Wochenende, 26. | 27. September 2020
Hallo ihr Lieben!
Das ist ein ganz besonderes wochenende! Warum? Das erfahrt ihr im Laufe der Woche auf unseren sozialen Netzwerken und in Häppchen hier auf angstfrei.news.
Im Rahmen des Mental Health Month 2020 mit dem Titel #krisenkraft haben wir einige unserer Lieblingstexte eingelesen und veröffentlichen sie während des Monats online. Die drei Folgen sind am Samstag, den 12.9., Sonntag den 20.9. und Samstag den 26.9. online gegangen. Hört doch mal rein, es lohnt sich!
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Aber jetzt geht es erstmal zurück in die Woche, die wie gewohnt mit Wolfgang gestartet ist. Lest von Anne, die uns erst zur ganzen Vielfalt unserer Persönlichkeit einlud und dann über die Muster ihres Lebens schrieb und schlussendlich von Katharinas Detailliebe und der anhaltenden Suche nach dem Zuhause.
Habt ein erholsames Wochenende!
Euer Team von angstfrei.news
Übrigens: Wir nehmen unser Motto ernst: Angst hat eine Stimme - Deine. Wir sind ein Team von Freiwilligen und schreiben über unsere Angst-, Lebens- und Alltagserfahrungen, ohne ein Richtig oder Falsch, oft mit Verstand und immer mit Herz. Wir freuen uns über dich in unserem Team. Trau dich einfach und schreib uns eine Mail an angstfrei.news@gmail.com.
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Die Woche von Mensch zu Mensch
Montag, 21. September 2020
Wir Kletterkönige
von Wolfgang
Morgens nach dem Aufstehen einen Kaffee oder Tee machen und dann sofort eine Geschichte schreiben. Ohne viel nachzudenken, einfach flüssig, in einem Rutsch. Das empfehlen Profi-Schreiber, darunter Filmemacherin und Kreatives-Schreiben-Lehrerin Doris Dörrie. Schreiben ist Labsal für die Seele. Therapie und Entspannung. Zukunftsimpuls. Besonders im Stress, bei Ängsten, während der Corona-Erschütterung mit ihren weiterhin großen Fragezeichen für die Zukunft. Jede Beobachtung, jeder Gegenstand, selbst Einkaufszettel sind Stoff für Geschichten. Ein fruchtbarer Humus sind Vergangenheit und Kindheit. Hier meine Baumkletterei Erinnerungen.
Ich wuchs in einer Gartenstadt auf. Eigenheime mit üppigen Gartenflächen rundherum, darauf viele Bäume. Für uns Kinder war jeder Baum eine Herausforderung. Die begann am Stamm. Wie kam man daran hoch bis zu den rettenden untersten Zweigen der Krone? Zum Beispiel mit einer Räuberleiter, Handflächen der Mitstreiter, die in Brusthöhe eine Stufe zum Hinaufsteigen formten. Beliebt waren die langen Kerle unter uns, auf deren Schultern stehend wir selbst höhere Stämme spielend überwanden.
Einige pfiffen auf so viel Umstand. Sie besaßen das Talent von Affen, die den Baumstamm mit Armen und Beinen einfach umschlangen und ratzfatz hochrobbten. Solche geborenen Kletterkünstler genossen unser aller Bewunderung.
Waren wir erst mal im unteren Geäst der Krone, war kein Halten mehr. Es gab nur noch einen Weg, den in die Höhe. Unsere Kletterbäume waren die ortsüblichen Sorten wie Eichen, Kastanien, Apfel-, Birnen-, Kirschbäume. Die hatten meistens so viele Äste und Zweige, dass man in Reichweite der Arme immer einen fand, an dem man sich weiter hochziehen und dann darauf abstützen konnte.
Durchlebte Cliffhanger am Baum, Beinah-Abstürze, lehrten uns Griff- und Trittsicherheit. Die Festigkeit bzw. den Grad von Morschheit des Holzes vorher stets zu überprüfen. Weiteres Risiko: Manchmal wiesen arg zerzauste Kronen längere Strecken ohne abzweigende Nebenäste auf. Dann musste man sich zum Himmel strecken und wie unten am Stamm ein Stück hochrobben. Das war fast alpin.
