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Wochenende | 8. & 9. August 2020

Guten Morgen ihr Lieben,

herzlich Willkommen zur ersten Wochenendausgabe!

Wir laden Euch ein, durch die Texte der 360°-Rubrik zu wandeln - eine herrliche Vielfalt aus Erfahrungsberichten zu seelischen Erfahrungen (Monika berichtete Montag aus ihrem Klinikaufenthalt), dem Wunsch nach Kontrolle und Sortiertheit (Katharina | Donnerstag) sowie der Frage, ob das wirklich so sinnvoll ist (Johannes | Dienstag). Mit dem Tod haben wir uns auch sanftmütig und generationsübergreifend beschäftigt (Annika | Freitag) genauso mit dem blühenden Leben und dem warmen Sommergefühl während eines Konzertes im Tanzbrunnen (Anne | Mittwoch).

Welcher ist Euer Lieblingstext? Vielleicht hab ihr Lust, dies mit uns auf Instagram zu teilen.

Damit ein schönes Wochenende
vom ganzen Team von angstfrei.news 

Übrigens: Wir nehmen unser Motto ernst: Angst hat eine Stimme - Deine. Wir sind ein Team von Freiwilligen und schreiben über unsere Angst-, Lebens- und Alltagserfahrungen, ohne ein Richtig oder Falsch, oft mit Verstand und immer mit Herz. Wir freuen uns über dich in unserem Team. Trau dich einfach und schreib uns eine Mail an angstfrei.news@gmail.com.

Gefällt euch, was ihr lest? Was würdet ihr anders machen? Teilt es mit uns im Feedback

Eine Woche 360°

Montag | Monika | Von Mensch zu Mensch
“Dir einzugestehen, dass Du Hilfe brauchst, zeugt von Stärke“ (Gastbeitrag)

Pro-aktiver Umgang mit Ängsten und Depressionen. Dies ist während der weiterhin anhaltenden Pandemie ein wichtiger Teil persönlicher Psychohygiene. Erfahrungsbericht über einen 8-wöchigen Aufenthalt in einer Münchner Tagesklinik. Teil 2, von Monika*.

Das Jahr 2019 hat mich gründlich durcheinander gewirbelt, privat und beruflich, ein ständiges Auf und Ab. Einige Entscheidungen, die längst überfällig waren, hatte ich aufgeschoben, verdrängt oder aus Angst nicht getroffen. Ich wurde immer bedrückter, trauriger und missmutiger. Eine lähmende Antrieblosigkeit kam hinzu, für mich einen sonst recht aktiven Menschen kaum auszuhalten. Ich hatte einfach zu nichts mehr Lust. Ich zog ich immer mehr zurück und traute mir nichts mehr zu. Ende 2019, am Tiefpunkt angekommen, wollte und konnte ich so nicht mehr weitermachen**.

Aber was tun? Das Leben radikal umkrempeln, fällige Entscheidungen endlich treffen, den Job hinschmeißen, dazu fehlte mir zu dem Zeitpunkt die Energie, der Mut und die Kraft. Eine Therapie beginnen, in eine Klinik gehen, an einer Selbsthilfegruppe teilnehmen, wie schon vor vielen Jahren bei der Münchener Angstselbsthilfe? Erst mal bin ich zu meiner Hausärztin gegangen, die eine mittelgradige Depression / Burnout diagnostiziert hat und mich dann zu einem Psychiater überwiesen hat. Ich musste schnellstmöglich raus aus dem Hamsterrad.

Die Suche nach einem Therapieplatz in einer Klinik begann, ich habe mich für eine Tages-Klinik entschieden, ein stationärer Aufenthalt kam für mich nicht in Frage, da ich meine stabilisierenden Aktivitäten, wie Chor, Yoga und Ehrenamt nicht so lange unterbrechen wollte. In München, wo ich lebe, gibt es diverse Tageskliniken. Ich besuchte im Dezember einen Informationsabend in der CIP Tagesklinik in Schwabing und fand das Konzept ansprechend. Behandelt werden in dieser Klinik Depressionen, Burnout und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ich habe mich dann noch in derselben Woche für einen Therapieplatz angemeldet. Man sagte mir, dass ich ca. 8 Wochen warten müsste. Wie konnte ich diese Zeit überbrücken, zumal es mir noch sehr schlecht ging. Glücklicherweise fand ich nach 2 Woche einen Platz in einer ambulanten Akuttherapie, so konnte ich die Wartezeit auf einen Platz in der Klinik überbrücken.

Im Februar 2020 wurde die 2. CIP Tagesklinik in München Nymphenburg eröffnet. Ein Anruf im Januar, ob ich bei der ersten Gruppe im Februar dabei sein könnte, hat meine Wartezeit deutlich verkürzt. Anfang Februar ging es dann los. Der erste Tag, ich war nervös, was würde mich erwarten, wie werden die Therapeuten, die anderen Gruppenteilnehmer sein? Im Laufe des ersten Tages sind dann alle angekommen, 6 Frauen, 2 Männer, verschiedenen Alters. Wir waren die einzige Gruppe. Es war alles noch etwas im Aufbau in der Klinik, wir hatten das ganze Gebäude sozusagen für uns. Im Laufe der folgenden Wochen, kamen dann immer neue Gruppen dazu und das Haus füllte sich.

