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Wochenende 29. & 30. August 2020

Katharina

Hoch die Hände, Wochenende!

Ihr hattet keine Zeit, diese Woche unsere 360°-Texte zu lesen? Ein GLück ist ab sofort Wochenende und ihr könnt das nun nachholen. Wir haben eine spannende Reise über den Wert von (Un)Bequemlichkeit, hilflose Stille und laute Gedanken. Außerdem gibt es zwei Texte zum Thema Tattoos. Was bleibt bei Euch haften? Wir sind gespannt!

Viel Spaß beim Schmökern wünschen euch
Katharina und das gesamte Team von angstfrei.news

Übrigens: Wir nehmen unser Motto ernst: Angst hat eine Stimme - Deine. Wir sind ein Team von Freiwilligen und schreiben über unsere Angst-, Lebens- und Alltagserfahrungen, ohne ein Richtig oder Falsch, oft mit Verstand und immer mit Herz. Wir freuen uns über dich in unserem Team. Trau dich einfach und schreib uns eine Mail an angstfrei.news@gmail.com.

Gefällt euch, was ihr lest? Was würdet ihr anders machen? Teilt es mit uns im Feedback.

Montag | Wolfgang

Unser Dschungel-Camp 2.0 (oder wieviel Bequemlichkeit tut mir gut?)
von Wolfgang

Ich habe schlecht geträumt. Dass ich mit einem Skorpion, fest umschlungen, geschlafen hätte. Luz hatte am Abend in der Finca-Wohnung eines dieser Giftstacheltierchen gesichtet. Glücklicherweise ein ungefährliches schwarzes. Zusätzlich zur Kröte. An die haben wir uns gewöhnt. Dass sie im Wohnzimmer einen stechenden Geruch hinterlässt.

Eigentlich will ich um sechs Uhr früh auf den Beinen sein. Heute ist Einkaufstag. Mein kolumbianischer Ausweis endet mit einer geraden Zahl. Damit habe ich überallhin Zutritt. Juchhe! Nur, es regnet, eine äquatoriale Sintflut. 20 nasse Minuten bis zum Haltepunkt des Pickups gehen? Der um sieben über den schlagloch-übersäten Feldweg ins Dorf hinunterrumpelt.

Ich wickele mich fest in meine drei Decken und schließe wieder die Augen. Es ist kalt und feucht.

Corona hat unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. Eigentlich hätten wir zwei Fahrzeuge, einen Nissan Jeep Baujahr 1984 und einen TucTuc. Bei beiden ist der TÜV abgelaufen. Er lässt sich nicht erneuern, weil die Gemeinden sich gegeneinander abschotten.

Da hilft kein Jammern, auch kein Beten: Wir müssen uns durch alle Widrigkeiten hier im Outback improvisieren! Darin sind die Hiesigen Meister, Deutsche wie ich eher strauchelnde Lehrlinge. Dann reißt auch noch das Internet ab. Opfer der Regenfälle. Luz unterrichtet gerade Englisch aus dem Finca Home Office und steht buchstäblich im Regen. Das mehrfach in der letzten Woche.

Dafür hat der Regen draußen aufgehört. Für zehn Uhr bestelle ich ein Motorradtaxi und fahre als Sozius ins Dorf hinunter. Was für ein grandioser Ausblick! Die majestätischen Kordilleren schmiegen sich in Wolkenzuckerwatte. Dazwischen Wolkengeschwader, von weiß bis schwarz, in allen Nuancen dazwischen, die sich über den Himmel wälzen.

Großes Anden-Kino! Dass Mateo über Stock und Stein einhändig fährt, mit der anderen Hand telefoniert, keinen Helm für mich hat, stört mich nur, wenn ich ums Gleichgewicht ringe.

