Wochenende 19.|20. September 2020
Einen wunderschönen Start ins Wochenende,
wir haben euch wie immer die 360 Grad Texte der Woche zusammengetragen, für diejenigen, die sie noch nicht gelesen haben und auch für die, die nicht genug bekommen können. Außerdem geht die am letzten Wochenende begonnene Podcast-Trilogie für den Mental Health Aktionsmonat am morgigen Sonntag in die zweite Runde. Als kleines Stichwort für die beiden Texte von Yvonne und Katharina sei hier schon einmal “Zuhause” genannt.
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Wolfgang berichtet am Montag von in dem er von Hafenwelten und Seeschlachten. Nicht von echten und nicht von aktuellen, sondern von Miniaturen die er als Kind mit Freunden in Regenpfützen aufbaute.
Am Dienstag regt Anne dazu an, auftauchende Hindernisse als Chancen dazu zu sehen, den eingeschlagenen Weg einmal zu hinterfragen. Mittwoch stellt sie dann die Frage, was wir eigentlich alles “wollen müssen”, frei nach dem Song “Müssen nur wollen” von Wir sind Helden. Ein schönes Plädoyer dafür, es auch einmal locker anzugehen.
Katharina erzählt am Donnerstag von ihrer Erfahrung mit dem Fasten und wie es ihre Wahrnehmung veränderte. Da kann man nur sagen: Weniger ist tatsächlich manchmal mehr!
In Annikas “Von Mensch zu Mensch” vom Freitag nimmt sie uns mit auf eine Reise durch die Geschichte ihrer eigenen Angsterkrankung. Sie erzählt, wie diese auf der Autobahn begann und wie Humor ihr dabei hilft, mit ihr zu leben.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
das Team von angstfrei.news
Übrigens:
Wir nehmen unser Motto ernst: Angst hat eine Stimme - Deine. Wir sind ein Team von Freiwilligen und schreiben über unsere Angst-, Lebens- und Alltagserfahrungen, ohne ein Richtig oder Falsch, oft mit Verstand und immer mit Herz. Wir freuen uns über dich in unserem Team. Trau dich einfach und schreib uns eine Mail an angstfrei.news@gmail.com.
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360° - Die Texte der Woche
Montag, 14. September
Borkenkapitäne im Glück
von Wolfgang
159 Tage strenger Corona-Lockdown in Kolumbien. Eigentlich wäre ich am 1. April in München wieder gelandet. Jetzt gehen wir auf Mitte September zu und ich hoffe auf einen Flug im Oktober. Um mich abzulenken, bin ich Filmemacherin Doris Dörris‘ Rat „Leben, Schreiben, Atmen“ gefolgt. Gleich beim Aufstehen, wenn das Gehirn am frischesten ist, ein Geschichtchen zu schreiben. Einfach so: runtertippen, ohne nachzudenken. Das ist in der Tat befreiend, eine Dosis Glück, in Corona-Krisen und anderen. Hier meine Story vom 11. Juni 2020, nach knapp drei Quarantäne-Monaten.
Don Germán war bekannt für kluge Sprüche. Auf Spanisch klingt dieser ein wenig charmanter als auf Deutsch – pardon: „Mit einem Stückchen Scheiße spielen und dabei glücklich sein“. Das war einer seiner Favoriten. Gott hab ihn selig. In seinen einfachen Weisheiten lebt er in mir fort.
Unser Stückchen Scheiße war die Volbehrstraße. Die Straße, an der ich aufwuchs. Ein besserer Feldweg, bevor sie in den 1960ern asphaltiert wurde. Bei Regen, und der war an der Waterkant häufig, ging sie in Schlamm, Pfützen, Morast unter.
Für uns Kinder war das unser Abenteuerspielplatz. Autos gab es noch kaum in den 1950ern. Die wenigen fuhren bedächtig um die Schlaglöcher herum. Elterliche Freunde, die Bendixens, bangten bei jedem Besuch um ihre Isetta und stellten sie präventiv stets am Anfang der Straße ab. Ab und zu kurvte ein dreirädriger Lieferwagen, der Goliath durch die Kraterlandschaft. Der entweder Kohlen, Kartoffeln oder Heringe verkaufte. Ein Fahrzeug schon damals, wie aus dem Museum, das noch aus der Vorkriegszeit stammte.