Worin besteht das Konzept der CIP Tagesklinik?
Was haben wir gemacht in den 8 Wochen?

Das Konzept basiert auf der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DTB). Man versteht darunter eine Form der kognitiven Verhaltenstherapie, die ursprünglich in den neunziger Jahren von Marsha M.Linehan zur Behandlung von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickelt wurde und viele therapeutische Methoden vereint, wie z.B. Mediation und Gestalttherapie.

Die Therapie baut auf einer dialektischen Betrachtungsweise auf. Dies bedeutet, der Patient wird in seinem Verhalten angenommen wie er ist, gleichzeitig soll auch eine Veränderung des Verhaltens gefördert werden („Für und Wider“ statt „entweder/oder“). Soziales Kompetenztraining, Abbau von Vermeidungsverhalten, und der Aufbau einer positiveren Grundhaltung zu sich selbst, sollen (wieder) erlernt und eingeübt werden. Ein wesentlicher Baustein der DBT ist das sogenannte Skills-Training. Es soll helfen in schwierigen Situationen, Fühlen und Denken zu verändern, somit innere Spannungszustände besser zu kontrollieren und Emotionen besser in den Griff zu bekommen. Hierbei konzentriert man sich auf die verschiedenen Ebenen des Erlebens: Gedanken – Gefühle – Körperempfindungen – Verhalten – Wirksamkeit – Emotionsregulierung – Stresstoleranz – Achtsamkeit. In der Klinik gibt es feste Gruppen von ca. 8 Teilnehmern, die die ganze Zeitspanne zusammenbleiben und das Programm gemeinsam durchlaufen (außer die Einzeltherapiestunden).

Die Dauer der Therapie bei Depression ist acht Wochen, bei Borderline meist 12 Wochen. Das Programm umfasste folgende Therapien:

  • Einzeltherapie 2x pro Woche – mit der Therapeutin, die einen während des gesamten Aufenthalts begleitet.
  • Skillsgruppe 1 - 2x pro Woche –  Fertigkeiten trainieren (Krisenbewältigung, Selbstwertregulation, Umgang mit Gefühlen, soziale   Kompetenz).  
  • Basisgruppe 1 - 2x pro Woche – Depressionsspezifische Psychoedukation und biographische Arbeit, wie zum Beispiel Bedürfnisse, Grundannahmen, Überlebensregeln, Emotionen. Auch Rollenspiele, wenn gewünscht.
  • Bezugsgruppe 1 - 2x pro Woche – zur gegenseitigen Unterstützung, ohne Therapeut, eine Art Selbsthilfegruppe, in der sich die Gruppe austauscht und gegenseitig unterstützt. Sollten Konflikte auftreten, wird die Gruppe von der Basisgruppenleitung unterstützt.
  • Körpertherapie 1x pro Woche – Achtsamkeitsübungen, Meditation, Qi Gong.
  • Kunsttherapie 1x pro Woche – Verschiedene Arbeitsmittel unter Anleitung ausprobieren, z.B. Arbeiten mit Ton, mit Aquarellfarben, Collagen, freies Malen.
  • Sporttherapie 2x pro Woche – Laufen, Gymnastik, wird je nach Fitnessstand der Teilnehmer angepasst.
  • Burnout Gruppe (optional) 1x pro Woche – Entstehung, Prävention und konkrete Übungen/Rollenspiele  aus dem individuellen Arbeitsalltag.
  • Psychoedukation meist 1x pro Woche.

Zu verschieden Themen, wie Ängste, Medikamente, Therapieformen etc. Der Tag beginnt mit einer Morgenrunde mit Teilnehmern der anderen Gruppen, nach einem kurzen Blitzlicht und eine Mediation startet der Tag. Zwischen den einzelnen Stunden war genügend Zeit für Rückzug im hauseigenen Ruheraum oder für Spaziergänge im nahe gelegenen Park. Zu Beginn verpflichtet man sich schriftlich auf Alkohol und Drogen während des gesamten Aufenthaltes zu verzichten - Stichproben können vom hauseigenen Arzt genommen werden.

Meine Erfahrungen:
Was habe ich gelernt, was war gut, was war nicht so gut?