Erste Station in San Jerónimo: Einkauf von Baumaterialien für die Finca. Damit unsere Arbeiter weiterkommen mit Reparaturen und Umbauten des einstigen Hostels – Zukunft ungewiss. Oft bringen sie uns Bananen und Avocados aus ihren Gärten. Pünktlich um sieben Uhr früh legen sie los, singend und scherzend, handwerklich perfekt, enorm flott. Beim Materialnachschub kommen wir kaum hinterher. So fix schießen die Preußen hier, pardon Campesinos, auf spanisch: Rapidones Antioqueños.

Das Bestellen geht ruckzuck. Aufwendiger war das „Bio-Sicherheits-Protokoll“ beim Betreten des Baugeschäfts: Aufschreiben der Ausweis- und Telefonnummer, Desinfektion, Fiebermessung. Komisch, immer unter 35 Grad. Obwohl Typus Schwitzer, eher nervös, bin ich temperaturtechnisch offensichtlich Kaltblüter und unterstresst.

Kommunikation bleibt ein Kopfschmerz in Corona-Zeiten. Die Campesinos in ihrem typischen Singsang klingen durch die Masken noch vernuschelter. Ich muss oft nachfragen. Sie auch bei mir mit meinem ungewohnten Akzent. Telefonieren im oberdrein verrauschenden WhatsApp Modus ist wie „Stille Post“.

Vorm Geschäft wartet im TucTuc bereits Uriel, Mateos Papa. Wir verladen Farbeimer, Bürsten, Nägel, Stangen, Säcke. Ein Fanfarensignal, Anruf. „Hijo de pucha“, entfährt es Uriel. Er muss von jetzt auf sofort einen weiteren Auftrag annehmen, will aber gleich wieder zurück sein. Gleich heißt hier eine Stunde, ein Tag … Wir laden alles wieder aus. Der Firnisbehälter ist schlecht verschlossen. Igitt, meine Finger verfärben sich dunkel und kleben.

Nach bereits 15 Minuten kommt Uriel zurück. Hinter ihren Masken erkennt man die Menschen kaum. Meinen Chauffeur nur durch den aufgedruckten Kieferknochen mit Riesenzähnen auf dem „Maulkorb“. So heißt hier der Mundschutz. Nächster Halt ist D1, der hiesige Aldi. „Ruf mich an, wenn du fertig bist“, sagt Uriel beim Absetzen. Kruzifünferl, mein Handy funktioniert doch nicht!

Ich bin der vierte in der Warteschlange. Nach 20 Minuten werden selbst die geduldigen Kolumbianer unruhig. Warum stehen wir uns weiterhin die Beine in den Leib? Wenn drinnen kaum mehr ein Kunde ist? Die Sonne hat die Wolken weggebrannt. Ihre Strahlen schießen wie glühende Pfeile fast senkrecht von oben, bei sieben Grad nördlicher Breite und 800 Höhenmetern. Scheiß- äh Schweißtropen.

Endlich: Einlass. Meine Temperatur ist nur um 0,1 Grad gestiegen. Die Regale biegen sich, Kunden schwatzen entspannt. Beim Auschecken meckert die Kassenelektronik. Meine Spardagirokarte, auch die Visa-Schwester sind ihr nicht genehm. Sei auf der Hut, habe immer eine dritte parat! Die einheimische funktioniert.

Uff! Die Kassiererin und ich lächeln. Sie blickt mir aus fast schwarzen Pupillen tief in die Augen. „Wo bist du her?“ „Deutschland.“ „Mich entzückt dein Akzent“, ertönt es aus dem visierartigen Vollgesichtsschutz. Ich danke. So viel Charme erlebe ich im Münchner Aldi nie. Dort sind meine blauen Augen auch nicht so sehenswert.

Wie ein Packesel trete ich auf die Straße. Rucksack und über die Schultern gehängte Tragetaschen, alles proppevoll. So geht man hier nicht durch die Öffentlichkeit. Sondern winkt sich ein Taxi-TucTuc und lässt sich herumkutschieren. Spätkoloniale Gutsherrenmentalität! Ich schwitze den Berg hoch, habe noch eine Liste dringender Erledigungen.

