Angst – eine mächtige politische Kraft

DASH Meinungsfokus von Wolfgang Chr. Goede

DASH Vorstand Wolfgang Goede

Mir sträuben sich sämtliche Haare bei dem, was fast vier Jahre nach Aufdecken des VW Abgas-Skandals bekannt wurde. Der Autokonzern war auch eine Hölle der Angst, wie in einer schonungslosen Dokumentation des „Stern“ im April zu lesen war. Mit Angst machte der Ex-Vorstand Martin Winterkorn sich seine Ingenieure gefügig und regierte damit bis in die untersten Etagen durch. Wen Big Boss auf dem Kieker hatte, wurde zum Wolfsburger „Schadenstisch“ zitiert. Dort wurde der Untergebene zur Schnecke gemacht.

Angst regierte bei VW

Deshalb nimmt es nicht Wunder, wenn die Belegschaft trotz vieler Mitwisser über die bei Dieselfahrzeugen eingebaute Betrugssoftware dichthielt und der Betrug erst nach fast zehn Jahren aufflog. Er bedrohte die Existenz von 650 000 Mitarbeitern, verursachte einen Gesamtschaden von geschätzt fast 80 Milliarden Euro – fast ein Viertel des Bundeshaushalts – und machte das international in höchstem Ansehen stehende „German Engineering“ zum Gespött der Welt.

Der Skandal wirft ein grelles Licht auf das Angstklima in der deutschen Wirtschaft. Darin eingeschlossen sind auch in die Medien, die als „vierte Gewalt“ und Kontrollorgan gelten. Als in einer großen Tageszeitung eine Unterschriftenliste über einen Missstand kursierte, stürmte der Chef durch die Redaktionsstuben und brüllte: „Wer unterschreibt, kriegt von mir eins in die Fresse!“

Angst vor übergriffigen Dirigenten

Bei einem Fälschungsfall, der bei vielen Leitmedien dieses Landes aufflog („Relotius“), hatte die ganze Branche weggeschaut, den Delinquenten sogar mit Preisen überhäuft. Nur einem hartnäckigen Einzelkämpfer war es zu verdanken, dass die Geschichte ins Rollen kam, gegen alle Einschüchterungsversuche. Des nackten Kaisers neue Kleider auf der Bühne der Wirklichkeit.

Und die vornehme Kulturszene selber? Das Klassik-Magazin „Crescendo“ griff in ihrer Maiausgabe Beschwerden über Meisterdirigent Barenboim auf, wie er Musikensembles gnadenlos schurigelt. „Aber warum kann sich ein Orchester aus oft über 80 erwachsenen Menschen nicht gegen die Ausfälle eines Dirigenten wehren?“, wundert sich Kommentator Axel Brüggemann.

Angst ist der Boden für Missbrauch

Von hier bis zur Kette unfassbarer und nicht abreißen wollender Missbrauchsfälle in Bildung, Kultur, Kirche sowie vornehmlich alter weißer Männer gegenüber Frauen (#metoo) ist ein kurzer Weg.

Unter diesem Sargdeckel von Angst und Schweigen ist es wiederum kein Wunder, wenn deutsche Arbeitnehmer mit Angststörungen selbige lieber für sich behalten. Statt sich dazu zu bekennen, ohne Angst vor Diskriminierung, und damit den Boden zu bereiten für eine positive Angstkultur, wie auch sich selbst aus dem Versteckspiel vor der Angst zu befreien.

Mut als Waffe gegen Angst

Mutlosigkeit und Angst regieren auch in der Politik, selbst wenn die Münchner Grünen im Europawahlkampf punkteten mit dem Slogan: „Eine mutige Gesellschaft lässt sich keine Angst machen.“ Im Widerspruch dazu stehen manche Parteivorsitzende von der Orts- bis zur Bundesebene im Ruf rücksichtsloser Zuchtmeister beim Durchsetzen vermeintlicher Parteidisziplin.

Weshalb es erneut Keinen Wundern kann, dass seit Jahren über die Umweltpolitik, Einwanderungspolitik, Rentenpolitik, Digitalisierung und eigentlich über die gesamte Zukunft gestritten wird, ohne Ergebnis. Keiner findet den Mut, die gordischen Knoten zu durchhauen.

Angstpolitik der Rechten

Wir sind unter der Käseglocke und geraten gerade auch deshalb auf die rechtspopulistische Schlagseite. Menschen mit Ängsten sind geneigt, sich den selbsternannten Führern anzuschließen, die Ordnung zu schaffen versprechen und alle Probleme auf Sündenböcke wie Ausländer und Einwanderer, mittlerweile schon wieder Juden abschieben. „Angst essen Freiheit auf“ heißt dazu eine aktuelle Publikation von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger*, die zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes zur mutigen Verteidigung der Grundrechte aufruft.

In diese Kerbe schlagen auch unverdrossen der Hamburger Rocker Udo Lindenberg und sein Panikorchester. Zu seinem 73. Geburtstag machte Udo klar, dass die Politik der Rechten eine Angstpolitik ist und diese die Ängste schüren, um wie Hamelnsche Rattenfänger verängstigte Menschen auf ihre Seite zu ziehen.

Republik der Angst

Doch es gibt Hoffnung. Mit ihren Freitagsstreiks haben couragierte Schüler heftige Böen in die internationale Klimapolitik und deutsche Parteipolitik gebracht. Endlich! Seit Menschheitsgedenken ist es Einzelnen wie Gruppen immer wieder gelungen, Angstkreisläufe zu durchbrechen.

Das fällt uns Deutschen vielleicht ein wenig schwerer, weil wir uns leichter als unsere Nachbarvölker in der „German angst“ verfangen. Der Historiker Frank Biess hat diese nationale Befindlichkeit in der Neuerscheinung „Republik der Angst“ im Zeitraum von 1945 bis heute unter die wissenschaftliche Lupe genommen**. Viele dürften in Beispielen aus sieben Jahrzehnten sich selbst erkennen (Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze, Waldsterben).

Aber Angst wirkt auch positiv!

Biess‘ Resümée ermutigt: „Die erhöhte Angstbereitschaft der Deutschen sensibilisierte sie auch für Gefahren (…) Die Angstgeschichte nach 1945 trug paradoxerweise auch zur Stabilisierung und letztlich auch zum ‚Erfolg‘ der Bundesrepublik bei.“ Die Angst als positiver Antrieb für das Gelingen von Staat und Demokratie, Offenheit, eines Tages vielleicht auch für die Angst-Entstigmatisierung – das macht in der Tat Mut.

© Text: Wolfgang Chr. Goede, © Fotos: Tine Vogeltanz