Insgesamt bin ich sehr zufrieden mit dem Aufenthalt in der Klinik. Die Therapeuten waren ausnahmslos sehr nett, kompetent und der Umgang miteinander sehr wertschätzend. Wir haben viel Theorie über die Entstehung und Behandlung von Depression gelernt und das Erlernte dann auch versucht in Rollenspielen oder Übungen umzusetzen. Die Gruppensitzungen waren am Anfang sehr anstrengend für mich, da ich noch sehr gefangen in Ängsten war und es mir schwerfiel, mich zu öffnen. Gleich in der ersten Woche hatte ich fast eine Panikattacke, was mich sehr verunsichert hat. Wie geht‘s weiter, was kommt da alles hoch?, habe ich mich gefragt. Halte ich die acht Wochen durch? Mit der Zeit wurde es besser. Ich bekam mehr Vertrauen in die Gruppe und konnte die Stunden aktiver für mich nutzen. Konflikte blieben nicht aus, was normal ist in so einer langen gemeinsamen Zeit. Ein großer Vorteil gegenüber der reinen Einzeltherapie: Man bekommt Feedback nicht nur von den Therapeuten, sondern auch von der Gruppe. Dies empfand ich auch als sehr positiv in den Selbsthilfegruppen bei der Münchner Angsthilfe. Menschen in ähnlichen Lebenssituationen haben Verständnis für die eigene Situation und alle können voneinander lernen. Die Gruppendynamik trägt zur Genesung bei. Gewünscht hätte ich mir mehr körperorientierte Therapien, mehr Kunst-oder Gestalttherapie, über das alleinige Reden passiert bei mir nicht viel – Gefühle werden nicht so sichtbar. Die Pausen zwischen den einzelnen Therapiestunden waren wir manchmal zu lange und – ach ja: Corona kam dann Mitte März auch noch dazu – Maßnahmen zur Abstandsregelung beim Essen und während der Therapien wurden getroffen, eine Maskenpflicht gab es bis dahin noch nicht.

Wunder sind nicht geschehen in diesen 8 Wochen, ich fühle mich jedoch stabiler. Ich habe Fortschritte gemacht, kann mich besser abgrenzen, habe Nein-Sagen geübt, manchmal auch unangenehme Situationen einfach ignoriert, ohne mich gleich hinein zu steigern. Die Symptome haben sich gebessert, aber ich muss dranbleiben, werde weiterhin achten auf ausreichend Bewegung, gute Ernährung, meine sozialen Kontakte pflegen. Insgesamt bin ich achtsamer geworden mit mir, sowohl privat wie auch in der Arbeit. Ich bin froh, den Klinikaufenthalt gemacht zu haben, für mich ein Baustein einer langen, wohl lebenslangen Übungsstrecke.

Was nehme ich mit?
Ich bin wie ich bin, mit allen Stärken und Schwächen, ich muss es nicht allen recht machen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke, sich einzugestehen, dass man/frau Hilfe braucht. Es hat sich auf alle Fälle gelohnt. → DBT 

*) Dieser Report war für die daz bestimmt. Wegen eines plötzlichen Förderstopps muss die Deutsche Angstzeitschrift im 25. Erscheinungsjahr bedauerlicherweise eingestellt werden. Die letzte Ausgabe mit einem Schwerpunkt rund um Corona sowie den best-of angstfrei.news ist bestellbar bei → DASH/daz 

**) Mensch zu Mensch 18.05.20


Montag | Wolfgang | Es war einmal
Unser garcia-marquesker Kühlschrank

Garcia-marquesk ist eine W. Chr. Goede-Wortschöpfung ©. Die Adjektivierung Gabriel Garcia Márquez‘. Wie kein anderer steht der Nobelpreisträger für Kolumbien, seinen Surrealismus und seine Magie, mit Geschichten grotesker Absurditäten und Paradoxien. Ist nur Kolumbien garcia-marquesk – der Rest der Welt vielleicht sogar garcia-marquesker? 

8.30 Uhr in der Frühe. In Autoisolation versuchen wir uns auf unserer Finca 50 km entfernt von Medellín auf die Post-Hostel-Zeit* und neue Normalität einzurichten. Es gibt vieles zu richten, darunter Technisches. Seit unserer Ankunft schwächelte der Kühlschrank, heute morgen hat er zu brummen aufgehört. Darin alles lauwarm. Reparaturleute kommen und gehen. Unverrichteter Dinge. Hier muss was geschehen. Sofort! Der Verwalter geht unwillig an sein Handy. In Rekordzeit nach nur 15 Minuten erschallt von der Eingangspforte eine Motorradhupe. Ein Kühlschrankfachmann ist da und nimmt flugs die Elektronik des Geräts auseinander. In dem Moment kündigt sich ein seit langem überfälliger Mechaniker an. Der Verwalter zuckt hilflos die Achseln: „Wochenlang kommt keiner, plötzlich alle.“

Ist das garcia-marquesk?

Nein, Effizienz und Action, wenn man ein wenig Druck macht. Das machen wir Deutschen gerne. Aber aufgepasst! Damit verletzt man leicht Gefühle und Stolz der Einheimischen. Bei uns ist das Fell dicker gegenüber Druck. Mit dem Risiko, dass der so heißersehnte Handwerker auf stur schaltet und in Gänze abtaucht.

Kolumbien bleibt für viele ein ewiges Rätsel. Nicht nur wegen Pablo Escobar, dem Medellíner Al Capone, seit 27 Jahren tot, aber in Narkos Netflix-Serien lebendiger denn je. Allein der Blick über die Andenkordilleren, verhangen, erhaben, geheimnisvoll. Schweigende Zeugen einer turbulenten Vergangenheit. Ergebnis des Crashes von Erdplatten. Und der von Kulturen und Menschen.

