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Wochenendausgabe 15. & 16. August 2020

Guten Morgen ihr Lieben,

und schon wieder Wochenende.

Hier gibt es nochmal die Texte der Rubrik 360°, der letzten Woche. Falls ihr Werktags nicht genügend Zeit und Ruhe habt diese zu lesen, dann bietet sich hier nochmal die Gelegenheit. Montags gab es gleich zwei Texte von Wolfgang, unter anderem ein Gespräch zwischen Angst und Mut. Am Dienstag hat Johannes uns nochmal vor Augengeführt, dass das Leben nicht nur schön nervig ist, sondern im großen und ganze einfach nur SCHÖN. Gestern, Freitag, hat Annika mit uns ihre Sorgen und Gedanken zu ihren Zukunftsplänen angerissen und Mittwoch war Anne schon wieder Urlaubsreif.

Welcher ist Euer Lieblingstext? Vielleicht hab ihr Lust, dies mit uns auf Instagram zu teilen.

Damit wünschen wir Euch ein schönes Wochenende!

Euer Team von angstfrei.news

Übrigens: Wir nehmen unser Motto ernst: Angst hat eine Stimme - Deine. Wir sind ein Team von Freiwilligen und schreiben über unsere Angst-, Lebens- und Alltagserfahrungen, ohne ein Richtig oder Falsch, oft mit Verstand und immer mit Herz. Wir freuen uns über dich in unserem Team. Trau dich einfach und schreib uns eine Mail an angstfrei.news@gmail.com.

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Montag | Wolfgang | Von Mensch zu Mensch
Systemische Angst

Corona ist ein wertvolles Zeitgeschenk. Es gibt Gelegenheit, uns nicht nur mit unseren persönlichen Ängsten auseinanderzusetzen. Sondern auch mit den Etagen darüber: institutionell-strukturell-systemischen Ängsten. Viele sind in unserer Gesellschaft tief verankert, werden uns praktisch anerzogen. Ein persönlicher Blick darauf von Wolfgang.

Während meiner anhaltenden kolumbianischen Quarantäne habe ich mich endlich durch George Orwells „1984“ gefräst. Nach 50 Seiten setzte mein Standardreflex bei Langweilern ein. Zuklappen und anderes Buch. Aber so viel Ignoranz bei diesem Werk der Weltliteratur über Big Brother, Angst-Macht respektive Macht-Angst? Bei Seite 200 hob das Buch endlich ab. Derart, dass ich den Orwell fast in die Ecke gepfeffert hätte. Die minuziöse Beschreibung der Foltertorturen des systemnichtkonformen Romanhelden war mir zutiefst zuwider.

Man gewöhnt sich dran, bis zum Höhepunkt. Ein Käfig mit Ratten baumelt vorm festgeschnallten Winston. Die Drohung, dass sich die Nager beim Loslassen durch Augen und Backen ins Gehirn fräßen – eine beliebte Folter im alten China – frisst seinen letzten Widerstand auf. Er verrät seine Geliebte und Mitstreiterin, der er ewige Treue geschworen hatte. Damit verliert Winston den Glauben an seinen unabhängig-kritischen Geist. Aber das System vergibt nicht. Ihn ereilt das Schicksal aller Selbstdenker, eine Kugel in den Hinterkopf.

Winston hadert nicht mehr. Er stirbt gerne, in bekennender Schuld und Reue, in tiefer Liebe zu Big Brother (einer fiktiven Person, die sich mit beliebigen Realmächtigen ersetzen ließe, was die Interpretation zeitlos aktuell macht).

1984 erschien 1949, aus Händen eines Autors, getrieben vom unfassbaren Wahnwitz der Diktaturen seiner Zeit. Dem spanischen und italienischen Faschismus der 1930er und 1940er und dem gerade besiegten Nazi-Deutschland. Dem Stalinismus, seinen Säuberungswellen und Gulags, mit 20 Millionen Ermordeten. Dazu Hitlers sechs Millionen Holocaust-Opfer, mehreren Millionen ermordeter Sowjet-Zivilisten, zwei Millionen Polen, Hunderttausenden ermordeter Dissidenten, Rasseschändern, Euthanasieopfern mit wertlosen Leben, obenauf 50 Millionen Weltkriegstote. Nie in der Geschichte zuvor hatten Macht und Machtmissbrauch sowie Angst davor größere Blutmeere angerichtet. Für uns Heutige nach 75 Jahren Frieden, Sozialstaat, Wohlstand surreal.

1984 ist literarische Kunst, gleichzeitig auch ein geschichtlicher Abdruck, wie mit Angst Politik gemacht und blinde Gefolgschaft gezüchtet wird. Deutschland mit zwei bestialischen Gewaltdiktaturen im letzten Jahrhundert, seit 30 Jahren erst in nationaler Gänze Teil einer freiheitlichen Welt, hat die Handschrift der Politik der Angst maßgeblich mitgestaltet. Für das NS Regime und SED Regime war die Herrschaft über die Angst systemrelevant. Teil der Herrschaftssicherung, Werkzeug der Macht, konstitutionelles Element politischer DNA. Mit einer Vor- wie auch Nachgeschichte in Deutschland und deutlichen Spuren darin.