Irgendwie – erinnere ich mich jetzt beim Schreiben, mit kribbeliger Lustangst – waren wir kleinen Baumstürmer alle im Kletter- und Höhenrausch. Es war ein Riesending, diese Bäume zu bezwingen. Baumalpinisten, die den Bergkletterern im Ausstoß von Endorphinen vermutlich wenig nachstanden. Diese Momente des Erkletterns und Bewältigen eines Baumes waren erhabene. Manchmal nur, um ein paar Äpfel aus den Wipfeln zu klauben, meist: Just for Fun.
Mit Schrecken entsinne ich mich der Baumklettereien, bei denen wir uns verklettert hatten. Mit dem Kopf stets nach oben gerichtet verloren wir das Gefühl für die Höhe. Oben angelangt, Glückstaumel, dann: Oh Schreck, der Blick in die Tiefe. Aus zehn Meter, fünfzehn Metern – huch, wie klein die Welt plötzlich schien. Und, wie beklemmend, aus luftiger Baumwipfelperspektive wurden plötzlich all die schwierigen Stellen für den Abstieg sichtbar.
Da taucht vor meinen Augen das Bild eines klamm-nebeligen Herbsttags auf. Wir Freunde hatten für den Nachmittag einen Streifzug durch Wiesen und Felder verabredet, die an unserer Gartenstadt angrenzten. Durch hohes Gras, über Zäune und Knicks, durch weidendes Vieh. Darunter auch Stiere, die plötzlich auf uns losgaloppierten, so dass wir die Beine in die Hände nehmen und über den nächsten Zaun hechten mussten. Das war fast wie Stierkampf.
Und dann stießen wir auf diese mächtige Kastanie in der Mitte von Nirgendwo. Unser gemeinsamer Reflex: Die ist unsere. Allein der Aufstieg am Stamm bis zum Beginn der ausladenden Krone gestaltete sich ungeheuer schwierig. Mit Räuberleitern, Schultern und zu Seilen umfunktionierten Anoraks schafften wir diese Einstiegshürde. Dann „easy going“, Endorphin-selig, mit stierem Blick in die Höhe. Oben blankes Entsetzen. Wie komme ich hier je wieder runter?
Der Ast, auf dem ich gelandet war, hatte eine starke Spreizung nach außen, weit weg vom Hauptstamm. Unter mir, ganz hässlich, der Boden. In 20 Metern Tiefe.
Es war schiere Angst, die ich damals erlebte. Die Freunde waren weiter unten in sichererem Geäst geblieben. Was für ein Idiot ich war! Ich erinnere mich, wie wir überlegten, ob sie nicht absteigen sollten, um die Feuerwehr zu benachrichtigen. Aber es war schon späterer Nachmittag und bald dämmerte es. Ich hier oben in der jetzt spürbar werdenden Kälte auf dem nebelfeuchten Ast, bald in rabenschwarzer Dunkelheit?
Ich überlegte kurz zu springen. Auf dem Gelände unserer Grundschule hatten wir noch alte Kriegsbunker stehen gehabt, ca. fünf Meter hoch, von denen ich als kleiner Knirps vor einer Traube schaulustiger Mitschüler heruntergesprungen war. Nein, das war echt zu hoch, sodass nur eine Option blieb. Der vorsichtige Rückzug über den freischwebenden Ast, fast ohne Zweige, zurück zum ca. drei Meter entfernten Hauptstamm.
Ich weiß nicht, wie, aber es gelang. Die Freunde streckten ihre Hände empor und formten eine Art Räuberleiter. Das half beim Abstieg über diesen vermaledeiten Ast. Irgendwann standen wir alle wieder sicher auf festem Boden, schnell zurück in die Zivilisation strebend, im Wettlauf mit der einbrechenden Dunkelheit und einem Termin, so zwingend wie damals der sonntägliche Kirchgang. Bei aller Freiheit, die unsere Eltern uns gaben, für die ich ihnen ewig dankbar sein werde: Um Punkt sechs Uhr abends mussten wir zuhause sein. Das gemeinsame Abendessen war heiliges Familienritual.