Die Menschen, fast alle ausnahmslos freundlich. Aber was denken sie? Warum gibt es bei so viel Wärme so viel Blutvergießen? Konquista, Violencia, FARC ... Liebe, Ärger, Hass sind hier anders skaliert. Emotionen schlagen in alle Richtungen leicht hoch, enteilen rasch der Kontrolle. Vielleicht entschuldigen sich die Menschen deshalb so häufig. Um Konflikten im Keime bereits die Reißzähne zu ziehen.

Die Indigenen. Bei so viel Fröhlichkeit und Lockerheit der kreolischen Kolumbianer stechen die Überlebenden der Ureinwohner mit ernst-traurigen Gesichtern hervor. Wieviel Leid, Herabsetzung, historisches Unrecht haben sich in die Gesichter eingegraben? Eine Bevölkerung, die von Konquistadoren und Kolonisatoren regelrecht ausgelöscht worden ist. Deren Holocaust.

Garcia-marquesk?

Was könnten uns die indigenen Kulturen alles an Lebensweisheit verraten? Naturheil- und Naturkunde? Wie ihre so beeindruckenden Hochkulturen funktionierten? Die heute Überlebenden wissen es nicht mehr. Wir deshalb auch nicht. Unsere Quellen sind die der Spanier mit ihrem Blick auf die in ihrer Wahrnehmung gottlosen Untermenschen.

Die Fahrt zu den Küsten an Atlantik und Pazifik führt zu den Afro-Kolumbianern. Die wochenlangen Proteste der Afro-US-Amerikaner im Sommer 2020 haben uns die Augen geöffnet für die Schwarzen in den Amerikas. Die ehemaligen Sklaven aus Afrika werden bis heute schikaniert, diskriminiert, ermordet. Schwarz und Weiß bleiben, nicht nur farblich, Welten von Kontrasten und extremen Unrechts.

Gleichwohl, viele andere Völker waren nicht viel zartbesaiteter beim Unterwerfen anderer Völker. Inklusive die der Amerikas. Inka, Maya, Kariben, Chibchas. Pardon, liebe Karl May Fans, der gute Indianer ist ein Märchen.

Garcia-marquesk?

Kolumbien ist voller Märchen und Mythen. Rund um wilde Tiere, Verstorbene, die plötzlich als Wiedergänger erscheinen, als Geister, Gespenster, über den Himmel ziehen, um Mitternacht nach ihren vergrabenen Goldschätzen suchen. Garcia Marquez‘ Geschichten wimmeln davon. Die Quantenmechanik indes weiß: Alle Materie ist Energie und miteinander verbunden. Insofern gibt’s für das Garcia-Márquez’sche Zerfließen von Realität und Historie, Traditionen und Mythos eine starke wissenschaftliche Komponente.

Garcia-marquesk?

In San Jerónimo (kolumbianische Kleinstadt zwischen Medellín und Santa Fe de Antioquia) machen hahnebüchene Gerüchte die Runde. Sie könnten für einen garcia-marquesken Bürstenstrich taugen. Dass für jeden Corona-Toten die Regierung 30 Millionen Pesos zahle und dass jeder, der zum Arzt geht, sich automatisch infiziere.

Ungewissheiten und Ängste treiben kuriose Blüten in einer Landgemeinde. Menschen mit oft nur ein paar Jahren Schulbildung. Verschwörungstherorien sind Deutschland auch nicht fremd, selbst und besonders unter Forschern. Die renommierte Akademie Tutzing macht demnächst eine ganze Konferenz zu Verschwörung in der Wissenschaft.

Wenn der örtliche Schweißer beklagt, dass Autos vormals Jahrzehnte hielten, heute nur noch ein paar Jahre, weil viele Teile nicht mehr ersetzbar sind und dass er dahinter ein Komplott der Industrie vermute, ist das nicht unbedingt Verschwörung, sondern Realität – unsere ungeschminkte Konsum- und Wegwerfwirklichkeit. Ausplündern eines Planeten für fragwürdiges Wachstum und Bequemlichkeit.

Garcia-marquesk?

Unterdessen hält die Pandemie die Welt weiterhin im Klammergriff. Leichte Grippe? Genesene werden rückfällig. Impfstoffe sorgen vielleicht nur für ein paar Monate für Immunität. Nichts Genaues weiß man nicht nach sechs COVID-19 Monaten. Trotz aller Wissenschaft. Unheimlich. Wo kommt das Virus her? Wo geht’s hin? Was macht’s mit uns? Ein Präsident, der das Virus lange als Fake behandelte, worüber Zehntausende von Bürger*innen verstarben, erscheint neuerdings mit Gesichtsschutz in der Öffentlichkeit – und einer neuen Haarfarbe. Während eine digital-spätstalinistische Diktatur mauert, sich jeglicher Virusursachenforschung verschließt, internationale Abkommen mit Füßen tritt, Freiheit mit Panzern niederwalzt.