Meine beiden Großväter sind im Nazi-Krieg „gefallen“, wie wir beschönigend sagen. Oder sind von den Ideologen für ihre Rassenpolitik auf den Schlachtfeldern Europas „hingeschlachtet worden“, in welcher Verstrickung auch immer mit dem menschenverachtenden NS-Geist. Darüber zu sprechen war bei unseren Familienfesten tabu. Mutters Familie mit 20 Kriegstoten fühlte sich als armes Opfer, Vaters Familie betete sich durch NS- und später SED Diktatur.

Wir Kinder hatten einen angenommenen Opa. Unseren heißgeliebten Opa Dubrow. Er war im Kaiserdeutschland aufgewachsen, trug in den 1950ern voller Stolz noch seinen kaiserlichen Schnauzbart und war ein in der Wolle gefärbter Kaisertreuer, im Ersten Weltkrieg kaiserlicher Marinesoldat. Seine Kinderliebe und seine Stories (am Bau des Nord-Ostsee-Kanals hatte er mit eigenem Spaten mitgewirkt) – große Klasse. Der Kaiser war für ihn die absolute Autorität auf Erden, in bedingungslosem Gehorsam ihm ergeben, in einer Mischung aus tiefster Ehrfurcht sowie Angst vor ihm. Wie ein mittelalterlicher Christ vorm Papst.

Diese Angst mit kritikloser Unterwerfung ist systemisch für alle Diktaturen und autoritären Regime dieser Welt. Das Deutsche Kaiserreich war im Spektrum der Politsysteme während der letzten zwei Jahrtausende noch eine relativ humane Variante. So wie auch das von Voltaire aufgeklärte Preußentum, ideelle Basis des Kaiserreichs.

Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht Preußens im Jahr 1717 wird bis heute als große Reform gefeiert. Sie trug dazu bei, gebildete Untertanen heranzuziehen, die dem Staat willenlos folgten, ob als Beamter oder Heeresoffizier. Schulen werden bis heute Anstalten genannt, was sich von Preußens Kadettenanstalten ableitet, die seine Soldaten schulten. Sie lieferten den Stoff für den legendären „Hauptmann von Köpenick“.

Meine Grundschul- und Gymnasialzeit in den 1950ern und 1960ern erinnere ich als Abrichtung zum Gehorsam. In ersterer regierte der Rohrstock zum Durchsetzen von Schulmacht. In Letzterer, einem „humanistischen Gymnasium“, wurden Verletzer von Schul-Codizes in der Aula vor der gesamten Schüler- und Lehrerschaft vom Direktor persönlich gerichtet. Durch Faustschläge. Wir alle, inklusive Lehrer zitterten vor „Herrn Direktor“ und hatten eine Mordsangst. Er beging im Dachstuhl dieser humanistischen Bildungsanstalt Selbstmord. Weil er es nicht ertrug, dass 68er-Rebellen in seinem Boxring, der Aula, zum Schulstreik aufriefen. Wie wir unsere Mitschüler bewunderten! Die sich über sein Angstregime erhoben und den vermeintlich Allmächtigen in seine Angstschranken verwiesen.

Systemische Angst zieht sich durch unsere Kultur. In dieser paarte sich die weltliche Macht mit der religiösen und deren Machtwerkzeug, die Verdammnis, Androhung der Hölle, wenn das nicht half: Scheiterhaufen. Orwell spielt in 1984 damit, wenn Winstons Foltermeister O’Brien ihn darüber aufklärt, dass die christliche Inquisition psycho-terroristischer Pfusch gewesen sei, weil es den Freigeist von Menschen nicht gebrochen hätte. Unter Big Brother werde so lange gefoltert, wenn nötig jahrelang, bis Widersacher zur Liebe zum Regime bekehrt worden seien, wie Winstons Ende bezeugt.

Auch mit Kirche und Religion habe ich persönliche Erlebnisse. Wie der Pastor bei der Generalprobe zur Konfirmation wegen eines verhaspelten Bibelverses mich öffentlich verdammte: „Wolfgang, aus dir wird nie was!“ Im Gotteshaus kam er wie ein Donnerschlag über mich.

Bei der Moon-Sekte, bei der ich später in Kalifornien für ein paar Tage hineinstolperte, habe ich Brainwashing live miterlebt. Wie Menschen, die in existenzieller Unsicherheit und Ängsten lebten, innerhalb von Stunden konvertierten und später in Berkeley als fremdbestimmte Moonie-Sklaven Gelder für die Sekte eintrieben. Wie mit Phrasen programmierte Roboter. Mein Frei- und Widerspruchsgeist rettete mich. Weil ich mit kritischen Fragen die Gehirnwäsche störte, wurde ich aus dem KZ-ähnlichen Lager mit Karacho hinausgeschmissen. Abgeführt mit bewaffneten Wachen und scharfen Hunden.

Ständig will uns jemand an unsere Seele! Aber wie verdammt anstrengend es ist, immer seinen eigenen Kurs zu steuern wie auch zu verteidigen. Anpassung erscheint leichter.

Opportunismus kenne ich auch in meinem Leben. Dafür schäme ich mich. Bei einem CVJM Camp schlug ich als Pubertierender einen Schwächeren grün und blau, um mich vor meinen Peers zu profilieren und in deren Anerkennung zu sonnen. Gerne bäte ich mein Opfer um Entschuldigung.