Mein Handy kriegt endlich ein Checkup. Ich staune, mal wieder. Die Dame vom Tele-Shop bedient gleichzeitig fünf andere, hat aber umgehend spitz: Wenn ich die kolumbianische Ländervorwahl entferne, klappen meine Anrufe. Warum komme ich nicht selbst darauf?

Mir fehlt Improvisations- und Experimentiertalent für unser Dschungel-Camp-Leben. Wie so oft in den letzten Wochen trauere ich meinem geregelten Leben in München nach. Mittags Kiesertraining, danach in die Stabi, Weltpresse studieren, im Café eine saftige Mohnschnitte mit schaumigem Cappuccino, bis 23.45 Uhr auf der Empore, stets Platz 304 arbeiten, im Bierstübchen im Oly-Dorf noch ein Weizen zischen, sonntags rudern. Sehr – zu bequem?

Früher sind wir einfach durch die Weltgeschichte getrampt, mit einem Seesack, darin Zelt und Schlafsack. Haben geschlafen, wo immer wir abends landeten, in Holland mitten im Autobahnkreuz, im Royal Park von Edinburgh. Ohne viel Überlegen jahrelang in die Amerikas ausgewandert. Heißa, was kost‘ die Welt! Typen wie mich heute nannten wir damals „bürgerlich“.

Mittlerweile stehe ich vor den beiden einzigen ATMs im Dorf. Einer kaputt, vorm anderen eine Schlange. Warten. Vier Abhebungen á 600.000 Pesos, in Scheinen á 50.000, 20.000, 10.000. Das ist viel Papier und Kohle hier. Wohin damit? Ich stopfe sie in die weiten Hosentaschen. Die zehnköpfige Schlange schaut neugierig zu – wer noch? Samstagmittags zahlen wir unsere Arbeiter bar aus. Keiner hat ein Bankkonto. Soo umständlich … h-i-l-f-e.

Ein Anruf – funktioniert, welch Euphorie! Fünf Minuten später tuckelt mein treuer Uriel um die Ecke. Er und seine Familie kämpfen ums Überleben mit ihrem kleinen Fuhrpark. Seit März Quarantäne. Kein Mensch fährt größere Distanzen.

Hey, wie gut geht’s uns Deutsche! An denen der Corona-Kelch vorbeiging – bisher. Ich mit verlässlichen Kontoeingängen am Monatsersten. Worüber reg ich mich auf? Aber auch unser Gärtner Isaias kann nicht klagen. Wir haben ihn von Halb- auf Vollzeit befördert, zum Generalmanager. 250 Euro monatlich, über die Hälfte eines Lehrergehalts. Mit Arbeitsvertrag inkl. Kranken- und Altersversicherung. Ein sanftes Ruhekissen in einer Arbeitswelt mit 50 Prozent informell-prekär Beschäftigten, jetzt auch noch corona-rezessiv. Isaias‘ halbe Großfamilie ist mittlerweile auf unserer Baustelle beschäftigt.

Wir holpern im Dreirad-TucTuc den Feldweg hoch. Der Regen spült die Schlaglöcher immer tiefer aus. Eigentlich wären wir im Sommer. Der ist hier ausgefallen. Globaler Klimawandel! Mein armer vom vielen Sitzen bandscheiben-lädierter Rücken! Die Schläge muss ich ausgleichen, nicht steif wie eine deutsche Eiche, sondern biegsam wie ein hiesiger Bambus. So eine Art Salsa eben, auch nicht mein Fall.

Noch gehen wir schwanger: Was machen wir mit unserem ehemaligen Hostel, mittlerweile in „La Tal Finca“ umbenannt? Bei allen Widrigkeiten: 1500 Gäste in den letzten acht Jahren und mehrere tausend Follower mögen unser Anwesen. Der Erwerb war eine Schnapsidee bei einer Hawaii-Reise: Kolumbiens Schönheiten bieten mehr als die Vulkaneilande. Unsere Besucher gaben uns recht, nahmen verstopfte Klos und Insektenstiche in Kauf. Gerade huscht ein Spinnchen übern Monitor.