Ja, wie garcia-marquesk ist denn das? Was Meister Gabo daraus für Geschichten hätte schlagen können!

PS: Der Kühlschrank funktionierte wieder. Doch nach zwei Tagen kehrte er in den Schweigemodus zurück. Just als wir reklamieren wollten, sprang er wieder an. Mittlerweile ist er wieder verstummt. Doch garcia-marquesk?

*) Siehe angstfrei.news 1. Juni 2020, Corona Fallout
angstfrei.news 1. Juni  


Dienstag | Johannes | Von Mensch zu Mensch
Achtung, Kontrolle!

In dieser Rubrik "Von Mensch zu Mensch" schreiben verschiedene Autoren zu Themen, die sie bewegen. Ein immer wieder auftretendes Thema ist "Kontrolle": Die Kontrolle über die eigenen Gefühle, die Kontrolle über das eigene Leben, die Kontrolle über Aufgaben, die erledigt werden sollen und so weiter.

Meistens geht es in diesen Beiträgen darum, dass es nicht so recht funktioniert hat mit der Kontrolle. Man hatte sich etwas vorgenommen und dann kam es doch anders als man wollte. Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit führt dann zu schlechten Gefühlen: Man empfindet sich als Versager, der es einfach nicht kann, man verzweifelt an der Welt und sich selbst, man ist unglücklich über die Situation.

Der Wunsch, die Sachen unter Kontrolle zu haben, ist ein normales menschliches Bedürfnis. Das äußert sich auf verschiedenste Art und Weise. Manche Menschen versuchen zum Beispiel penibel, kleinste Bereiche ihres Lebens durchzuplanen. Andere begegnen den Unsicherheiten des Lebens beispielsweise damit, sich auf eine extreme Art zu ernähren, denn dann haben sie immerhin darüber die Kontrolle.

Wieder andere begegnen zum Beispiel den Unsicherheiten der Corona-Krise damit, Verschwörungstheorien zu glauben. Wenn jemand schuld ist und ich die Dinge einfach begründen und bekämpfen kann, dann habe ich scheinbar die Kontrolle. Wieder andere treiben exzessiv Sport, um wenigstens ihren Körper unter Kontrolle zu haben.Irgendwie versucht jeder, sein Leben unter Kontrolle zu bringen, um ein Gefühl der Sicherheit zu haben.

Persönlich bin ich der Ansicht, dass ich gar nichts unter Kontrolle habe (nachlesen kann man das hier). Ich glaube auch, dass das nicht weiter schlimm ist. Es spielt nämlich keine Rolle, was ich von der Welt glaube und welches Etikett ich ihr verpasse. Die Welt ist, wie sie ist, unabhängig davon, wofür ich sie halte.

Das heißt natürlich nicht, dass ich nicht auch versuche, die Kontrolle über mein Leben zu erlangen, um beispielsweise die Zukunft von mir selbst und meiner Familie zu sichern. Im Gegenteil: Ich versuche natürlich alles, was ich kann, um das zu erreichen, was ich erreichen möchte. Allerdings gibt es niemals eine Garantie, dass ich es erreiche. Ich kann nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt.

Zu viel Kontrolle führt automatisch zu Angst und Anspannung. Ich könnte mit meinem Kontrollversuch ja scheitern - und was passiert dann? Dann habe ich versagt, dann passiert etwas, das ich nicht will und das empfinde ich als schlimm. Natürlich findet das alles nur in meinem Kopf statt.

Kontrolle und Sicherheit sind das Gegenteil von Freiheit. Wenn ich alles kontrollieren möchte, dann bin ich weniger frei. Letzten Endes bin ich sogar weniger lebendig, denn Leben zeichnet sich dadurch aus, dass sich Dinge verändern.

Man kann viel Lebensqualität gewinnen, wenn man einen Teil der Kontrolle aufgibt und vertraut. Manchmal kann man sich einfach treiben lassen und schauen, was passiert. In der Regel passiert dann nur Gutes. Wirklich Neues kann man sowieso nur dann erleben, wenn man nicht die Kontrolle hat.

Die großen Weltreligionen sagen im Kern nichts anderes. Bei den einen heißt es Gottvertrauen, bei den anderen Loslassen. Die Aussage ist aber die gleiche: Habe Vertrauen und du findest deinen Frieden.

Kontrolle kann ein Gefühl der Sicherheit geben, schafft aber immer auch Angst. Vertrauen kann zu Frieden führen, ist aber immer auch mit Unsicherheit verbunden. Beides hat seine Berechtigung und für beides gibt es den richtigen Augenblick. Wenn das Pendel eher in Richtung Vertrauen ausschlägt, dann lebt man besser, glaube ich. Aber das muss jeder für sich selbst herausfinden und entscheiden.


Mittwoch | Anne | Von Mensch zu Mensch
Sommerferien

Nun sind nicht nur wir zurück aus der Sommerpause, auch die Sommerferien neigen sich in NRW dem Ende zu. Und ich bin froh.