Wir Kinder schnitzten unsere Fahrzeuge aus Holz. Oder klebten sie aus Streichhölzern zusammen. Und wenn es dann wieder regnete – das war unsere Stunde. Gummistiefel an, wer solche hatte – damals noch eine kostspielige Fußbekleidung – mit Löffeln aus Küche und Schaufelchen bewehrt ging’s raus aufs Pfützenmeer. Hier entstanden die größten Ingenieursbauwerke der Welt.
Zwischen zwei Regenlachen etwa der Panamakanal. Von dem hatten einige damals schon gehört. Für uns imposanter als der unweite Nord-Ostsee-Kanal. Der war sonntags beliebter Ausflugsort. Das große Abenteuer vorbeiziehender Schiffe aus aller Welt aus ein paar Metern Entfernung. Große Inspiration. Als kleine Rinne im Meer von Volbehrstraßenpfützen kam auch er zu seinem verdienten Recht.
Eine besonders große Regenlache tauften wir den Atlantik, von dem wir damals bereits ahnten, dass er viel größer als unsere heimische Ostsee war. Wir spielten Gott und waren gnädig. Eine kleinere Lache ernannten wir zum Westensee. Das war unser 20 Kilometer entfernter mückenvernebelter Badesee. Dem verpassten wir kurzerhand einen Zugang zum Atlantik.
Nachdem die große Topografie geregelt war, ging‘s ins Kleinklein. Das Anlegen der Häfen. Wellenbrecher. Kais zum Festmachen. An den strategisch wichtigen Stellen Leuchttürme. Das alles aus Steinchen, Holzstückchen, Blättchen, die auf der Straße herumlagen oder wir aus Hecken und Vorgärten klaubten.
Die Sternstunde: Stapellauf. So euphorisch für uns Schiffsbauer, dass keine Champagnertaufe ihn genussvoller hätte machen können. Unsere selbstgebauten Schiffchen wurden zu Wasser gelassen, das heißt in die trübe braune Soße dieser Pfützerei. Aber das sahen wir nicht so verklemmt. Für uns war das reinstes Meereswasser, wie jenes, das wir von den weißen Stränden der Kieler Förde kannten.
Was da nicht alles drauf schwamm. Klar, ein Fischerboot durfte nicht fehlen. Irgendwo her mussten ja die Heringe für den Goliath kommen. Am beliebtesten waren aus weicher Borke herausgeschnittene Einbäume, die ein paar Masten aus Stöckchen aufgesetzt bekamen und als mächtige Ocean-Liner in der kindlichen Phantasie durchgingen.
Mann, da war die Titantic, von der keiner von uns damals je gehört hatte, gar nix dagegen. Kinderkapitäne so stolz wie Bolle manövrierten die Riesen durch die Pfützen, ins Netz von Kanälen zu den Häfen. Konnte eine Transatlantik-Reise jemals aufregender gewesen sein? Unsere Phantasie zauberte alles in diese Szenerie hinein, was in dieser trüben Matschlandschaft fehlte. Kreuzfahrttörns sind vermutlich ein wahrer – pardon – Scheiß dagegen.
Machtgerangel und Angeberei waren uns in dieser idyllischen Kinderwelt nicht fremd. Da tauchte eines Regentages der Nachbarjunge auf mit richtigen Schiffchen, Miniaturen aus Blei, einer ganzen Kriegsflotte. Wahrscheinlich Vatter oder Opa aus dem massiven Eichenbücherschrank entwendet. Den neben Duden, Bertelsmann Lexikon, Schillers und Goethes Werken auch Nippes zierten, wie Kriegsschiffe. Die mit den langen Schornsteinen aus der Kaiserzeit. Mit denen das Reich den Tommys Dampf unterm Hintern machen wollten im Kampf um Seeherrschaft und Kolonien.
Den heißbegehrten Platz an der Sonne fand unser Mitspieler mit seiner martialischen Marineshow freilich auch nicht. Die Dinger waren viel zu schwer und schwammen nicht. So bekam er dann einen Platz im Matsch, wo er seine Kanonenboote aufreihen durfte. Mit ihrer hellgrauen Tarnfarbe im Schmutzgrau der Straße machten sie das Ganze richtig geil.