Dieser angstbesetzte Aufstieg hat uns nicht davon abgehalten, weitere Bäume zu besteigen, doch mit viel mehr Augenmaß. Die freie Natur war unser aller Abenteuerspielplatz. Heutige Mütter einschließlich meiner eigenen Töchter würden ihre Hände übern Kopf zusammenschlagen. Für uns ganz normal, auch keine Mutprobe, und auch unsere Eltern fanden unsere Streifzüge ziemlich normal.
Wieviel Sicherheit und Unabhängigkeit wir für unsere späteren Leben gewannen! Gerade auch für das Bewältigen von Angst. Streben nach Freiheit und deren Verteidigung. Sowie auch die Erkenntnis: Es gibt immer einen Ausweg, du musst ihn nur suchen.
Autoren-Kommentar: So, das war ziemlich flüssig, mit ein paar Unterbrechungen von außen. Schreibzeit für ca. 6500 Zeichen ca. eine Stunde. Für die Veröffentlichung dreimal durchredigiert, dabei gestrichen, Sätze verkürzt, bildhaftere Worte und Formulierungen gesucht. Der Ursprungstext blieb dabei erhalten, wurde quasi nur mit Sandpapier durchgeschliffen. Lesbare Texte müssen ein Bild im Kopf ergeben, müssen sich von Bild zu Bild fortschreiben, sich somit zu einem kleinen Film fügen.
„Es gibt immer eine Lösung“, sagt übrigens auch unser Gärtner Isaias, wenn wir uns im Finca-Leben mit himmels-türmenden Problemen konfrontiert sehen. Seine Bäume sind die Herausforderungen eines 48 Jahre langen Campesino-Lebens in Kolumbien. Im Vergleich damit werden wir in Deutschland durch unsere Leben gepampert. Ich habe in meiner Geschichte am Ende die Botschaft noch mal herausgeschrieben. Eleganter ist, sie in den Text so einzuweben, sie von einem Akteur zitieren zu lassen, so dass sie implizit mit dem Geschriebenen zu einer Einheit verschmilzt. Ich fixiere im Folgenden die Botschaft noch einmal, weil sie explizit für manche vielleicht auch eine Anleitung sein könnte.
Vor Jahren veröffentlichte der britische „New Scientist“ einen Wissenschaftsbericht über die zunehmenden Allergien von Menschen. Einzelheiten habe ich vergessen, aber das Take-home-Bild begleitet mich. Früher durften Kinder im Dreck spielen (s. auch mein Von Mensch zu Mensch 14. September 2020). Keiner intervenierte, wenn sie sich ein Stück Dreck in den Mund steckten. Das trainierte die Abwehrsysteme ihrer Körper. Heute wachsen viele Kinder in Europa geradezu steril auf, mit der Folge, dass sie auf die zunehmenden Fremdkörper in unserer Umwelt mit übersteigerter Abwehr, allergisch reagieren. Die modernen Medien, verstärkt durch COVID-19 Quarantänen, begünstigen zunehmend auch die soziale Sterilität, den physischen Rückzug von unserem quirligen, oft konfliktreichen Miteinander. Das öffnet sozialen Allergien Tür und Tor. Vielleicht findet unsere technologie-getriebene Zivilisation für Allergien jeder Art Impfstoffe, auch gegen Ängste. Natürlicher und ganzheitlicher wäre, sich Allergieauslösern von klein auf zu stellen und daran zu wachsen, finde ich.
Dienstag, 22. September 2020
Nicht nur
von Anne
Ich bin Mutter, ich liebe meine Kinder und kümmere mich, jeder Zeit.
Aber ich bin nicht nur Mutter. Ich bin vieles mehr.
Ich bin Augenoptikerin. Ich mache meinen Job sehr gerne und, wie ich glaube, auch gut.
Aber ich bin nicht nur Augenoptikerin. Ich bin vieles mehr.
Ich bin Redakterin der Agstfrei.news und ich genieße es zu schreiben.
Aber ich bin nicht nur Redakteurin. Ich bin vieles mehr.
Ich engagiere mich im Klimaschutz, weil mir das Thema am Herzen liegt.
Aber ich bin nicht nur Klimaaktivistin. Ich bin vieles mehr.