Die Ferien in diesem Jahr waren anders als sonst und für uns kamen sie vor allen Dingen viel zu früh. Hatten wir hier doch gerade mal zwei Wochen regulären Präsenzuntericht in den Grundschulen, dann war der mühsam errungene Alltag wieder Geschichte. Und eigentlich sind die Ferien ja genau dazu da. Den Alltag mal hinter sich lassen. Doch für uns persönlich - und ich vermute ich/wir sind da nicht alleine - kam das jetzt zur falschen Zeit.

Wieder musste alles neu organisiert werden, war doch bis unmittelbar vor den Ferien noch nicht klar, ob und wie eine Ferienbetreuung stattfindet. Und ohne geht es bei uns nicht. Ich arbeite in einem Beruf, in dem Homeoffice nicht möglich ist, 6 Wochen Urlaub jedoch auch nicht.

Aber irgendwie hat es funktioniert. Irgendwie funktioniert es dann doch immer. Und dann sind wir tatsächlich kurzfristig weg gefahren.

Ich war mit meiner Tochter ein paar Tage in Hamburg. Es war schon eigenartig und ein komisches Gefühl begleitete uns. Diese Stadt, in der ich zu Studienzeiten so manches Wochenende gefeiert hatte, nun unter diesen Umständen zu besuchen, war befremdlich. Zu sehen, dass viele der damaligen Anlaufstellen, sprich Kneipen und Veranstaltungsorte noch und bis auf weiteres geschlossen hatten. St.Pauli, Karoviertel mit Abstand, komische Sache. Aber feiern war ja eh nicht geplant. Dann saßen wir abends an der Landungsbrücke 10. Die Elbe vor uns und St. Pauli im Rücken. Vor- und/oder nach dem Feiern… damals war dies für mich immer ein Ort der Ruhe. Und unweigerlich ging mir durch den Kopf, ob meine Tochter wohl mal an einem dieser Orte feiern wird, die nun geschlossen waren. Ob sie Corona überdauern. Welch sentimentaler Gedanke. Die Zeiten ändern sich, die Gesellschaft ändert sich, so auch Orte der Kunst, Kultur und des abendlichen Zusammenkommens. Wir werden sehen.

Zum Urlaubsabschluss, wieder zurück in Köln besuchte ich tatsächlich ein Konzert. Ich hatte lange überlegt, ob ich es wagen sollte, oder lieber nicht. Ist es vernünftig so eine Veranstaltung zu besuchen? Kann ich das verantworten? Aber andere fliegen in Risikogebiete, da kann doch ein Konzert nicht so schlimm sein…. So diskutierte mein Gewissen mit meinem Bedürfnis nach Live-Musik.

Ich ging hin. Und ich war aufgeregt wie vor meinem ersten Konzert, damals mit 11 oder 12. Immer wieder fragte ich mich, ob es das wert sei. Rock’n Roll ist doch keine Sitzveranstaltung. Ob das unter den Umständen überhaupt ein gutes Konzert sein könnte… Und dann saß ich im Tanzbrunnen. Die Stimmung war gut, alle ein wenig aufgeregt und nervös. So wie ich auch. Alle hielten sich ganz wunderbar an die Abstands- und Hygieneregeln. Es wurde nicht mitgesungen, dafür aber um so mehr geklatscht. Es wurde nicht gemoscht, dafür mit voller Inbrunst mit dem Fuß gewippt. Und ich stellte fest, Rock geht auch im Sitzen. Wenn man nur will.

Ich hatte den Eindruck das alle - Publikum, Künstler und Band so dankbar waren, diesen Abend gemeinsam verbringen zu dürfen. Wie junge Welpen, wie Kinder an der Einschulungsfeier. Niemand wollte etwas falsch machen, damit uns diese Möglichkeit, zusammen Kunst und Kultur zu genießen, nicht wieder verloren geht. Diese unbändige Freude schaffte eine Gänsehaut und das bei hochsommerlichen Temperaturen von über 30°.

Und dann ein letztes Lied. Mein Lieblingslied. „Ein Satellit sendet leise“

Danke!


Donnerstag | Katharina
Strg + N

Wie um alles in der Welt konnte es August werden? Als ich die Zeit das letzte Mal bewusst wahrgenommen habe, war es der tausendzweihundertdritte März oder kaum April. Und irgendwo im Nimbus dieses Zeitloches ist meine To Do Liste zerflossen wie eine Liebschaft, der man zwar viel Energie aber wenig konkrete Zuwendung schenkt. Ich habe in den vergangenen Monaten immer wieder einen dicken Strich gezogen, um zu schauen, wo ich auf dem welken Zettel stehe, aber da ich zeitweise nicht oben von unten unterscheiden konnte, wusste ich diese Linie nicht einmal gerade zu zeichnen. Und jetzt ist August, die Ferienzeit neigt sich dem Ende und ich versuche erneut einen Neustart im Treibsand. Reinen Tisch machen. Tabula Rasa. Neu anfangen. Strg + N. 

