Flugangst und Reiseträume
Einige Zeit kam ich damit auch ganz gut durch. Da meine Familie für Urlaube kein Geld zur Verfügung hatte, war ich mit Flugreisen nicht konfrontiert, sondern konnte die Flugzeuge mit skeptischer Neugier aus weiter Ferne beobachten. So weit, so gut! Doch zum Realschulabschluss verkündete meine Klassenlehrerin ganz glücklich, dass unsere Abschlussfahrt nach Irland geht – mit dem Flugzeug. Als ich dies hörte blieb mir schlagartig die Luft weg. Nach wochenlanger Verzweiflung erlaubten mir meine Eltern, zuhause zu bleiben und diese sicher großartige Reise zu verpassen. Während meine Schulklasse also Dublin unsicher machte, saß ich allein in der Schule, nahm mit anderen Jahrgangsstufen am Unterricht teil und arbeitete einsam an unserer Abschlusszeitung. Ich schämte mich, vor mir selbst, meiner Lehrerin, den anderen Mitgliedern der Klasse. Galt ich sowieso aufgrund meiner Ängste oft schon als sonderbar, stellte mich diese Entscheidung erst recht ins Abseits.
Danach war ich wieder für lange Zeit von potenziellen Flugreisen verschont – und träumte gleichzeitig davon, irgendwann fliegen zu können, die Ängste regelrecht am Boden zu lassen und dadurch die Welt bereisen zu können. Nicht unbedingt förderlich für diesen Traum war mein Umfeld, denn es gab nur zwei Reaktionen: Entweder „Ich finde Fliegen auch schrecklich. Wenn da was passiert, bist du tot!“ oder „Fliegen ist super, mach‘ das einfach mal“. Jeder, der mit Ängsten zu kämpfen hat, weiß, wie schwer bis unmöglich dieses „einfach mal machen“ sein kann.
Manchmal, wenn es mir gut ging, suchte ich mir einen kurzen und günstigen Flug im Internet, nur um die Idee, es einfach mal auszuprobieren, schnell wieder zu verwerfen. Zu groß waren meine Ängste, und in meinem Umfeld konnte niemand so wirklich nachvollziehen, dass ich eben nicht nur etwas nervös war, sondern mich die Angst regelrecht lähmte.
Aufgrund meiner generalisierten Angststörung begann ich 2018 eine Therapie – und lernte in über 100 Sitzungen, meine Ängste zu verstehen und Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen.
Mein erster Flug: Vorbereitungen
Letztes Jahr bekamen mein Mann und ich einen Gutschein für ein Wochenende in Berlin geschenkt. Ich wollte nicht mehr vor der Angst davonlaufen und daher beschlossen mein Partner, der mich bedingungslos unterstützt, und ich: Wir werden mit dem Flugzeug anreisen. Dabei beruhigte mich der Gedanke, dass ich – rein theoretisch – nur den Hinflug meistern müsste und im Zweifel mit dem ICE, Zug oder auch Fernbus zurück nach Hause fahren könnte.
Als wir die Flüge verbindlich buchten, raste mein Herz, mir wurde übel und ich hatte nur ein Bedürfnis – diese Entscheidung zurückzunehmen. Aber das war nicht möglich, ohne auf den Kosten für die Flüge sitzen zu bleiben.
Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich noch in einer Verhaltenstherapie und thematisierte dort die anstehende Flugreise, um hilfreiche Tools und Übungen zu erlernen. Bereits Wochen vorher stellte ich mir eine kleine Notfalltasche mit Hilfsmittel zusammen. Unter anderem packte ich folgende Dinge ein:
- Akkupressurbälle
- Eine Mülltüte als Absicherung bei Übelkeit
- Reisetabletten
- Kaubonbons für den Druckausgleich
- Ein kleines Fläschchen Lavendelduft
- Einen persönlichen Gegenstand als „Anker“
- Traubenzucker
- Karteikarten mit Anleitungen zu Atemübungen
- Kopfhörer, um meine Lieblingsmusik zu hören