, meine Bedenken. Das kostet mich ein wahnsinniges Maß an Kraft und Überwindung, denn dafür muss ich mir bereits selbst eingestanden haben, dass ich allein zu keiner Lösung kommen werde. Aber während ich so über meine Gefühle und Gedanken spreche, wird mir Stück für Stück und Gespräch für Gespräch bewusster, welche mögliche Entscheidung sich für mich besser anfühlt. 

Und so entscheide ich mich dann auch. Ich schlage eine möglicherweise lebensverändernde Chance aus. Zwar bin ich immer noch nicht überzeugt davon, dass ich diesen Entschluss nie bereuen werde (ziemlich sicher werde ich das an einem gewissen Punkt einmal tun). Aber dieses Mal werde ich auf mein Bauchgefühl hören. Weil es immer noch kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Aber weil mein Entschluss sich zumindest „richtiger“ anfühlt.

Vielleicht werde ich diesen Text in ein paar Monaten oder Jahren noch einmal lesen. Vielleicht habe ich bis dahin auch vergessen, wieso ich diesen Entschluss getroffen habe und bereue meine Entscheidung bereits. Aber dann werde ich lesen, dass ich mir die Wahl nicht leicht gemacht habe. Dass ich Nerven, Tränen und Kraft investiert habe, um zu dieser Entscheidung zu gelangen. Dass ich nicht in die Zukunft sehen und bereits jetzt erkennen kann, was mich weiterbringt. Dass ich auf meinen Bauch gehört habe. Und vielleicht bin ich dann etwas versöhnter mit mir und meiner Entscheidung. Vielleicht auch nicht. Vielleicht bin ich aber auch froh, mich so entschieden zu haben, weil dadurch eine andere Tür geöffnet wurde. Das sind sehr viele „vielleichts“, ich weiß. Mal wieder fehlt mir die Kristallkugel. Was die Zukunft für mich bereit hält? Wer weiß das schon.

Und damit ein schönes Wochenende!

Gerne hören wir über das Feedbackformular von euch. Ihr wollt unsere Arbeit unterstützen: Spenden und Fördermitgliedschaft bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V.

Quellen
Corona in Zahlen (RKI) | Gesundheitsticker | Über die Landesregierung NRW sind wir außerdem an den dpa-Nachrichten-Ticker angebunden, den wir immer als Quelle verwenden, wenn wir (dpa) schreiben.