Mein Leben ist durchzogen, in beide Richtungen, von Begegnungen mit systemischen Konformitätszwängen und systemischer Angst. Auch in der modernen Bundesrepublik. Ein Chefredakteur tobte einst durch die Redaktion und drohte, „jedem einen in die Fresse zu hauen“, falls er wage, eine Petition gewerkschaftlich organisierter Kolleg*innen zu unterschreiben. Alle kuschten, auch die couragierten Polit-Kommentatoren. Als ich tags darauf einem deutschen Vorzeigejournalisten darüber berichtete, der über die Vorgänge im Pressehaus einen Aufmacher schrieb, antwortete dieser: „Ach, das hat er so nicht gemeint.“ Presse und Leitmedien, vierte angstfreie Gewalt?

Der Akt wurde trotzdem publik. Bei einer Universitätsveranstaltung mit leitenden Redakteuren des Blattes meldete ich mich zu Wort und berichtete über den Vorfall. Das Publikum raunte, die Herren wanden sich in Nichtwissen. Hierfür traf mich der Fluch der Mächtigen. Auch den Chefredakteur. Der neue Verleger schickte uns beide in die Wüste.

Bei der Recherche für diesen Beitrag suchte ich nach wissenschaftlicher Unterfütterung. Die meisten Fundstücke beschränken sich darauf, dass die politische Rechte mit Angst und Rassismus vor Ausländern und Asylant*innen arbeitet. Richtig, aber systemische Angst schürft viel tiefer, ist eher eine historische Grundkonstante und baut auf Herdenmentalität. Gleichwohl das aktuelle Deutschland nach tiefen Abstürzen in der Vergangenheit seinen Autoritäten mutig die Stirn bietet, wie die öffentliche Debatte über die Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten durch COVID-19 demonstriert. Das vermisse ich in meiner Zweitheimat Kolumbien. Sie ist eher mittelalterlich, spät-absolutistisch – wie so viele andere Länder und Menschen dieser Welt.

Als Schlusswort ein Zitat aus meiner Literaturrecherche von einem New York Times Kolumnisten. In „Politics of Fear“* schreibt John Tierney:

“Regierende folgen instinktiv Machiavellis Rat aus dem 16. Jahrhundert. ‚Es ist sicherer gefürchtet als geliebt zu werden.‘ Oder in den Worten von Ökonom Robert Higgs: ‚Ohne populäre Angst kann keine Regierung mehr als 24 Stunden überleben.‘ Er erläutert dazu, dass die ersten Königreiche von Kriegern gegründet wurden. Ihre Autorität stützte sich auf religiöse Führer. Das kriegerische Element von Regieren lässt die Menschen um ihr Leben fürchten – das priesterliche Element lässt sie um ihr Seelenheil fürchten. Diese beiden Ängste fügen sich zu einer mächtigen Verbindung – stark genug, um Regierungen für mehrere tausend Jahre überall auf der Welt hervorzubringen.“

Angst in der Politik sollte Schwerpunkt in der Deutschen Angstzeitschrift daz sein. Wegen des plötzlichen Wegfalls von Fördergeldern musste die daz bedauerlicherweise eingestellt werden. Mit diesem Beitrag soll das Thema dennoch angesprochen werden. In der Hoffnung, dass „Systemische Angst“ ins öffentliche Zeitgespräch über Angst, Behandlung und Therapie, Selbsthilfe und Zivilgesellschaft einfließe. Der Beitrag des Autors „Angst ist eine mächtige politische Kraft“ in 2019 beleuchtet aktuelle Formen politischer Angst.

→ DASH | 1984 | *) City Journal

Montag | Wolfgang | im Gespräch
Ihr Auftritt, Herr/Frau M-K!

Wir führen ständig Zwiegespräche mit uns selbst. Das Ich, das sich entfalten will, wird vom Zensor in Schach gehalten. Die Figuren Mutkasper und Angst(macher)krokodil bringen diesen inneren Disput zutage. In der gleichnamigen Serie spielen wir typische Situationen durch. Sie mögen dazu anregen, angstbesetzte Situationen zu inszenieren. Handpuppen aus dem Kasperletheater oder kleinere Fingerpuppen machen diese Kontroversen gegenständlicher. Damit lassen sich auch Rollenspiele inszenieren. Wir beginnen heute mit dem Angstklassiker, der tiefsitzenden Angst von Zweidrittel der Menschheit vor öffentlichen Auftritten. Viel Erfolg beim Nachstellen und Inszenieren eigener Situationen, wünscht Wolfgang.

Angst-Krokodil: Jetzt kommt gleich dein Auftritt. Schaffst du es?

Mut-Kasper: Hm, mal sehen, so viele Menschen, was sag ich bloß?

Angst-K: Genau, wenn du dich verhedderst, dir die Sprache wegbleibt, die Leute dich alle fragend anstarren.

Mut-K: Oh mein Gott. Was mache ich hier bloß. Wieso habe ich überhaupt den Mut aufgebracht, in dieser Konferenz was zu sagen? Verrückt!

Angst-K: Du könntest dich doch einfach entschuldigen lassen, wegen Unpässlichkeit. Machen doch viele.

Mut-K: Nein, nein. Wenn schon, denn schon!

Angst-K: Bist du denn auch so ein bedauernswerter Sklave deiner Worte?