Für den Post-Lockdown denken wir an ein Zentrum für internationale Sprachferien, Kulturaustausch, Psychohygiene. Aber, ganz im Ernst, sollten wir nicht ein Dschungel-Camp ausschreiben? Nicht für TV-Promis, sondern Normalos? Selbst unsere pingelige Tochter hat hier zehn Monate gelebt, überlebt, erratischen Hostelbetrieb zeitweise solo gestemmt, fürs Leben gelernt. Ihr heutiger Mann hat internalisiert, dass ein kaputter Fahrradschlauch zehn Leben hat. Zum perfekten Abdichten lecker Leitungen taugt wie für fast schweißfeste Verbindungen. Um die Ecke denken und Humor richtet’s: die wichtigste Finca-Lektion.

PS: Wieder hatte ich so‘n komischen Traum. Dass meine Redaktion in einen Park verzogen war. Wir unter Wellblechdächern arbeiteten, bei Wind und Wetter. Im Postkörbchen fand ich statt meiner Zeitungen eine Pudelmütze. Absurd? So starteten 1945 „Süddeutsche“ und „Spiegel“. Um Überleben zu lernen musste man nicht nach Kolumbien reisen.

→ La Tal Finca | → VolunTourismus Generell | → VolunTorouismus Best Practice

Dienstag | Katharina

Hilflose Stille
von Katharina 

Ich habe gerade drei Telegramgruppen, vier WhatsApp-Chats, sieben Slack-Threads in drei Kanälen und mindestens zehn Nachrichten im Facebook-Manager, die auf meine Antwort warten. Manchmal schon länger, als ich es hier erzählen möchte. Und ich verstehe nicht, warum es mir so schwer fällt. Es sind allesamt Menschen oder Projekte, die mir etwas bedeuten, die ich gerne mal wieder sehen oder von denen ich gerne mal wieder hören würde. Es wäre so leicht - nur ein "hey!" und ein paar Sätze und ich könnte mir diesen Kontakt erfüllen.

Aber ich bleibe still. 

Wenn ich so in meine Stille horche, hat das drei Gründe, glaube ich. Zum einen bin ich wahnsinnig erschöpft von allem. Dieser unsichtbare Dauerton Corona, die Auswirkungen auf meine Beziehungen oder meine Jobsituation und das Leben an sich haben mich mürbe gemacht und kraftlos. Ich schaffe gerade nur das Nötigste und davon auch nur die Paretoprozente. 

Und das führt nahtlos zu Grund zwei: Jede*r, der*die mich berührt, gerät in den Sog meiner Stagnation - so kommt es mir zumindest vor - falls ich mich überhaupt berühren lasse. Zu viel Angst habe ich, dass ich Menschen abschrecke. Nur die Wenigen, die sich hartnäckig durchsetzen oder ohnehin schon so viel gesehen haben, dass sie nichts mehr schocken kann, bleiben. Und ich baue einen Berg aus „irgendwann-muss-ich-wieder-gut-machen-wie-schwer-ich-bin" für diejenigen, denen ich mich antue und ein "ich-melde-mich-bald-wenn-es-mir-besser-geht"-Monster für jene, die ich mit Stille vertröste. Aber darin stecken "irgendwann" und "bald" - Versprechen in Zeiträume gegossen, die ich schon in der Millisekunde nach Aussprechen nicht mehr halten kann. Und so füttere ich das Monster und schaufele fleißig den Berg immer höher. Dabei ist ganz egal, ob ich in Kontakt bleibe und mich dabei aber schwer und unwohl fühle oder ob mich einfach lieber garnicht melde, als Versprechungen zu machen, die mir Druck aufbauen und anderen keine Sicherheit geben. Was überbleibt ist ein Haufen hilfloser Entschuldigungen oder eben - Stille.

