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Angst und Depression

Zwei Erkrankungen, die sich gern verbünden

Liest man in der Literatur zu Angststörungen, kann man leicht den Eindruck gewinnen, Angststörungen sind eng umschriebene Phänomene, die nur selten mit anderen psychischen Störungen kombiniert auftreten. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Eine „reine“ Angststörung ist eher nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme. Geschätzt wird, dass dreiviertel der Angstbetroffenen im Verlauf ihrer Erkrankung eine weitere psychische Störung entwickeln. Und an erster Stelle steht dabei die Depression.
Die wissenschaftlichen Hintergründe von Angst und Depression erläutert ausführlich die Psychotherapeutin und bekannte Autorin Sigrun Schmidt-Traub.

02.05.2022  –  Autorin: Sigrun Schmidt-Traub

Vorkommen von Angststörungen und Depressionen

Eine groß angelegte sozial-epidemiologische Studie in den Ländern der EU sowie in Norwegen, Island und der Schweiz (Wittchen et al., 2011) zeigt die Verbreitung von psychischen Störungen in der Bevölkerung. Danach leidet etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung unter psychischen und neurologischen Störungen (zu letzterer gehört etwa Demenz). Die häufigsten psychischen Probleme sind Angststörungen und kommen bei 15,4% der Befragten vor, gefolgt von Schlaflosigkeit (7%) und unipolarer Depression (6,9%) – wobei alle affektiven Störungen insgesamt 9,4% ausmachen.

Die Untersucher betonen, dass die Zahl der Angsterkrankungen nicht gestiegen sei, sehr wohl aber der Aufklärungsgrad bei Patient:innen und Ärzt:innen: Angststörungen werden heute leichter erkannt als in früheren Jahren, ausgenommen bei älteren Menschen, deren körperliche Angstsymptome oft von anderen körperlichen Erkrankungen überdeckt werden (Multimorbidität). Sie schämen sich auch mehr wegen ihrer Angst. Das ist bei Personen mit depressiven Beschwerden weniger der Fall, diese fallen außerdem stärker auf wegen negativer Stimmung, Freudlosigkeit und sozialem Rückzug. Depressionen sind zudem besorgniserregender, da gefährlicher als Angststörungen, vor allem wenn Suizidneigung besteht.

Jungen und Männer aller Altersgruppen verleugnen größtenteils ihre Angst, auch beim Ausfüllen von Angstfragebögen (‚Ein Mann hat keine Angst‘ ist wie eine ungeschriebene gesellschaftliche Determinante). Nur ein knappes Drittel der Angstpatienten kommt in Therapie, darunter überwiegend Mädchen und Frauen. Viele dieser Angstbehandlungen erfolgen nicht nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Das ist umso bedauerlicher, als unbehandelte Ängste meist ein Leben lang bestehen bleiben, ein Risiko für eine depressive Episode sind und in vielen Fällen tatsächlich auch zu (sekundären) Depressionen führen.

Diagnostik

Angststörungen und Depressionen gehören zu den wichtigsten psychiatrischen Störungen weltweit. Seit dem DSM-5 von 2013 (dem in den USA gebräuchlichen Klassifikationssystem psychischer Erkrankungen) gibt es neue diagnostische Kriterien, die größtenteils von dem ICD-11, der internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO, übernommen wurden. Das ICD-11 wurde 2019 verabschiedet und trat am 1. Januar 2022 in Kraft. Die Veröffentlichung des ICD-11 in deutscher Sprache wird für den Herbst 2022 erwartet.

Für unser Thema hält das ICD-11 die neue Zusatzkodierung „depressive Episoden mit markanten Angstsymptomen“ (6A80.0) bereit. Treten im Rahmen einer depressiven Episode klinisch signifikante Angstsymptome auf – wie Unruhe, Ängstlichkeit, Unfähigkeit, Sorgen zu kontrollieren, Befürchtung, es passiert etwas Schreckliches, physiologische Symptome wie Herzrasen, Muskelverspannungen – und bleiben die meiste Zeit während der Episode bestehen, dann darf diese Diagnose vergeben werden. Sind die diagnostischen Kriterien sowohl für die depressive Episode als auch für eine Angststörung ganz erfüllt, sollten jedoch zwei Diagnosen vergeben werden. Das gemeinsame Auftreten von Angst- und depressiven Symptomen hat einen schlechteren Verlauf zur Folge sowie ein schlechteres Ansprechen der betroffenen Patienten auf Antidepressiva (Kühner et al., 2021).

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Wir können davon ausgehen, dass zu vielen "reinen" Angststörungen, ebenso wie zu "reinen" depressiven Störungen mit der Zeit weitere Störungen hinzukommen, die Erkrankung also komorbid wird. 