Mein erster Schritt dafür scheint paradox: ich lege alles offen. Vor dem Nichts steht das Chaos der Aufgaben, Verpflichtungen und Verbindlichkeiten. Ich liste auf und streiche weg, sortiere um und fasse zusammen. Dafür, dass ich nichts geschafft habe, habe ich ganz schön viel erledigt (ob alles davon das war, was ich mir vorgenommen habe, ist freilich eine andere Frage). Ich habe eine erste Studie für meine Doktorarbeit konzipiert und durchgeführt. Die Auswertung ist eine Herausforderung - auch weil ich gerne vorher mehr gelesen hätte - aber ich plane meine erste Veröffentlichung. Dafür, dass ich dachte, ich stehe mir mit beiden Füßen im Weg und auf der Bremse, habe ich ein ganz schönes Stück weg zurück gelegt. Gleiches gilt für mein Frauennetzwerk: Wir haben ein Curriculum auf die Beine gestellt, unsere Online-Auftritte überarbeitet und bereiten uns auf eine virtuelle Konferenz vor und ganz neben bei habe ich einige inspirierende Weggefährtinnen dazu gewonnen. Ganz zu schweigen von angstfrei.news - was als ein Krisenbewältigungsprojekt gestartet ist, hat sich zu einem festen Angebot entwickelt und schon die ein oder andere Turbulenz überstanden. Wir haben nun einen neuen Turnus, einen Instagramkanal und freuen uns über die Veröffentlichung einiger unserer Texte in der letzten Ausgabe des DASH-Magazins. Irgendwie läuft’s. Oder?

Warum ist mir das nicht aufgefallen?
Ich glaube, für mich gibt es dafür drei Kerngründe: 

(1) Zum einen bin ich es gewöhnt, die Kontrolle zu haben - vielleicht fasziniert mich das Thema auch deswegen wissenschaftlich so sehr. Es ist etwas, das ich in zwölf Jahren in sechs Ländern an zehn Orten in knapp 20 Wohnungen gelernt habe: Einen Plan zu haben, gibt mir Sicherheit und macht mich zufrieden - auch wenn der Plan ist, keinen zu haben. Ich bin das Produktivsein gewöhnt, das daraus entsteht und ein Bisschen macht es mich aus. Ich bin was ich tu - manchmal mehr als dass ich tu, was ich bin. In den vergangenen Monaten war es wie dauerhaft auf Pause zu stehen, ohne Pause zu machen. Wie dieses Geräusch, wenn man bei einem alten CD-Spieler auf Pause drückt - klick, klick, klick, klick… - die Musik steht, aber sie anzuhalten kostet ähnlich viel Kraft, als sie laufen zu lassen. Und so richtig angehalten habe ich sie letztlich ja nicht. So war Kontrolle gleichermaßen ein Hirngespinst wie das Anhalten. 

(2) Der zweite Grund für den gefühlten Stillstand ergibt sich aus dem ersten: Durch die letzten Wochen und Monate habe ich mich bewegt, wie durch Sirup. zäh fließend, jeder Schritt kostete mehr Kraft als üblich. In der Konsequenz war ich so an die Arbeit und die Langsamkeit des Vorankommens gewöhnt, dass ich den zurückliegenden Weg schlicht nicht wahrgenommen habe, weil ich so mit dem Kraftakt es nächsten Schrittes beschäftigt war. 

(3) Letztlich habe ich mehr im Honig festgesteckt, als ihn aus der Sache zu ziehen. Wenn man etwas geschafft hat, sollte man sich darüber freuen und sich selbst mal auf die Schulter klopfen (eine Weisheit meines Vaters). Aber wie soll man den Honig rausziehen, wenn man erstens nicht das Gefühl hat, den Erfolg gesteuert zu haben und zweitens alle Kraft dafür verwendet hat, sich millimeterweise fortzubewegen? Vielleicht, indem man nicht ständig probiert, sich im Sirup fortzubewegen, sondern sich statt dessen mal einen Finger gönnt. 

Gestern habe ich das probiert. Auf meiner Webseite habe ich eine Seite mit Arbeitsproben angelegt. Eine klitzekleine Auswahl von Dingen, die ich in den letzten Jahren so produziert habe. Schön war das und ein herrlich süßer Moment des Geleisteten (wer es sehen mag, klickt hier). Naja gut, es war auch ein wenig Aufschieberei anderer Dinge - aber es geht doch nichts über ein kleines Bisschen produktives Prokrastinieren. Aber dazu zu einem anderen Zeitpunkt mehr. Ich müsste mich jetzt wirklich mal um die Dinge kümmern, die eigentlich auf meiner Liste stehen, Tabula Rasa machen - ich hab heute schon wieder nichts geschafft … 


Freitag | Annika
Die Stärke im Kleinen

Es gibt Tage, an denen ich mit meiner Mutter telefoniere und schon nach dem ersten Satz höre, dass irgendetwas nicht stimmt. Heute war leider so ein Tag. Und nach einigem Hin und Her erzählt sie mir von einer Diagnose, die meine Familie nun schon seit knapp sieben Jahren begleitet. Eine Diagnose, die mit viel Schrecken und Ungewissheit verbunden ist. Und die nun meine Uroma getroffen hat.