Und das führt zu Grund Nummer drei: Ich kann mich einfach nicht mehr hören. Ich habe den Eindruck, ich kann den Menschen nicht immerzu schreiben, dass es mir immer noch geht, wie es mir geht. Weil eigentlich alles gut ist, weil ich alle Hebel und Knöpfe drücke, die es so zu drücken gibt, weil ich selber vor Ungeduld eingehe, dass ich noch immer in diesem Nimbus festhänge. 

Ich habe einfach kein Verständnis für mich. Wie soll ich das dann von anderen erwarten? Wenn ich selber nicht der Meinung bin, dass es mir so gehen darf, dann kann ich mich auch anderen nicht antun. Die Lösung läge damit auf der Hand, oder? Ich müsste mich 'einfach nur' damit anfreunden, dass alles ist, wie es ist und dann mit entwaffnender Ehrlichkeit schreiben: "Du, mir geht's immernoch nicht so. Das nervt mich auch wahnsinnig, aber ich arbeite dran und es braucht einfach noch ein Bisschen Geduld. Es würde mir so viel bedeuten, wenn du die mit mir hättest. Denn eigentlich mag ich Dich echt gerne und möchte wahnsinnig gerne mal wieder mit Dir spazieren gehen, Boule spielen, Feiern, ein Bier trinken gehen oder einfach ein Gespräch führen. Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn du dafür auf mich wartest."

Letzte Woche, habe ich das ein Mal - ganz kurz - probiert.
Und wisst ihr was: Das war gut.

Mittwoch | Anne

Gedankenunruhe
Von Anne

Ich wollte meinen heutigen freien Tag nutzten, um diesen Text zu schreiben, für die morgige Ausgabe. Also saß ich am Küchentisch und dachte darüber nach worüber ich schreiben sollte, worüber ich schreiben wollte. Doch ich bekam meine Gedanken nicht sortiert. 

Also raus gehen, ein wenig frische Luft schnappen, die Beine vertreten und dabei den Kopf frei bekommen. Und jetzt sitze ich hier in einem klein Café und schreibe diese Zeilen. Der Kopf ist immer noch nicht frei, aber die Gedanken doch ein klein wenig sortierter als noch zuvor. 

Aber warum ist das so? Inzwischen ist wieder etwas Alltag eingekehrt, die Tage wieder geregelter als noch vor ein paar Wochen, oder gar in den Wochen des Lockdowns, aber die Gedanken sind es noch nicht. 

Während des Lockdowns kamen wir, so es uns denn die häusliche Situation erlaubte, ein wenig zur Ruhe. Hatten Zeit über uns und unser Wege und Ziele  nachzudenken. Es war ein wenig wie Reset zu drücken. Und jetzt, jetzt ist es als wäre der Rechner zwar wieder hochgefahren, aber die Dinge nicht mehr an ihrem gewohnten Platz. Zuvor wussten wir wo welches Dokument abgelegt war. Wir wussten wie die Dinge, wie der Alltag funktioniert. Dann wurde ein seltsames Update gemacht und wir müssen uns neu finden. Aber erstmal heißt es suchen. 

Die Dinge, über die wir im Lockdown nachgedacht hatten. Unsere Lebens- und Verhaltensweisen, die wir gründlich reflektiert haben, leben wir nun in Teilen so wieder weiter. Und es fühlt sich seltsam an. Natürlich hat sich vieles verändert. Masken, Abstand etc., an das wir uns inzwischen vielleicht gewöhnt haben. Aber unsere alten Gewohnheiten in diesem Neu müssen noch sortierte werden. Zumindest ergeht es mir so. Und irgendwie fühlt es sich komisch an. Ist das so alles richtig, oder muss doch mal ordentlicher aufgeräumt werden. Was ist mit dem, was wir ändern wollten? Ein wenig so, wie mit den Neujahrsvorsätzen, die man spätestens am 5. Januar über Bord geschmissen hat. So kommt es mir vor. 