Auch wenn wir noch nicht wussten, wohin der Panamakanal führte. Die Nordsee mit ihren Sturmfluten und der „Blanke Hans“ waren uns sehr vertraut. Mit Steinwürfen sorgten wir in der Nordseepfütze für einen richtigen Hexenkessel. Und retteten uns über die Elbe in den Hamburger, via Nord-Ostsee-Kanal in den Kieler Hafen.
Wenn‘s so richtig dramatisch geworden war, erschallte plötzlich ein resoluter Ruf von den Grundstücken: „Mittagessen!“ Die Mütter, damals noch Vollhausfrauen, riefen zu Tisch. Dieser Ruf war Befehl, sie unser Oberkommando. Dagegen musste selbst der Kapitän der Borken-Titanic kuschen.
Also, Essen heruntergeschlungen, mit vielen, den damals obligaten, oft fast matschig gekochten Salzkartoffeln. Dann wieder hinausgestürmt in den sich wettermäßig aufklärenden Tag mit ersten blauen Fetzen am Himmel.
Oh weh!
Ein Tsunami war über unser Ingenieurswerk hergefallen und hatte alles zerstört. In Gestalt eines Autos, das unsensibel mitten durch unsere Wasserwelt gekarrt war. Da war kein Herr Bendixen am Steuer gewesen. Alle Dämme, Molen, Kanäle, Kaimauern kaputt, in Ruinen. So wie sie die Stadt und den ehemaligen Kriegshafen nach den Bombardements noch zerfurchten.
Wenn kurz darauf die Sonne hervorbrach und die Straße trocknete, spätestens dann hätten wir uns sowieso ein neues Spiel ausdenken müssen. Auf Bäume klettern, in den Abendstunden durch die Gärten der Nachbarschaft stromern. Große Abenteuer, im Nachhinein eine wunderschöne Zeit, die mit Corona-Entbehrungen und Ängsten versöhnt. Davon erzähle ich das nächste Mal.
Dienstag, 15. September
Es geht auch anders
von Anne
Manchmal hat man einen Plan. Eine Idee. Ein Ziel, welches man erreichen will. Man macht sich auf den Weg, den Kompass genau ausgerichtet. Anfangs geht es noch leicht und beschwingt und gut gelaunt. Voller Tatendrang, schreitet man mit großen Schritten eben diesem Ziel entgegen. Dann wird der Weg eventuell ein klein wenig holpriger. Vielleicht ist er auch nicht mehr so gut sichtbar, wird zum kleinen Pfad, welcher langsam ansteigt. Es wird schwieriger, anstrengender und die anfängliche Motivation lässt auch langsam nach, ob der Schwierigkeiten, die sich einem in den Weg stellen. Und vielleicht wird es sogar noch schwieriger, ja scheinbar unmöglich, den eingeschlagenen Weg fortzuführen. Der Weg wird steiniger und immer mehr Geröll machen ihn scheinbar unpassierbar, schichtet sich zu einer Wand auf, ohne dass wir erkennen können ob und wie unser Weg dahinter weitergeht.
Was nun. Erschöpft und frustriert, wohl auch entmutigt und scheinbar hoffnungslos verharren wir vor diesem Hindernis.
Ob dieses Hindernis, welches uns den Weg so erschwert, nun unsere Ängste sind, oder Schicksalsschläge, oder auch die Corona-Krise. Ich bin mir sicher, jeder von uns kennt sie, auch wenn wir ihnen unterschiedliche Namen geben.
Im ersten Moment scheint es nur zwei Optionen zu geben. Entweder aufgeben und uns vor diesem Haufen Schutt und Geröll einrichten. Entscheiden, dass wir unser Ziel nicht erreichen werden und es auch nicht weiter versuchen. Die andere Möglichkeit ist es sämtliche Kraftreserven und Mut zu mobilisieren um diesen Berg zu erklimmen, zu überwinden, oder ihn abzutragen und auch hierbei an die letzten Kraftreserven zu gehen. Aber was dann? Schaffen wir es dann überhaupt noch den Weg, der dann wieder frei vor uns liegt, weiter zugehen, oder sind wir dazu inzwischen zu schwach.