Schock, Angst, mein Herz krampft sich zusammen. Ich bin auf diese Situationen schon getrimmt, mein Kopf schaltet sofort in den Organisationsmodus um. Was passiert jetzt, was können wir machen, wie geht es weiter? Es stellt sich heraus, dass meine Uroma wahrscheinlich Glück im Unglück hatte. Dass es möglich ist, dass sie mit den richtigen Medikamenten noch mehrere Jahre bei uns bleibt. Doch so wirklich kommt der Gedanke, dass es gut ausgehen kann, bei mir noch nicht an. Der Organisationsmodus läuft noch.

Meine Uroma ist 92 Jahre alt. Geistig vollkommen fit, körperlich bisher nichts, außer die üblichen altersbedingten Erscheinungen. Und doch redet sie, seit ich denken kann, über ihren Tod. In den letzten Jahren besonders viel darüber, wie gern sie wieder bei meinem Uropa wäre, den sie mittlerweile das neunte Jahr überlebt. 

Ich habe heute mit ihr telefoniert. Und weil ich ein bisschen Angst davor habe, wie das Gespräch verläuft, beginne ich mit: „Mensch Omi, was machst du denn für Sachen?“. „Mir bleibt auch nichts erspart“, entgegnet sie. Nicht leidend oder traurig, sondern in dem üblichen trockenen Ton, den sie so oft an den Tag legt. Und ich muss grinsen. Da war sie wieder, meine Uroma. Wir sprechen auch in diesem Telefonat über den Tod und irgendwie bin ich fast ein bisschen froh darüber, wie oft sie das Thema in den letzten Jahren angesprochen hat. Das erleichtert es nun, in einer Situation, in der sie damit noch einmal mehr konfrontiert wurde, darüber zu reden. Und wieder erwähnt sie meinen Uropa. Erzählt mir davon, dass sie ihn vermisst. „Ich vermisse ihn auch“, sage ich ihr. „Aber er möchte scheinbar, dass du noch ein bisschen bei uns bleibst“. „Das stimmt. Und gerade jetzt wäre es ja auch ein bisschen schade. Ich habe mir doch gerade neue Möbel gekauft, die möchte ich mir auch noch ein bisschen ansehen, bevor ich die Radieschen von unten betrachte“. Erneut der trockene Ton. Ich grinse wieder. 

Damit war das Thema Tod dann auch - für den Moment - abgeschlossen. Wir reden stattdessen darüber, dass man auch im Alter durchaus eitel sein und Wert auf sein Äußeres legen darf. Dass sie in den nächsten Tagen ihren Schrank ausmisten und Platz für ein paar neue Kleidungsstücke schaffen möchte. Und wir reden über ihren 93. Geburtstag in drei Wochen. Als ich sie frage, was sie sich wünscht, sagt sie: „Gesundheit. Und vielleicht ein Parfüm. Aber kein teures“. Wieder Grinsen. „Aber du musst es doch nicht bezahlen, Omi“. „Ja, das stimmt. Aber ich möchte auch nicht, dass ihr so viel Geld für mich ausgebt. Und eigentlich brauche ich ja auch nichts“. 

Nach dem Ende unseres Telefonats ist mein Organisationsmodus - zumindest vorerst - ausgeschaltet. Ich beruhige mich langsam wieder. Meine (körperlich) kleine Uroma hat mir mal wieder gezeigt, dass sie eigentlich eine ganz Große ist. Sie hat mir gezeigt, was Stärke bedeutet. Dass es dabei nicht um die Abwesenheit von Angst geht, sondern darum, vor den eigenen Ängsten nicht davon zu laufen. Sich Situationen zu stellen, auch wenn sie manchmal schwer sind. Sie hat einen Krieg durchlebt, früh ihre Schwester verloren und zwei Kinder großgezogen. Nebenbei hat sie gearbeitet. Ihr Leben bisher war oftmals alles andere, als rosarot. Und doch hat sie sich immer wieder durchgekämpft.

Meine Uroma hatte schon immer eine derartige Gelassenheit, mit dem Thema Tod umzugehen, dass ich sie darum beneide. Ich selbst bin noch lange nicht an diesem Punkt. Aber wenn alles gut geht, liegen vielleicht auch noch über 60 Jahre Lebenserfahrung vor mir, um dort anzukommen. Für den Moment hoffe ich, dass meine Uroma noch einen großen Teil dieser Jahre bei uns bleibt. Dass ihre trockenen Kommentare uns noch für eine lange Zeit manchmal in den Wahnsinn treiben und manchmal zum Lachen bringen. Und dass sie, wenn es irgendwann so weit sein sollte, mit einem Lächeln gehen kann. Und uns vielleicht noch einen ihrer Sprüche mit auf den Weg gibt. Vielleicht beschwert sie sich dann auch wieder über ihre Friseurin, das Restaurant, in dem es ihr letztens nicht geschmeckt hat oder den Nachbarn von Gegenüber. Wer weiß das schon. Wir werden sehen.