Mut-K: Was ist denn das für eine geistige Wegwerfmentalität. Nein, ich bin meinen Worten und Entscheidungen treu.

Angst-K: Na gut, dein Entschluss. Damit wirst du dich bis auf die Knochen blamieren. Du bist ja schon ganz weiß im Gesicht vor Angst.

Mut-K (wischt sich Schweißtropfen von der Stirn und atmet tief durch): Durch tiefes Atmen wird mir gleich wieder besser.

Angst-K: Wo hast du eigentlich dein Manuskript?

Mut-K (fingert nervös durch sämtliche Taschen): Gerade hatte ich es noch in der Hosentasche.

Angst-K: Papier, das ist doch Steinzeit. Damit raschelst und zitterst du. Willst du nicht wie die Profis gleich vom Handy lesen?

Mut-K: Nee, nee, wenn die Batterie plötzlich leer ist oder der Strom ausfällt.

Angst-K: … oder die Welt untergeht?

Mut-K: Bitte keine Ironie und keine Witze. (Hat sein Manus gefunden und begonnen, es mit dem Zeigefinger Zeile für Zeile durchzugehen). Stör mich bitte nicht in meiner Vorbereitung.

Angst-K: Noch zehn Minuten. Warst du denn schon auf dem Klo. Stell dir vor, du musst mal und kannst dein Wasser nicht halten. Mitten auf der Bühne.

Mut-K: Hm, ich war doch gerade vor einer Viertelstunde. Meinste, ich sollte noch mal gehen?

Angst-K: Dein Bier. Aber sag mal, was ist denn dein erster Satz?

Mut-K: Na was schon? Meine sehr verehrten Damen und Herren.

Angst-K (mangels Haar zu raufen beißt sich in den Schwanz): Mann, so’n langweiliger Killersatz, du Flasche. Da fällt ja der Interessierteste sofort in den Tiefschlaf.

Mut-K (betroffen, jetzt fast schreiend): Hier stehe ich und kann nicht anders!

Angst-K windet sich und verdreht die Augen: Luther, jetzt biste aber völlig durch den Wind, mein Lieber.

Mut-K: Bitte, hab Gnade mit mir, du Scheißangstmacher. Warum schüttest du denn immer Salz in meinen Wunden. Warum sagst du mir nichts Positives. Um meinen Mut zu unterstützen?

Angst-K: Ich will doch immer nur dein Bestes, weißt du doch. Mit meiner Kritik sind wir doch immer gut gefahren. Erinnerst du dich, als ich dich davor warnte, auf diesen Berg zu klettern und eine Stunde später zog über ihn ein Mordsgewitter?

Mut-K: Ja, ja, schon. Aber was kann denn hier bei meiner Begrüßung schon Großes passieren? Keine Gewitter, Weltuntergang ist auch nicht angekündigt. Allenfalls dass ich in Ohnmacht falle. Aber dann könntest du ja den Gruß aussprechen.

Angst-K: Das könnte dir so passen. Erst den Helden spielen wollen, dann kein Arsch in der Hose, und ich muss dir die Kohlen aus dem Feuer holen. Noch fünf Minuten. Willst du es wirklich wagen, innerlich so zerrissen, wie du bist?

Mut-K: Ach, halt’s Maul, du schrecklichstes Scheusal unter der Sonne. Stimme des Zweifels. Wie ich dich hasse. Ich wünsche dir den sofortigen Tod an den Hals!

Angst-K: Dann garantiere ich dir, dass du und die Menschheit nicht überleben würden. Dann würdet ihr völlig aus dem Häuschen geraten und noch mehr Unsinn anstellen.

Mut-K: Also, keine Philosophie jetzt. Was mach ich armes Häufchen.

Angst-K: Das ist ein wichtiger Event. Ein verunglückter Auftakt wäre unschön. Du könntest doch deinen Freund Hugo bitten. Der findet immer so eloquente Worte. Der ist doch gleich hinter der Bühne.

Mut-K, knetet das Papier hin und her, sucht hilflos mit den Augen im Raum umher, liest, stottert, schlottert.

Angst-K (forschend): Und? Eine Minute!

Mut-K, fast heulend: Hilfe! Warum ist das Leben so kompliziert. Ich armes Seelchen!

Angst-K: Du bist ja völlig aus der Spur, du Ärmster. Mach’s nicht! Stürz dich nicht in dein eigenes Schwert!

Mut-K: Du Arsch. Aber ich wird’s dir zeigen. Jetzt gerade. (Drohend). Ich mach’s!

Ein Gong ertönt. Mut-K streckt sich. Sammelt sich und streicht sich dabei langsam durch die Haare. Das zerknitterte Gesicht konzentriert sich, beginnt sogar ein wenig zu lächeln. Langsam schreitet er auf die Bühne zum Rednerpult. Das Stimmengewirr im Saal verebbt, alle Blicke richten sich auf ihn. Forschend, neugierig, gelangweilt.

Mut-K (zu sich selbst): Dies ist mein Publikum. Ich werde es durchkneten. Auf geht’s!

→ Netzwerk Gemeinsinn

Dienstag | Johannes |von Mensch zu Mensch
Ja, es tut weh

Die Corona-Krise nervt. Und zwar nicht nur, weil sie für sich genommen schon wirklich anstrengend ist. Nein, sie kommt auf die Schwierigkeiten, die ich sowieso schon habe, zusätzlich noch oben drauf.