Und ich frage mich, ob wir genug Zeit haben um uns in diesem Neu neu einzurichten. Täglich hört man von steigenden Fallzahlen, eben erst las ich, das Paris nun als Risikogebiet eingestuft wurde. Ich frage mich ob es sich überhaupt lohnt sich neu einzurichten, sich zu gewöhnen an diese Situation. Ich frage mich wie die Politik, in Absprache mit den Wissenschaftler*innen, wohl auf die steigenden Zahlen reagieren wird. Einen weiteren Lockdown solle es nicht geben, dies wird immer wieder beton. Aber was dann? Wie wird die Gesellschaft reagieren. Tatsächlich macht mich diese Ungewissheit nervös. Nervöser noch als Anfang des Jahres der doch relativ plötzliche Lockdown. Zuerst war Corona weit weg, dann Italien, aber immer noch weit genug weg. Selbst als es im Kreis Heinsberg, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, zum Ausbruch kam, konnte ich dies noch als lokales Phänomen abtun. Somit kam der Lockdown zwar nicht völlig überraschen, aber doch plötzlich. Jetzt wissen wir, es ist unter uns. Was der Herbst und Winter mit sich bringt. Wir werden sehen. 

Ich werde jetzt auf jeden Fall meine Kaffee genießen. Denn das ist das einzige was mir gerade sinnvoll erscheint. Den kleinen Moment genießen. Sollten wir ja eigentlich immer, es fällt nur allzu oft allzu schwer.  

Donnerstag | Katharina 

Über die Unendlichkeit
von Katharina

Seit Weihnachten letztes Jahr trage ich auf meinem Unterarm neben zwei Pilgergrüßen ein kleines, fast schon unscheinbares Unendlichkeitszeichen. Meine Eltern waren ein bisschen schockiert, als ich ankündigte, dass ich mir als Weihnachtsgeschenk an mich selbst Tinte unter die Haut malen lasse, die dann für immer bleibt und dachten wohl an Piraten, Verbrecher oder Menschen, die niemals wieder einen bürgerlichen Beruf einnehmen würden - "hätten wir sie bloß nicht nach Berlin gelassen!" Mein großer Bruder schürte diese Ängste und kommentierte in gewohnt ironischem Duktus trocken: "Menschen mit Tattoos waren doch alle schon im Knast!" Nun, ich hatte weder vor, mein Leben wegzuwerfen noch Urlaub hinter schwedischen Gardinen zu machen. Was ich aber wollte, war mir eine von vielen Lektionen aus 2019 hinter die Löffel - mindestens aber auf den Arm schreiben, um sie nicht zu vergessen. Das habe ich auch meinen Eltern erklärt und zwar in etwa so:

Das Unendlichkeitszeichen (eine liegende Acht, für die, die es nicht vor Augen haben) steht für mich für drei wichtige Überzeugungen, Lektionen oder Weisheiten, an denen ich mich festhalten kann.

(1) Energie geht nicht verloren. 
Es ist eines der grundlegenden physikalischen Gesetze: Energie bleibt. Sie verändert oft die Form, daher fällt es uns oft nicht auf, aber sie geht nicht verloren. Wenn wir Kraft aufwenden, wird sie zur Bewegung, wenn wir etwas anzünden, wird es zu Wärme und das Feuer zu Asche, Rauch und anderen chemischen Stoffen. Im Leben passiert das Gleiche: Wir geben an so viele Stellen und oft glauben wir, unsere Energie versickert - aber sie lebt immer in irgendetwas weiter. In Beziehungen, in Arbeitsergebnissen oder in Erkenntnissen. Ich finde das versöhnlich.