Ich glaube es gibt noch eine dritte Option. Wir können einen Moment vor unserem Berg halt machen, durch atmen und zur Ruhe kommen. Und vielleicht stellen wir fest, dass es auch anders geht. Vielleicht stellen wir fest, bei Betrachtung unsers Geröll-Berges, dass dort ganz versteckt die Steine nicht wahllos und im Chaos angeordnet sind, nein, dort ist eine Treppe. Sie ist nicht die sicherste und ein Geländer ist nicht vorhanden, aber wenn man genau hinsieht kann man die Stufen ausmachen. Es braucht ein gute Mischung aus Vorsicht und Mut, gut geschüttelt mit einem ordentlichen Schuss Achtsamkeit, um diese Treppe zu erklimmen, aber es ist möglich. Und der Weg ist immer noch anstrengend, aber nicht so Kräfteraubend wie der Hals-über-Kopf-Gipfelsturm, oder das Abtragen der Steine.
Aber vielleicht ist auch keine Treppe sichtbar. Statt dessen erreichen andere mit dem selben Ziel ebenfalls den Berg aus Stein und gemeinsam wird dieser, Stein für Stein abgetragen, um so auch zukünftigen Wanderer den Weg zu vereinfachen.
Und falls auch das nicht der Fall ist, dann hilft manchmal ein Blick nach links oder rechts, ob sich ein kleiner Trampelpfad um den Berg herum ausmachen lässt. Mit Sicherheit wird man dort von dem ein oder anderen Busch gezwickt und gepickt und man stolpert über so manche Wurzel, die man übersah. Aber machbar ist dieser Weg, wenn man den Blick für ihn öffnet.
Und zu allerletzt, wenn sich gar kein Lösung auftut, welche uns gänzlich unserer Kräfte berauben würde, dann hilft es zurück zu gehen zur letzten Weggabelung. Doch die andere Abzweigung nehmen. Die, die damals, als man zuletzt an dieser Wahlmöglichkeit stand so falsch erschien. Auch ein scheinbarer Umweg führt ans Ziel. Wir dürfen dieses nur nicht aus den Augen lassen, unseren Kompass weiterhin dorthin ausrichten.
Und wenn sich auf diesem (Um)weg eine Schutzhütte auftut, ein Häuschen was zur Einkehr einlädt, dann verweile dort, wenn es sich gut anfühlt. Sammle wieder neue Kräfte und fülle deine Vorräte auf. Verweile so lange es dir gut tut, so lange wie es nötig ist. Denn du wirst dein Ziel erreichen, mit dem Wissen, dass dein Kompass dir hilft. Mit dem Wissen, dass deine Kräfte ausreichen und mit dem Mut den Weg zu beschreiten.
Mittwoch, 16. September
Wir müssen nur wollen*
Von Anne
Es gibt diese Menschen, die scheinbar alles schaffen. Alles unter einen Hut bekommen. Die Wohnung ist perfekt aufgeräumt, kein Staubkorn zu sehen, keinen herumstehenden Schuhe, die den Wohnungsflur zu einem Hindernisparcours machen. Bei denen die Pflanzen auf dem Fensterbrett gedeihen, weil sie immer die nötige Menge an Wasser und Sonnenlicht bekommen. Es gibt keine Berge ungewaschener Klamotten, keine Wäsche, die darauf wartet, dass man sich endlich aufrafft sie zu bügeln. Es gelingt jeder Kuchen und das Essen ist steht ausgewogen und gesund. Si gehen nie ungeduscht aus dem Haus, zum einkaufen.
Scheinbar bekommen sie locker Beruf, Kinder und Haushalt gemanagte. Doch selten Blicken wir hinter die Fassade, wir wissen nicht ob es nicht auch manchmal für sie ein Spagat ist.
Aber dieses perfekte Bild setzt uns unter Druck. Wir müssen das doch auch hinbekommen, ich muss das doch auch hinbekommen. Wir müssen nur wollen.
Im Beruf immer hundert Prozent geben, keine Fehler machen. Immer da sein, immer verfügbar sein. Nie gestresst, alles mit Leichtigkeit und Gelassenheit nehmen.
Ich glaube nicht! Es ist okay Unzulänglichkeiten zu zeigen. Es ist Menschlich. Wir machen Fehler, wir haben unsere Stärken und schwächen. Und wir haben unsere Momente, in den wir auch mal nicht wollen. Und in diesen Momenten ist es okay, wenn wir sie annehmen und wir mal nicht das perfekte Abendessen zaubern, sondern eine TK-Pizza in den Ofen schieben. Dies sind keinen Momente des Scheiterns! Dies ist normal.