Denn leider ist es eine Tatsache: Das Leben tut weh, auch ohne Corona. Das ist unangenehm, aber eigentlich weiß jeder, dass es wahr ist. Die nicht erwiderte Liebe, der enttäuschte Traum, das mal wieder nicht erreichte Ziel, die zerstörten Hoffnungen: Das alles tut weh. Geliebte Menschen, denen man in ihrer Not nicht helfen kann, der Verlust einer geliebten Person: Es schmerzt. Dazu kommen die kleinen und manchmal sehr großen Enttäuschungen des Alltags.

Und trotzdem tun viele Menschen so, als ob es anders wäre. Wenn ich mir Bilder in sozialen Netzwerken ansehe, dann herrscht bei anderen Menschen anscheined dauerhaft eitel Sonnenschein. Überall gibt es nur Glück, Glück, Glück!

Falle ich so aus dem Rahmen? Läuft es nur bei mir nicht rund? Natürlich nicht. Das Leben tut bei allen weh. Auch bei den Reichen, den Schönen und den Prominenten. Robbie Williams, der so ziemlich alles erreicht hat, was man als Teenager als Erfolg definiert, leidet unter Essstörungen und Depressionen. Der Fußball-Weltmeister André Schürrle hat vor kurzem mit 29 Jahren seine Karriere beendet, weil er den Druck nicht mehr ausgehalten hat.

Jeder Mensch leidet. Auch die scheinbar perfekte Kollegin und der Nachbar, dem anscheinend alles gelingt. Das Leben schmerzt. Da gibt es kein Vertun.

Aber Schmerz gehört zum Leben dazu. Er ist völlig normal und auch nötig. Ohne Leid kann ich Glück und Freude gar nicht erkennen. Ohne Schmerz werde ich nicht daran erinnert, dass das Leben kostbar ist und ich es leben sollte, so lange es geht.

Manchmal muss man es sich einfach vergegenwärtigen: Es ist normal. Es gehört dazu. Es ist bei allen so.

Und das Gute ist: Obwohl Schmerz ein normaler Bestandteil des Lebens ist, ändert das rein gar nichts daran, dass das Leben selbst einfach großartig ist. Zu existieren und Sachen erleben zu können, ist unfassbar toll. Irgendwie ist aus "Nichts" einmal "Etwas" geworden und ich bin ein Teil davon. Das finde ich großartig!

Natürlich habe ich Schwierigkeiten, aber ich bin nicht meine Schwierigkeiten. Ich bin auch manchmal wütend und habe Angst, aber ich bin nicht meine Wut und meine Angst. Wie alle anderen Dinge sind das alles nur kleine Teile eines sehr großen Mosaiks, das aus sehr viel mehr Teilen besteht. Und wenn ich das Mosaik mit etwas Abstand betrachte, dann erhalte ich ein wunderschönes Bild, das sehr viel mehr ist als all die kleinen Steinchen, die mich im Alltag bewegen.

Es stimmt: Das Leben ist anstrengend. Es nervt. Es tut weh. Und manchmal ist es kaum auszuhalten. Aber es ist großartig!

Mittwoch | Anne |von Mensch zu Mensch
Urlaubsreif

Vor einer Woche berichtet ich hier von unserem Urlaub. Doch inzwischen fühle ich mich urlaubsreifer als je zuvor. Dies wurde mir heute Abend beim Abendbrot bewusst. Mein Sohn (3 Jahre) mutmaßte, dass die Corona-Zeit Fünf Jahre andauern würde. Während ich noch überlegte, ob diese Annahme jetzt optimistisch, pessimistisch oder schlicht realistisch sein, überkam mich die Vorstellung, dass das ganze so tatsächlich noch 5 Jahre dauern könnte, wie ein Schock.

Ich dachte über die letzten fünf Monate nach und wie Kräftezehrend diese waren. Im Alltag, oder das was wir derzeit so nennen, nimmt man es gar nicht so war. Wie auch es gilt ja zu tun und zu machen, zu organisieren und und und. Aber in diesem Moment am Küchentisch fühlte ich mich mit einem Male unendlich müde und sehnte mich nach Alltag, ganz normalem Alltag.

Klar kann und soll nicht alles wie vor Corona sein. Da haben wir auch hier schon oft drüber geschrieben. Diese Krise bietet Chancen, die wir nutzen sollten. Aber so wie es jetzt ist, so kann es nicht weitergehen.

Infos zum Unterrichtsgeschehen und zur Kita-Betreuung erfährt man immer kurzfristig und wie genau der Unterricht ab morgen, bzw. Freitag stattfinden soll, dass weiß ich heute noch nicht.

Den Schulen und Kitas mache ich da noch nicht mal Vorwürfe, so müssen sie doch auf die Rahmenbedingungen warten auf Grund derer sie ein Unterrichtskonzept erstellen. Aber waren sechs Wochen Sommerferien dafür nicht ausreichend?

Und wie ein Damoklesschwert hängt eine weitere Schulschließung, oder Kita-Schließung über uns. Es ist nun mal nicht auszuschließen, auch wenn von Seiten der Politik beteuert wird, dass sie versucht dies zu vermeiden.