(2) Was hinunter geht, geht wieder rauf und umgekehrt.
Das Unendlichkeitszeichen zeichnet eine Linie, die unendlich auf und ab geht. Wir können uns darauf verlassen, dass das auch für das Leben gilt. Damit meine ich kein oberflächliches "alles wird gut" - ich sehe das eher als Einladung, darauf zu vertrauen, dass scheiß Phasen vorbei gehen und wir uns nicht zu sehr davon umwerfen lassen, wenn auch ein Hochgefühl vorbei geht. Beides kommt wieder, beides geht wieder. Ich finde, darin liegt eine große Ruhe.

(3) Wir sind in jedem Moment unendlich.
Denn ihre Werke folgen ihnen nach - das steht schon in der Bibel. Das heißt nichts anderes als: Unsere eigene Unendlichkeit beginnt in jeder Begegnung mit Anderen. Wir hinterlassen Spuren, die in anderen weiterwirken, die wieder Spuren hinterlassen. Es ist nicht egal was wir tun - wir sind unendlich in unseren Handlungen und in jeder Interaktion. Damit geht eine Verantwortung einher, aber auch das Versprechen, dass wir wertvoll sind, dass wir unendlich sind - manchmal vielleicht nicht für uns selbst, aber immer für andere. Wir sind ein "für immer" für alle, die wir berühren dürfen. Ich finde, das ist eine Stärkung jeden Tag mit offenem Herzen in die Welt zu gehen.

Stellt Euch jetzt mal das Gesicht meiner Eltern vor, als ich ihnen mit diesen mitunter schwermütig-pathetischen Worten die Tinte in meinem Arm erklärt habe: Große Worte, große Augen. Keine Spur mehr von weggeworfenen Leben und kein Wort mehr zu Schwedischen Gardinen. Immerhin.

Und jetzt: Unendlichkeit für alle!

daz - die angst zeitschrift

Freitag | Annika

Mut zur Farbe
von Annika

Schon als Kind war ich wahnsinnig fasziniert von Tattoos. Diese permanenten Bilder auf der Haut schienen eine ausgesprochen starke Anziehung auf mich zu haben. Ich kann mich noch erinnern, wie ich mir mit einem Edding kleine Bilder auf die Arme malte und damit stolz wie Bolle durch die Straßen gelaufen bin. Da diese allerdings - zu meinem Leidwesen - nach ein paar Tagen (und intensivem Waschen und Schrubben - zum Leidwesen meiner Mutter -) wieder von der Haut verschwanden, war für mich schon immer klar, dass irgendwann tatsächlich permanente Bilder auf meiner Haut verewigt werden sollten. 

Knapp vier Wochen nach meinem Abiball war es dann soweit. Ein Bekannter einer Bekannten tätowierte in seinem Keller (Jugendsünde ole!) und mir und meinen 19 Jahren schien das genau der richtige Ort zu sein, um meiner Liebe zu Tattoos nun Taten folgen zu lassen. Mittlerweile habe ich mir dieses Tattoo bereits zweimal überstechen und abändern lassen. Denn (auch wenn ich das gegenüber meiner Mutter so niemals zugeben würde): Vielleicht wäre es doch besser gewesen, ich hätte mir mit meinem Vorhaben damals ein kleines bisschen mehr Zeit (und Überlegungen) gelassen. Nun ja. Ich muss meinen Kindern später ja auch ein bisschen was von meiner „wilden Jugend“ erzählen können.

Meiner Liebe zu permanenten Hautverschönerungen tat die ganze Aktion jedenfalls keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: die Bildchen auf meiner Haut nehmen seither exponentiell zu. Vom Abiball-Tattoo auf dem linken Unterarm zu einem Notenschlüssel hinter dem rechten Ohr, einem Schriftzug auf der rechten Schulter (für meine Familie), einem weiteren Schriftzug auf den linken Rippen (für meine Oma), einem Tattoo gegen die Angst auf dem rechten Unterarm und seit Kurzem einem Eichhörnchen auf dem rechten Oberschenkel (für meinen Opa). 