Ich bin Musikfreak. Ich brauche Musik, als Soundtrack zum Alltag, als Stütze, als Stimmungsbild.
Aber ich bin nicht nur Musikhörerin. Ich bin vieles mehr.
Ich bin organisiert. Ich brauche das, um meinen Alltag hinzubekommen, mit all den Terminen, dem Job und dem was sonst noch passiert.
Aber ich bin nicht nur organisiert. Ich bin vieles mehr.
Ich bin chaotisch. Weil es manchmal der Alltag mit sich bringt, organisiertes Chaos.
Aber ich bin nicht nur chaotisch. Ich bin vieles mehr.
Ich bin schüchtern. Oft halte ich mich erstmal zurück und möchte mein Gegenüber ein wenig kennenlernen, eh ich etwas von mir preisgebe und aus mir raus komme.
Aber ich bin nicht nur schüchtern. Ich bin vieles mehr.
Ich bin offen und selbstbewusst und lerne gerne neue Menschen kennen und komme mit ihnen ins Gespräch, um neue Sichtweisen und generell neues kennenzulernen.
Aber ich bin nicht nur selbstbewusst und offen. Ich bin vieles mehr.
Ich bin laut und wild, singe und tanze, wenn es sich ergibt auch mal im Regen auf der Straße dieser lauten Stadt.
Aber ich bin nicht nur laut und wild. Ich bin vieles mehr.
Ich bin leise und ruhig, genieße die abendliche Ruhe mit einem (guten) Buch.
Aber ich bin nicht nur leise und ruhig. Ich bin vieles mehr.
Ich bin gerne in Gesellschaft und quatsche oder feier mit Freunden und welchen, die es werden könnten.
Aber ich bin nicht immer gerne in Gesellschaft. Ich bin vieles mehr.
Ich bin gerne alleine, mit mir und meinen Gedanken.
Aber ich bin nicht immer gerne alleine. Ich bin vieles mehr.
Niemand ist nur das, was er*sie zu sein scheint. Wir sind alle vieles mehr und niemand möchte nur auf eine Sache reduziert werden. Zum Beispiel nur über das Mutter dasein und die Kinder sprechen.
Niemand möchte nur auf die Angst reduziert werden, nicht nur über die Angst definiert werden.
Es lohnt sich, sich dies von Zeit zu Zeit bewusst zu machen. Uns anzunehmen mit all dem, was wir sind. Mit allen Ambivalenzen und Widersprüchen.
Denn nur eines ist sicher, wie sind wir. Die Summe dessen, was wir sind, was wir waren, was wir sein werden und noch vieles mehr.
Mittwoch, 23. September 2020
Die Muster unseres Lebens
von Anne
Ich habe mir kürzlich einen lang ersehnten Wunsch erfüllt und mir endlich einen Plattenspieler gekauft. Meine Plattensammlung wuchs und wächst langsam aber stetig, doch ein Gerät zum Abspielen gab es schon lange nicht mehr. Das habe ich nun geändert und mir auch gleich einen neue Platte zugelegt.
Und eben dieser Platte habt ihr diesen Text zu verdanken. Mal wieder ist es die Musik die mich berührt, inspiriert, in der ich mich wiederfinde und in der ich schwelge und Ruhe finde, wenn ich sie laut aufdrehe.
Schon eh die Platte rauskam, habe ich Stunden lang, mal bewusst, mal unbewusst über den Titel nachgedacht - Patterns -. Patterns sind wiederkehrende Muster, manch eine*r bringt sie mit Sticken in Verbindung, oder wiederkehrende Soundmuster in der Musik, oder auch Algorithmen.
Aber der Begriff lässt sich auch gut auf unser Leben übertragen. Immer wieder erwische ich mich, wie ich in Muster verfalle. Manchmal ist das gut, weil es wiederkehrende Vorgänge sind und ein immer gleicher Ablauf diese beschleunigt und uns Sicherheit gibt. Aber auch Rituale entsprechen dem und sie tun uns gut. Sie bieten uns ein Geländer im Alltag, manchmal auch einen Anker an einem schlechten Tag, wenn wir uns auf ein Abendritual freuen, um endlich zur Ruhe zu kommen.