Aber falls es doch so kommt, dann heißt es wieder Homesschooling, wieder Balanceakt zwischen Kind, Haushalt und was sonst noch alles so im Alltag erledigt werden muss. Und dabei nicht sich selbst vergessen.

Nur klafft auch eine Lücke, zwischen sich selbst nicht vergessen und etwas für sich selbst tun und diese wurde in den letzten Wochen immer größer. Denn, nur wie ich weiß, dass ich etwas für mich tun sollte, heißt es nicht , dass ich auch Gelegenheit habe diese hehren Pläne umzusetzten. Meistens mangelt es an zeitlichen Kapazitäten. Warum hat der Tag auch nur 24 Stunden?

Ich hoffe, dass es nicht so kommt, dass die Schule, die Kita schließen muss. Ich hoffe, dass wir wieder zu einem Alltag finden, wie auch immer dieser aussieht. Und ich hoffe, dass ich, dass wir in diesem Ruhe und Kraft tanken können für alles was da noch so kommt, in diesem Jahr, im nächsten Jahr, in den nächsten fünf Jahren.

Donnerstag | Katharina |von Mensch zu Mensch
Meandern in der Misere

Manchmal fügen sich die Fäden meiner Wirklichkeit zusammen zu Geflechten meiner Ängste. Ich verwebe Gewesenes mit Gewünschtem, Aktuelles mit Antiquiertem, Hirngespinste mit Angstgespenstern. Es gibt Tage, da tauche ich aus diesen Gedanken auf und erfreue mich an meiner Wirklichkeit. Dann wirken diese Spaziergänge im Unerwünschten wie eine Expositionstherapie, die meine Ängste heilt. Manchmal denke ich die Eventualitäten aber auch durch, bis sie mir zur Wahrheit werden, die abzuschütteln mir schwer fällt. Aber immer ist es spannend, ihnen und damit mir zu lauschen.

Wo führen mich die Gedankenströme hin, wenn ich das Flussbett nicht vorgebe? Wie, wenn man sich bewusst ist, dass man träumt, schaue ich zu und versuche zu verstehen, was ich sehe. Welche Eindrücke verbinde ich? Welche Schnittmengen setzen sich zwischen den Episoden fest, die sich mir aufdrängen? Wo treffen sie auf fiktive Hinzufügungen, Überspitzungen, Abzweigungen, die ich so in der Realität nicht genommen habe? An diesen Kanten liegt eine Einladung, sich selbst zu verstehen. Vielleicht nehmen wir uns am Ende des Hirngespinstes in den Arm, um uns selbst zu trösten. Vielleicht können wir uns aber auch quasi von Außen eine Ratgeberin sein. Oder aber wir erkennen, dass es eine andere Wahl gibt, wenn wir beherzter und bewusster selber flechten.

Donnerstag | Katharina |Es war einmal…
"Wenn man lang genug steht, stellt man irgendwann fest." *

Als sie aus der Tür trat war ihr klar, dass sie nie wieder zurückkommen würde. Mit jedem Schritt, den sie auf der steinernen Treppe hinab lief, verblassten die Eindrücke der Wohnung. Der Spalt blauen Himmels, den sie beim Aufwachen morgens durch das Dachfenster über ihrem Bett sah, weil das Rollo nicht schloss, dieser kleine weiße Farbfleck an der Klinke zur klemmenden Badezimmertür, der rußige Dachbalken, den vor über hundert Jahren mal eine Weltkriegsbombe getroffen hatte, die eine knarzende Diele, diese schwarze Verkleidung am Griff des Ofens, die seit Jahren kurz vorm Fall stand aber immer wieder mit hilfloser Naivität an ihren Platz zurück geschoben wurde, in der Hoffnung, sie hielte wider besseren Wissens doch für immer.

Nichts ist für immer. Diese Gewissheit fraß sich seit sie denken konnte durch die Zellen ihres Körpers, die Schutzräume ihrer Seele, die Räume ihres Geistes, in die sie niemanden blicken ließ - manchmal nicht mal sich selbst. Ihr erster bester Freund, ein hellbrauner Löwe aus Stoff, verließ sie auf dem Weg vom Kindergarten nach Hause. Er muss vom Gepäckträger gefallen sein. Sie war vier und er war weg. Der Ersatz-Löwe - größer, heller, mit einer weichen Schnauze aus Samt - liegt immer noch in ihrem Bett. Aber das Original war schon lange nicht mehr da. Der Verlust verlor sich in den Eindrücken der Einschulung. In einer großen Turnhalle saßen unzählig viele Kinder. Sie trug dieses grüne Kleid mit dem tiefrosanen Kragen und der hellblauen Brille. War da noch eine Augenklappe gewesen? Sie erinnerte sich nicht. Den Clown mit dem Gartenschlauch, an dem ein Trichter befestigt war, erinnerte sie glasklar. Oder war das nur ein Foto? In ihrer neuen Klasse hingen Fotos einer anderen Einschulung an der Wand. Gruppentische, an denen gemalt und gebastelt wurde mit Gesichtern, die gemeinsam angefangen hatten und nun schicksalshaft an einander gebunden waren. Sie hatte vor zwei Monaten die Schule gewechselt, erinnerte den Clown, ihre Fibel, ihren Schulhof und den Moment, der neuen Klasse vorgestellt worden zu sein. Beäugt und wegsortiert als Neue unter Bekannten. Einer Gemeinschaft beraubt, die sie nicht einmal betreten hatte.