Die Reaktionen aus meinem Umfeld sind dabei wahrscheinlich genauso gemischt, wie sie es auch innerhalb der Gesellschaft sind. Von „wieso musst du dir deine Haut denn so verschandeln“ zu „wenn ich jünger wäre, würde ich mir das auch machen lassen“ war bisher so ziemlich alles dabei. Und ein paar Fragen scheinen immer wieder aufzukommen. 

„Bist du sicher, dass du das nicht irgendwann einmal bereust?“ Ja. Ganz eindeutig. Kein einziges meiner Tattoos bereue ich (und nein, auch die kleine Jugendsünde nicht). Jedes davon steht für eine bestimmte Lebensphase. Jedes davon erzählt eine Geschichte. Auf meiner Haut finden sich Hinweise auf Dinge, die ich erlebt habe und Menschen, die mir nahe standen (oder immer noch stehen). Sie zu bereuen wäre ungefähr so, als würde ich es bereuen, diese Menschen zu kennen oder gewisse Erfahrungen in meinem Leben gemacht zu haben. Und auch mit Erfahrungen ist das ja so eine Sache: Egal, wie schlimm sie vielleicht waren, haben sie mich doch letztendlich zu diesem Menschen werden lassen, der ich heute bin. Sie gehören fest zu mir. Und genau wie meine Tattoos kann ich auch sie nicht einfach von mir abwaschen. 

Und auch eine andere Frage kann ich recht einfach beantworten: Beruflich habe ich bisher noch keine schlechten Erfahrungen als Reaktion auf meine Tattoos erhalten. Ganz im Gegenteil: Nach meinem Abitur habe ich ein Jahr in einer stationären Pflegeeinrichtung gearbeitet. Die Einrichtung war streng katholisch und konservativ und im normalen Arbeitsalltag musste ich mein (bis dato einziges) Tattoo unter langen Ärmeln verstecken. Nur an den Wochenenden, an denen die Leitungsebene nicht anwesend war, durfte es unter kurzen Ärmeln mal herausschauen. Die Reaktionen der älteren Bewohner*innen waren herzerwärmend. Von ganz viel Neugier („Malen Sie sich das etwa jeden Morgen neu auf? Das muss ja lange dauern!“) zu Komplimenten („So etwas hätte es zu unserer Zeit für Normalsterbliche ja nicht gegeben. Schade eigentlich. Vielleicht hätte ich das dann auch gemacht“) begegnete mir so ziemlich alles. Nur eines nicht: Ablehnung. Und auch, wenn mein Klientel mittlerweile nicht mehr dasselbe ist, hat sich das bis heute nicht geändert.

Es gibt noch eine letzte Frage, die ich sehr eindeutig beantworten kann: Ja, ich plane noch weitere Tattoos. Weil ich auch weiterhin Erfahrungen machen werde, die mich prägen. Weil es auch weiterhin Menschen in meinem Leben geben wird, die mich beeinflussen. Weil ich stolz darauf bin, diese Bestandteile meines Lebens auf der Haut tragen zu dürfen. Mal sehr eindeutig, mal subtiler. Mal als persönlichen Appell, mal in Gedenken. Ganz danach, wie ich mich fühle. Aber eines werden sie auch weiterhin sein: sehr persönlich und permanent. Genau wie die Erfahrungen, die noch auf mich warten.

Das war's!

Montag gibt es wieder eine 8 Uhr-Ausgabe mit frischen Inhalten. Wir freuen uns auf Euch!

Gerne hören wir über das Feedbackformular von euch. Ihr wollt unsere Arbeit unterstützen: Spenden und Fördermitgliedschaft bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V.

Quellen
Corona in Zahlen (RKI) | Gesundheitsticker | Über die Landesregierung NRW sind wir außerdem an den dpa-Nachrichten-Ticker angebunden, den wir immer als Quelle verwenden, wenn wir (dpa) schreiben.