Aber es gibt, wie immer, auch eine Kehrseite. Wenn wir es nicht schaffen Handlungsabläufe zu durchbrechen, von denen wir wissen, dass sie uns nicht gut tun. Dann verfangen wir uns in diesen Mustern. Meistens nehmen wir dies erst wahr, wenn wir den Schritt schon getan haben. Dann wird uns bewusst, dass wir wieder einmal JA gesagt haben und Aufgaben übernommen haben, für die wir eigentlich keine Zeit und kaum Energie haben, die unsere Kapazitäten überschreiten. Wo wir uns doch fest vorgenommen haben, öfters NEIN zu sagen, um uns selbst und unsere Ressourcen zu schützen. Dann wird uns bewusst, dass wir wieder einmal einen Weg eingeschlagen haben, den wir allzu oft gegangen sind und doch eigentlich wissen, das es der falsche Weg ist.
Wir tun Dinge, weil wir so konditioniert und sozialisiert wurden. Gute, wie weniger gute. Und unser Muster zu ändern ist gar nicht so leicht.
Aber es ist ja auch so, dass man das Muster kaum erkennt, wenn man direkt davor steht. Man sieht vielleicht nur eine Linie, einen Punkt, ein Zeichen. Ein wenig Distanz ist nötig um das ganze Muster zu erkennen.
Und wenn wir einen Schritt zurücktreten, wenn wir ein wenig Distanz schaffen, dann ist es auch möglich die Schönheit und Einzigartigkeit in unseren Patterns, in unseren Mustern zu erkennen.
“ Look at the choices that we make
at our achievements, our mistakes.
They determine who we are
if we give up our fate.
Part of the pattern we create
a rhythm difficult to break
they tell our narrative, our fate.
Some say that wisdom comes with age,
I say some people never change.”
Patterns - Jenobi
→ Hier gehts zum Song
Donnerstag, 24. September 2020
Von der Liebe zum Detail
von Katharina
Ich habe eine Freundin, die liebt es, Dinge schön zu machen. Und ich meine, so richtig: Wenn man am Wannsee ist, dann trägt man maritim, wenn man Oktoberfest macht, dann im Dirndl, wenn man zu Abend ist, dann stimmen Tischdeko, Geschirr und Blumenschmuck, wenn man zum Picknick in den Park geht, dann mit Glastellern, Dippschälchen und Holzbrett. Es gibt ein obligatorisches Foto - denn es ist immer wunderschön - und dann, irgendwann, wenn man die ganzen Details ersonnen, geplant und umgesetzt hat, dann wird genossen.
Klingt aufwändig? Stimmt.
Und gleichzeitig entdecke ich über die Jahre, die wir mittlerweile befreundet sind, immer mehr Schönheit an dieser Liebe zum Detail. Klar könnte man einfach ein paar Tuppderdosen rausholen und hätte auch ein leckeres Picknick, der Wannsee ist auch in Jeans schön und die Mass macht auch ohne Dirndl gute Laune. Es ist aber der Glasteller, die Holzplatte oder der Blumenstrauß, die den Moment zu etwas Besonderem machen - einfach, weil wir uns dafür entschieden haben, in mit viel Liebe auszugestalten. Wir wissen, wenn wir da sitzen, dann haben wir all den Aufwand für uns selbst und diesen Moment betrieben, den wir wunderschön finden. Wir haben zur Abwechslung mal uns ein Geschenk gemacht. Einfach, weil wir können.
Versteht mich nicht falsch, besondere Momente kann man auch ohne Schischi erleben - auch da könnte ich ein ganzes Regalbrett mit Marmeladegläsern vollstellen, die meine wundervollsten Erinnerungen hüten. All die Zufälle, die zu dem einen Abend des Sommers führen, die diesen Kakao auf der Heimischen Couch zum Inbegriff der Gemütlichkeit machen oder dieses eine Gespräch zur Grundlage einer Freundschaft - sie sind die Essenz des achtsamen Genusses des Menschseins. Das Spielen mit Details ist eine Einladung das, was wir aus diesen Momenten und unserer Fantasie heraus kennen, ganz bewusst zu gestalten, hervorzuzaubern und uns daran zu erinnern, dass wir die Schönheit unseres Alltags und unseres Lebens auch selber hineinlassen können. Und ich sage "können" im Sinne von Selbstwirksamkeit, Fähigkeit, Gestaltungsfreiheit. (Natürlich jede*r nur so weit, wie er*sie mag, denn nicht umsonst heißt es "Liebe zum Detail" oder "detailverliebt" und nicht "Aufwand für Detail" oder "detailgestresst".)