Mit jedem Schritt hinab aus dem Dachgeschoss hallte die Frage wieder, ob sie je Teil dessen war, was sie glaubte zu verlassen. Wie sehr sie das 'für immer' ersehnt hatte. Sie hatte darum gekämpft. Darum geweint. Darum gehofft. Darum so viel gegeben. Wenn sie nur fest genug hielt und angestrengt genug wollte, dann würde es dieses Mal klappen. Sie war so sicher gewesen. Sie wollte so gerne so sicher gewesen sein, dass sie die Augen verschloss, als das Verlieren begann.

Es waren Kleinigkeiten gewesen. Abends wendeten sie sich die Rücken zu, als es Zeit zu schlafen war. Ging er in der Wohnung an ihr vorbei fühlte sie sich wie ein Hindernis, nicht wie ein willkommener Teil. Hatte er sie nicht früher geküsst, wenn sie dort so stand? Wenn sie ging, drehte er sich nicht mehr um, um noch einmal zu lächeln. Irgendwann war es ihm egal geworden, dass sie ging. Sie gingen schweigend nebeneinander her. Hingen ihren Gedanken nach, ihren Leben, ihren Planungen. Wann hatte sie aufgegeben, ihn erreichen zu wollen? Die Stille raubte den Raum zwischen ihnen, wie die feine Glutlinie eines Papiers, die sich, einmal entzündet, unaufhaltsam voran bewegt, bis alles Asche ist und das Papier im Wind verweht. Sie erinnerte sich daran, dass sie atemlos versuchte, das Feuer mit hektischem Pusten zu stoppen. Aber sie entfachte die Brandlinie nur stärker. Je mehr sie wollte, desto schneller griff die Stille um sich und das Papier verschwand in ihren Händen.

Noch ein Stockwerk und sie fing ein weiteres Mal von vorne an: Suchen. Finden. Wollen. Geben. Warten. Geben. Warten. Wollen. Wollen. Wollen. Scheitern. Ein ums andere Mal fraß sich die Enttäuschung bis in ihr Innerstes und setze sich mit Genugtuung an ihren angestammten Platz irgendwo unterhalb des Schlüsselbeins in Herzensnähe. Sie war sich so sicher gewesen, dass es dieses Mal das letzte Mal sein würde. Er hatte sie nicht geplant und sei doch kopfüber in ein Gefühl gestürzt, aus dem es kein Entrinnen gab. Wie hatte er gekämpft. Wie sehr er sie gewollt hatte. Sie hatte ihm ihre Ängste offenbart. Hatte ihm die Wurmlöcher der letzten Enttäuschung gezeigt, die noch immer rot waren und ausgefranst auf Heilung warteten. Und letztlich hatte sie sich fallen und es zugelassen. Hatte Nägel in frisch verputzte Wände geschlagen, die nicht mehr trugen, als ein Blatt Papier, das darauf wartete beschrieben zu werden. Mit einer neuen Geschichte. Mit einem gemeinsamen Plan. Mit dem Versprechen, dass es irgendwann einen Rahmen bekommt, damit es nicht vergilbt im Vorbeigehen des Alltags. Aber sein Stift war leer geschrieben aus Kapiteln anderer Büchern. Sie glaubte ihm, dass er vorgehabt hatte, zu schreiben. Sie glaubte ihm, dass er liebte. Sie ließ ihm Platz, den Stift anzusetzen. Egal wann. Egal wo. Das Papier war geduldig. Flatterte hoffnungsvoll im Luftzug seines Vorbeigehens. Nun wehte seine Asche an ihr vorbei auf die Straße, als sie die Haustür öffnete.

Dumpf fiel die Tür ins Schloss. Sie ging.

Einen Fuß vor den anderen. Wie sie immer gegangen war.

"Und irgendwer / ruft mir hinterher / bleib so wie du bist. / Doch wenn man lang genug steht, / stellt man irgendwann fest, / dass sich alles bewegt / egal ob man bleibt oder geht."

(*Hannes Wittmer / Spaceman Spiff "Schwarz-weiß")

Freitag | Annika |von Mensch zu Mensch
Verschobene Prioritäten

Wenn ich noch vor einem halben Jahr gefragt worden wäre, worauf es mir im Leben momentan ankommt, wäre meine Antwort ziemlich einseitig ausgefallen: Sicherheiten schaffen, ein finanzielles Polster anlegen, Zukunftsplanung inklusive Hausbau und Familie. Ich habe so ziemlich alles nach genau diesen Prioritäten ausgelegt. Ich habe eine befristete Projektstelle (die mir, so nebenbei gesagt, ziemlich viel Freude bereitet hat) für eine Festanstellung aufgegeben. Ich habe mir eine Zukunft in der Stadt ausgemalt, in der ich lebe. Ich habe über Immobiliendarlehen nachgedacht.

Tja. Und dann kam Corona.