Und es wenn es nicht perfekt ist, dann ist es vielleicht so perfekt wie es in dem Moment, mit den zu der Zeit vorhandenen Ressourcen, mit der vorhandenen Kraft und Muße sein kann. Und das ist ja nun auch nicht schlecht. Das ist schon jede Menge.
*„Muss ich immer alles müssen was ich kann
Eine Hand trägt die Welt und die andere bietet Getränke an?
Ich kann mit allen zehn Füßen in zwanzig Türen
und mit dem elften in der Nase
noch Ballette aufführen
Aber wenn ich könnte wie ich wollte würde ich gar nichts wollen
Ich weiß aber dass alle etwas wollen sollen –
Wir können alles schaffen genau wie die tollen
dressierten Affen wir müssen nur wollen
wir müssen nur wollen wir müssen nur wollen
Wir müssen nur“.
Wir sind Helden- Müssen nur wollen
→ Müssen nur wollen - Spotify
→ Mittwochsausgabe mit passendem Tipp des Tages
Donnerstag, 17. September
Lebens-Mittel
Von Katharina
Gestern Vormittag gegen elf habe ich so genüsslich in ein Stück Apfel gebissen, wie schon lange nicht mehr - und war nach der halben Frucht auch schon wieder satt. So ist das wohl, beim Fastenbrechen. Sieben Tage zuvor hatte ich angefangen, meine Mahlzeiten zu reduzieren um den Rest der Woche dann komplett auf feste Nahrung zu verzichten. Fünf Tage nur Wasser, Tee und Brühe. Ja - freiwillig.
Ursprünglich wollte ich es wegen der körperlichen Gesundheit ausprobieren: Ich hab ein bisschen was mit dem Herz, ein bisschen was mit dem Bauch und ein bisschen was mit den Gelenken. Bei all diesen Dingen wird dem sorgsamen Verzicht ein positiver Effekt bescheinigt. Aber mit der Zeit habe ich festgestellt, dass das nicht-Essen mich überraschend erfüllt.
Natürlich war das nicht von Anfang an so. Koffeinentzug (Kopfschmerzen!) und die Herausforderungen des ersten Tages ("warum genau esse ich noch mal wirklich garnichts?!") hielten nicht unbedingt das Versprechen, das Fasten mache mich "wie neugeboren". Aber als Tag zwei anbrach lief es irgendwie - und das besser als in allen Wochen zuvor. Ich setzte mich hin und schrieb an meiner Diss, erledigte lange Aufgeschobenes und war am Ende zufrieden mit mir (Menschen, die schon mehrere Texte von mir gelesen haben wissen, wie selten das ist und wie viele "Abers" und "Obwohls" ich jetzt gerne ergänzen würde). Schlaue Fastenbücher versprechen ab Tag drei ein "Fastenhoch" - das Gehirn schüttete mehr Serotonin aus als gewöhnlich, das führe zu einem chemischen Effekt ähnlich eines Antidepressivums. Und tatsächlich: Nahrungsentzug kann Teil einer psychotherapeutischen Behandlung sein, klärt mich eine ehemalige Kollegin und Psychotherapeutin auf. Sieh an. In meinem Fall war es nicht das euphorische Fastenhoch. Es war mehr eine innere Ruhe von der Sorte, die ich lange nicht mehr von mir gekannt hatte. Vielleicht war das genau die Euphorie, die ich brauchte.
Ohnehin spürte ich die ganze Woche über sehr deutlich, was ich brauchte: Ich schlief, so lange ich es brauchte (was überraschender Weise garnicht viel länger war als normal), machte Pausen, wenn ich sie brauchte, bewegte mich, wann ich es brauchte und schlief, wann ich es brauchte. Ich hatte mir vorher vorgenommen, so viel Zeit wie möglich für mich zu haben und das zählte sich jetzt aus. Morgens startete ich mit Yoga und den Sonnenuntergang verbrachte ich spazierend in den Straßen und Parks von Berlin. Ich sah das Lichtspiel zwischen den Laubkronen der Bäume, hörte die Musik von Gitarren, knarzenden bluetooth-Boxen und Brass-Kombos, spürte die sanfte Anstrengung in meinen Beinen und roch intensiver denn je den wohligen Geruch meines vertrauten Ortes, sobald ich die die Tür meiner Wohnung öffnete. Achtsamkeit fiel mir auf einmal leicht - vielleicht, weil ich es mir nicht so schwer machte.