Und gerade zusammen mit meiner Freundin hat die gemeinsame Gestaltung dieser Momente noch einen zweiten Effekt, den ich immer mehr zu schätzen lerne: Ein besonderer Moment hat ein langes Vorher und ein langes Nachher. Wie sie mit Freude in die Recherche taucht, liebevolle Inspirationen sammelt und dann einen Plan macht, wie ihre ganz eigene Version aussehen kann, ist ein kreativer, fast schöpferischer Akt. Ihre Freude daran strahlt auf mich ab - und meistens lerne ich sogar noch was davon. Mittlerweile habe ich mir auch einige Tricks abgeschaut, die fest in meinem Alltag verhaftet sind und mini-Momente des Detailgenusses schaffen (z.B. ein schön angerichtetes Essen - einfach nur für mich.). Ein bisschen dehnt Detailverliebtheit also den Moment an sich. Und wer möchte nicht mal die Zeit anhalten?
Übrigens: Am Ende ist es garnicht so viel Stress, wie man meinen könnte. Essen würde man oft ohnehin zubereiten, das hübsche Geschirr verpackt sich in der Picknickdecke fast von selbst und ein Dirndl gibt es Second Hand. Warum sollten wir es uns mit einfachen Mitteln dann nicht einfach mal schön machen?
Ich finde, das haben wir uns verdient.
Freitag, 25. September 2020
Die Macht der Orte
Von Katharina
Am vergangenen Wochenende war ich auf Zeitreise. So richtig stilecht mit dem Zug. Morgens, halb sieben, stieg ich in Berlin ein und zwei Stunden später in einer meiner schönsten Vergangenheiten wieder aus. Es war ein frischer Herbstmorgen, der Himmel goldblau und die silbrige Morgensonne versprach einen zartwarmen Tag. Mit dem Schritt aus dem Zug begann das Zeit-Kaleidoskop sich zu drehen. Im Augenwinkel, auf der anderen Seite des schildkrötenförmigen Bahnsteigfensters sah ich mich selbst, wie ich verkatert realisierte, dass mein Zug ein Gleisbett entfernt auf mich wartete. Wie ich dann ungeschickt und unter dem Gelächter meiner Reisebegleitung mein Weihnachtsgepäck an mich raffte und mit dem hektischen Piepsen der sich schließenden Tür im Ohr gerade noch pünktlich die Heimreise in die erste Weinhachtspause meines Studierendenlebens antrat. Wie viel damals noch vor mir lag und wie sehr ich mich schon angekommen fühlte.
Das Gefühl - oder die Erinnerung? - dass dieser Ort einmal Zuhause war, wuchs mit jeder Ecke, die ich nahm, mit jedem Geschäft, das noch die gleichen Fahnen ins Fenster hing wie vor all den Jahren, mit jedem Schleichweg, der sich so wunderbar vertraut zwischen Wasser und Fachwerkbauten durch die Winkelgassen der Stadt zog. Ich war wie elektrisiert. Ich bestaunte das schönste Haus der Stadt, in dessen Dach ich für eine Zeit mein eigenes nannte und wurde übergossen von den rotgoldenen Sonnenuntergängen, die die winkelige Maisonettewohnung so verzaubert in den Himmel hoben. Kurz schloss ich die Augen und versuchte mich an diesen ganz besonderen Geruch nach neu, Waschmittel und... Vertrautheit zu erinnern, der mich jedes mal überkam, wenn ich die Tür öffnete. Ich bekam ihn nicht zu greifen. Ich atmete die kühle Morgenluft ein und flanierte weiter. Rechts das Café mit der Kuchenflatrate, links die Bar, in der ich für fünf Euro die Stunde nächtelang Wein und Geschichten servierte, bevor ich mit qualmenden Füßen mein Trinkgeld zählte, während ich mit meinen Kolleg*innen über das Leben philosophierte.