Und mit dem Virus kam bei mir nicht nur eine Menge Unsicherheit über gesundheitliche Themen oder gesellschaftliche Entwicklungen, sondern auch über mich und meine Pläne. Auf einmal war mir ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich dieser Job, dieser Wohnort, diese Zukunftsvorstellungen sein sollen. Ich bin noch nicht einmal 30 Jahre alt und so erwachsen, wie ich mich noch vor einigen Monaten fühlte, hatte ich nun plötzlich den Eindruck, mich in manchen Bereichen meines Lebens nicht mehr wieder zu erkennen.

Und dann kam die Angst. So richtig. Mit Panik, Engegefühl in der Brust und Schweißausbrüchen.

Ich hinterfragte jegliche Entscheidungen, die ich in den letzten Jahren getroffen habe. Und ich stellte alles auf die Probe. Job, Beziehung, Freizeitgestaltung. Das gestaltete es nicht nur schwierig für mich, sondern auch für mein Umfeld. Aber egal, was und wie hart ich es auch versuchte: Nichts fühlte sich mehr richtig an.

Sich selbst zu finden, ohne sich selbst dabei wirklich zu spüren, funktioniert nicht. Jetzt weiß ich das. Noch vor ein paar Wochen war ich von dieser Erkenntnis jedoch weit entfernt. Stattdessen war ich so gefangen darin, mich zu suchen und herauszufinden, was ich nun wirklich vom Leben möchte, dass ich überhaupt nicht bemerkte, wie ich mich dabei immer mehr von mir und meinen Gefühlen entfernte.

Nun wäre sicherlich der Punkt, an dem ich erklären sollte, wie ich es aus meinem Gedankenkarussel heraus schaffte. Tja. Ich würde es auch wirklich gern erklären. Allerdings gibt es momentan noch viel zu viele Tage, an denen ich noch mitten drin stecke. Und auch für die anderen Tage gibt es sicherlich kein Patentrezept. Mein persönliches Mittel war und ist - ganz klassisch - Kommunikation. Ich rede mit Freunden und meiner Familie. Ich beschreibe, in welchem gefühlten Stillstand ich mich momentan befinde. Ich versuche zu verbalisieren, was ich mir für meine Zukunft vorstellen kann. Und nach und nach fange ich an, mich wieder zu spüren. Die Gefühle, die mir meine Zukunftsvorstellungen vermitteln, wieder einordnen zu können.

Mittlerweile weiß ich zumindest schon einmal, dass ich nicht mein gesamtes Leben ändern muss. Dass es durchaus Konstanten gibt, die ich gern beibehalten möchte - weil sie gut tun und mein Herz angenehm füllen. Bei anderen Themen bin ich mittlerweile sicher, dass ich eine Veränderung benötige. Ich weiß nun, dass mir Sicherheit im Beruf nicht ausreicht, um glücklich(er) zu werden. Ich weiß, was ich mir beruflich nicht mehr wünsche - und mittlerweile auch, was ich mir gut vorstellen kann.

Und zumindest jetzt, für den Moment, kann ich sagen, dass sich der Gedanke an die Veränderungen, die ich gerade initiiere, gut anfühlt. Das ist ein Wahnsinnsschritt für mich, denn normalerweise triggern Veränderungen (oder nur die Vorstellung davon) meine Angst zuverlässig. Jetzt fühlt sich der Gedanke aber richtig an.

Alles andere wird sich ergeben. Ich neige oft dazu, zu viel auf einmal zu wollen und mich nicht gedulden zu können. Jetzt muss ich es allerdings aushalten. Ich möchte einen Schritt nach dem anderen gehen, eine Entscheidung nach der anderen treffen. Nichts überstürzen.

Klingt wahnsinnig toll und rational. Es gibt allerdings immer noch Tage, an denen mich die Angst heftig besucht. An denen ich am liebsten den Reset-Knopf drücken und meine Lebensplanung noch mal auf „Null“ stellen möchte. Geduld ist nun mal wirklich nicht meine Stärke… Aber es wird besser. Und ich bin nicht allein. Mein soziales Umfeld ist nämlich eine der Konstanten, die ich definitiv beibehalten möchte. Also konzentriere ich mich auf genau diese Sicherheiten, wenn sich plötzlich wieder alles so ungewiss anfühlt.

Ich glaube, ohne Corona wäre ich - zumindest jetzt - noch nicht an diesem Punkt angelangt. Vielleicht hätte ich stattdessen in zehn Jahren zurückgeblickt und mich gefragt, ob ich nicht genau in dieser Lebenssituation etwas hätte ändern sollen. Weil ich nicht wirklich in mich hineingehört habe. Jetzt aber habe ich (fast) alle Möglichkeiten, Veränderungen anzustoßen. Welche ich davon nun tatsächlich wahrnehmen werde, entscheide ich Stück für Stück. Und freue mich auf den Punkt, an dem ich möglicherweise in zehn Jahren stehen werde. Vielleicht nicht vollständig von Unsicherheiten befreit. Aber in der Gewissheit, dass ich in der Lage bin, mich und meine Lebenssituation zu verändern. Dass ich mich von meiner Angst nicht in die Enge treiben lasse, weil ich mich lieber in vermeintlicher Sicherheit wiege, als neue Wege zu gehen. Und egal, wie mein Weg von nun an aussieht - es wird der richtige sein. Weil er sich gut anfühlt. Weil er meiner Angst Stand hält. Weil er mich irgendwann an ein Ziel führen wird. Wie auch immer das dann auch aussehen mag.