Jeder Löffel der dünnen Brühen, die ich zu mir nahm, war ein kleines Geschmacksfest. Als ich im Buch las "Kauen Sie jeden Bissen ganz bewusst", dachte ich noch "Haha." aber nachdem ich das Brühemachen zelebriert hatte und den Löffel zum Mund führte, wusste ich, was gemeint war. Wie intensiv Essen sein kann! Und gleichzeitig ist es nicht das einzige Lebens-Mittel. Das ist mir diese Woche mal wieder bewusst geworden. Gutes Essen gibt gute Energie und ist damit ganz pragmatisch Mittel zum Leben. Genau so sind ein Mittagsschlaf, bewusste Bewegung, innere Ruhe oder die Entscheidung für oder gegen eine Aufgabe Mittel, die dem Leben Energie geben.
Übrigens: neben der ganzen Achtsamkeit und Körperfreundlichkeit hat mir eines besonders gut getan: Ich haben endlich mal wieder etwas geschafft. Aufgaben, Aufgeschobenes und ganz simpel fünf Tage lang nichts essen. Ich kann das noch mit der Selbstverbindlichkeit. Und das ist ein wahnsinnig gutes Gefühl.
→ Donnerstagsausgabe mit passendem Tipp des Tages
Freitag, 18. September
Von Mutmachtechniken
oder: Weshalb der Weg nicht immer das Ziel ist
Von Annika
Kennt ihr diese Schilder an den Autobahnen, die den Eintritt in ein anderes Bundesland verkünden? Wenn ich meine Familie besuche, fahre ich an einem solchen Schild vorbei. „Dieser Weg ist das Ziel“ prangt dort in großen Buchstaben. Und irgendwie klingt das für mich ein bisschen, wie Hohn.
Vor knapp sieben Jahren hatte ich genau auf dieser Strecke - nur in der anderen Fahrtrichtung - einen Autounfall. Mein geliebtes erstes Auto hatte es schwer erwischt und auch die Leitplanke trug einen ordentlichen Schaden davon. Ich selbst ging unverletzt aus dem Ganzen hervor. Augenscheinlich.
Eine Weisheit, die kurz danach immer wieder an mich herangetragen wurde, war: „Das ist wie beim Reiten, da musst du auch sofort nach einem Abwurf wieder aufs Pferd steigen“. So weit, so gut. Also stieg ich wieder aufs Pferd - in Form des Autos meiner Mutter (mein eigenes hatte die Begegnung mit der Leitplanke nicht überlebt). Und siehe da: Neben einem kurzen mulmigen Gefühl auf der Höhe der Unfallstelle überstand ich die einstündige Fahrt in meine Wohnung ohne Probleme. „Ha!“, dachte ich. „Vielleicht haben andere ein Problem nach so einem Unfall. Aber ich doch nicht“.
Es dauerte knapp drei Monate, bis ich die erste Panikattacke meines Lebens hatte. Mitten auf der Autobahn und ohne für mich spürbare Ankündigung. Und ehe ich mich versah, fand ich mich auf einem Autobahnrastplatz wieder, telefonierte mit meiner Mutter und stellte klar, dass ich auf keinen Fall noch einen weiteren Meter auf der Autobahn fahren wollte. Nun gut. Eine Stunde und viele ermutigende Sätze meiner Mutter später, fuhr ich dann doch. Zumindest bis zur nächsten Autobahnausfahrt - von dort ging es dann mit schleppenden 70 km/h die restlichen 40 Kilometer zu meiner Wohnung.
Zuhause angekommen begann ich zu recherchieren. Ich wollte dieses beklemmende und furchteinflößende Gefühl benennen können - und im besten Fall herausfinden, dass es sich dabei wahrscheinlich um einen einmaligen Streich meines Körpers handelte. Also las ich. Von Herzinfarkten und Schlaganfällen kam ich zu Panikattacken, Angsterkrankungen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Mit jeder Internetseite mehr, die ich durchforstete, schwand meine Hoffnung darauf, dass ich dieses Gefühl nie wieder spüren werde. Und auf einmal war da noch ein anderes unangenehmes Gefühl in mir: die Ahnung, dass ich möglicherweise Hilfe benötige, um dieses „Problem“ in den Griff zu bekommen.