Als ich auf dem Domplatz ankam, wo sich gleich zwei Kirchenschiffe über die Morgensonne erhoben, hatte die Erinnerung die Gegenwart überholt. Wie glücklich ich gewesen war. Und wie stolz, dass ich hier leben durfte. Das war ganz und gar meins. Nach Abi und Ausland und Insel und Fabrikarbeit war das der erste Ort, den ich abseits meines Elternhauses ganz und gar Zuhause nannte - spätestens dann, als ich in meiner 11-Quadratmeterwohnung meinen ganz eigenen Ort hatte. Es war der Ort, an dem das Größte Auseinanderbrechen gehalten wurde von Freundschaft und der Zuversicht auf dem richtigen Weg zu sein, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich hinging. Ich wollte dieses übermächtige Gefühl mit jenen teilen, die mich seit damals begleiten, drückte die Aufnahmetaste meines Handys und redete einfach drauf los. "Wisst ihr, wo ich gerade bin?! Hier haben wir doch dieses Theaterstück aufgeführt, dort haben wir mit all unseren Eltern zu Abend gegessen..." plapperte ich und merkte erst garnicht, wie der Kloß in meinem Hals immer dicker wurde. "Ihr fehlt mir so. Das alles hier fehlt mir so.", sagte ich und konnte die Tränen kaum zurück halten. Wo kam das denn jetzt her? Wunderte ich mich und beendete meine Nachricht, um mit mir und dem Gefühl allein zu sein.
Das Vermissen hatte die Erinnerungen durchsetzt. Die gegenwärtige Sehnsucht nach Ordnung, Zugehörigkeit und Zeit, die es mir erlaubt herauszufinden, was ich wirklich will, traf auf diese Vergangenheit, in der ich all das hatte und wieder verlor, einfach weil es das natürliche Ende einer Lebensphase war. Ich lief an dem Eiscafé vorbei, an dem wir uns verabschiedeten, als die erste von uns wegzog und der Schmerz fühlte sich an, als sähe ich uns im selben Moment dabei zu. Ich tastete nach dem Topf mit Zuckerguss, der noch vor wenigen Minuten alles so wunderbar süß überzogen hatte und Griff ins Leere - in die gleiche Leere, durch die ich seit Monaten fiel, ohne zu wissen, ob ich Angst vor dem Aufprall haben oder mich freuen sollte, endlich wieder festen Boden unter mir zu haben. Warum hatte ich nach all der Zeit nicht geschafft, wieder so ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit mit einem Ort herzustellen? Mit den Menschen, die mich dort umgaben? Immer hatte sich vorhersehbar oder plötzlich alles wieder geändert. In den seltensten Fällen war das meine Entscheidung gewesen. Und nun stehe ich an diesem wundervollen Ort, voll mit glitzernden Erinnerungen und sehe nichts als die Fehlbarkeit meiner Gegenwart.
Gucke ich durch ein Kaleidoskop, das nichts anderes ist als ein kaputtes Fernglas?
Ich glaube nicht. Ich glaube, der Rückblick darf schillern und bunt sein. Rückblick ist reziprok. Wenn wir achtsam darin baden, dann verrät er uns etwas über das, was uns wichtig ist. Und das wiederum hilft bei den kommenden Entscheidungen. Und vielleicht ist der Blick ins Marmeladeglas der Erinnerung auch eine Lektion in Dankbarkeit - für das, was war, aber auch für das, was ist. Eine Einladung zur Achtsamkeit so zu sagen. Was macht mich heute so glücklich, dass ich es irgendwann einmal vermissen werde?
Auf dem Rückweg durch den Bahnhof sah ich später den Obststand, an dem ich für fünf Euro die Stunde morgens zwischen vier und neun vorm unbezahlten Praktikum mein Leben finanzierte. Ich schlenderte vorbei. Also das vermisse ich nicht. Auch schön.
Damit wünschen wir Euch ein schönes Wochenende!
Gerne hören wir über das Feedbackformular von euch. Ihr wollt unsere Arbeit unterstützen: Spenden und Fördermitgliedschaft bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V.