Jahre vergingen, in denen ich ständig schwankte zwischen den Versuchen, meine Angst zu besiegen und der Resignation, wenn ich doch lieber den Zug nahm, als das Auto. Meine Angst und meine Panik weiteten sich indes immer mehr aus - irgendwann konnte ich auch keine Bundes- und Landstraßen mehr befahren, ohne dabei oder kurz danach eine Panikattacke zu bekommen. Irgendwann waren meine Nerven (und auch die meines Umfelds - die Angst ließ mich zu einem dauerhaft angespannten und genervten Menschen werden) dann allerdings genug strapaziert. Ich wollte nicht mehr abhängig sein von Bahnplänen oder anderen Menschen, die mich von A nach B transportierten. Ich wollte meine Freiheit zurück erobern.
Also begann ich erneut zu recherchieren. Dieses Mal suchte ich nach Techniken, um meine Angst in den Griff zu bekommen. Ich stieß auf Atemübungen und Ablenkungstechniken. Und auf einen Satz, den ich heute immer noch im Ohr habe, wenn ich merke, wie sich die Angst anschleicht: Es ist - im Normalfall - nicht möglich, gleichzeitig zu lachen und Angst zu verspüren. Also baute ich mir meine eigene Technik gegen die Panik zusammen: ich begann, während des Autofahrens Hörbücher von Comedians oder Comedy-Programme zu hören. Und siehe da: Die Trefferquote für angstfreiere Autofahrten lag zwar noch lange nicht bei 100 %, aber es wurde Stück für Stück einfacher. In mir wuchs das gute Gefühl, meinen Körper wieder besser kontrollieren zu können. Meinen Empfindungen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein.
Mittlerweile habe ich meinen persönlichen „Werkzeugkoffer“ noch um ein paar andere Techniken erweitert: Ich habe über mich gelernt, dass mir auch Musik (und vor allem das laute Mitsingen) gegen die Angst helfen kann. Ich kann mittlerweile bestimmte Atemübungen relativ schnell abrufen, wenn ich spüre, dass die Panik in mir aufkommt. Und ich habe auf längeren Fahrten immer eine Flasche Wasser bei mir, um im äußersten Notfall bei einer Pause etwas davon zu trinken.
Völlig verschwunden ist die Angst beim Autofahren dadurch noch nicht. Ich habe mich auch von dem Gedanken verabschiedet, dass sie es irgendwann tun wird. Es gibt immer noch Tage und Autofahrten, an denen ich sie deutlich im Nacken spüre und besonders, wenn es mir aus anderen Gründen emotional oder körperlich nicht gut geht, besucht sie mich zuverlässig. Sie ist in meinen Gedanken, wenn ich dabei bin, eine längere Autofahrt zu planen. Sie hat dafür gesorgt, dass ich zur wahrscheinlich schlechtesten Beifahrerin geworden bin. Aber sie hat mich auch sensibler für jegliche Geräusche oder Bewegungen meines Autos werden lassen. Und allem voran hat sie dafür gesorgt, dass ich sensibler auf meine eigenen Empfindungen achte. Ich gehe achtsamer mit mir um, wenn ich Auto fahre. Meistens spüre ich die Panik dadurch rechtzeitig und kann gut intervenieren, bevor sie vollständig ausbricht.
Sicher, wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich auch lieber wieder völlig sorglos in mein Auto steigen können. Aber ich kann die Dinge, die passiert sind, nun mal nicht rückgängig machen. Ich kann nur versuchen, mit den Konsequenzen einigermaßen gut zu leben. Manchmal gelingt mir das gut, manchmal verzweifle ich auch jetzt noch daran. Aber ich freue mich über jede Fahrt, die ich so gut wie panikfrei überstehe. Ich freue mich darüber, wenn mein Werkzeugkoffer funktioniert.
Der Weg ist für mich allerdings trotzdem oftmals noch nicht das Ziel. Der Weg ist ein Kampf. Ein Kampf mit mir, meinen Gefühlen, meinen Erfahrungen und meiner Angst. Aber jeder kleine Sieg bestärkt mich und zeigt mir, wozu mein Körper und mein Geist in der Lage sind. Und zumindest das fühlt sich verdammt gut an.
→ Freitagsausgabe mit passendem Tipp des Tages
Damit wünschen wir euch allen ein schönes Wochenende!
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