Verwobenheit von Angst und Depression

Ausgeprägte Angst und Depression gelten als ‚internalisierende‘ Störungen, die häufig gemeinsam (komorbid) auftreten. Manchen Betroffenen ist diese Komorbidität nicht unbedingt bewusst, besonders bei depressiven Patienten. Doch danach befragt, berichten viele von Ängsten in der Vorgeschichte, oft schon in Kindheit, Jugend oder im jungen Erwachsenenalter. Wir können davon ausgehen, dass zu vielen ‚reinen‘ Angststörungen, ebenso wie zu ,reinen‘ depressiven Störungen mit der Zeit weitere Störungen hinzukommen, die Erkrankung also komorbid wird. Meistens kommt zu einer (oder mehreren) Angststörung(en) eine Depression hinzu. In der Mehrzahl der Fälle stellt sich somit die Angst als die primäre Störung heraus, wie auch zahlreiche epidemiologische Studien belegen (Jacobi et al., 2014; Kessler, 2001):

  • In etwa 65-70% der Fälle von komorbider Angst und Depression war nach eingehender klinischer Befragung die Angst zuerst da.
  • Bei 10-20% kamen die Angst und Depression im selben Jahr auf.
  • Nur bei 15-20% war die Depression die erste Störung.

Das zeitliche Auftreten von Angst und Depression hat Folgen hinsichtlich der Wechselwirkungen von Angst und Depression und hinsichtlich der Therapie. Beide benötigen neben gemeinsamen Therapiebausteinen (siehe unten) jeweils noch spezifische therapeutische Vorgehensweisen. Medikamentös jedoch sprechen beide auf dieselben Medikamente an (Antidepressiva wie SSRI und SSNRI).

Vulnerabilitäten

Internalisierende Störungen weisen eine familiäre Häufung auf. Personen, die vermehrt Angst erleben, haben eine angeborene und weitgehend gelernte Disposition (Vulnerabilität) zu Angst, die komplex ist und sich aus folgenden Faktoren zusammensetzt:

  • Ein angeborenes ängstlich-scheues Temperament geht mit zwei Persönlichkeitseigenschaften einher, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können: mit Verhaltenshemmung und mit ‚anxiety sensitivity‘, das heißt mit überempfindlicher Wahrnehmung von körperlich-vegetativen Beschwerden, die besonders negativ bewertet werden. Das kann fatal werden, da die meisten panischen und phobischen Symptome körperlich sind.
  • Lernen am ängstlichen Elternmodell: Meist hat auch ein Elternteil Ängste und/oder Depressionen.
  • Die meisten Eltern ängstlicher Menschen zeigen ein überbeschützendes, kontrollierendes Erziehungsverhalten, das beim Kind überangepasstes, unselbstständiges und weniger couragiertes Verhalten fördert. Dadurch kommt es zu einem vermeidenden Bewältigungsstil bei Angsterleben, u. U. auch zu anderen emotionalen Problemen.

Menschen mit Depressionen haben oftmals, aber nicht immer, eine angeborene psychische Vulnerabilität. Ausgelöst werden die Depressionen bei ihnen durch traumatische (v. a. Kindheits-) Erlebnisse, schwere Schicksalsschläge, außergewöhnliche Veränderungen im Leben oder nach anhaltendem Stress. Wahrscheinlich kann jeder Mensch eine Erschöpfungsdepression bei starker Überforderung entwickeln. Als besonders gravierend und deprimierend erweisen sich Belastungen wie Verluste (von Personen, Beziehungen, Wohlbefinden) und Demütigungen.

Belastungen sind selten ursächlich, lösen aber Depressionen und Angststörungen aus und halten sie aufrecht. Am meisten werden Ängste durch Vermeiden und Depressionen durch Hilflosigkeitserleben verstärkt und aufrechterhalten. Selbstwertprobleme stellen sich bei beiden Störungen ein, besonders gravierend werden sie bei vielen depressiven Menschen. In der Therapie von internalisierenden Störungen wird deshalb versucht, ängstliches Vermeidungsverhalten und Hilflosigkeitserleben mit der Förderung von mutigem, Problem bewältigendem Verhalten und Selbstwirksamkeitserleben zu überwinden.

Thiago Matos/pexels.de

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Warum führen Ängste zu Depressionen?

Wie kommt es, dass panische und ausgeprägte phobische Ängste häufiger zu Depressionen führen? Können starke Ängste im Alltag nicht mehr kontrolliert werden, nimmt das Erleben von Überforderung, von Selbstzweifeln und Selbstabwertung zu. Es kommt zu Beeinträchtigungen im beruflichen wie im privaten Leben, zu Rückzug, Isolation und fehlender Selbstbestätigung, was irgendwann in eine depressive Störung umkippen kann.

Am häufigsten kann eine soziale Angststörung, bei der Betroffene sich davor fürchten, peinlich aufzufallen und von anderen abgewertet zu werden (Schmidt-Traub, 2021), eine Depression nach sich ziehen bzw. umgekehrt sich hinter einer bestehenden Depression eine (nicht erkannte) soziale Angststörung verbergen. Wird dann nur die Depression behandelt, bleibt die erhöhte Angstbereitschaft bestehen und führt immer wieder zu depressiven Verstimmungen.

Angst und Depression als komorbide Störung hat schwerwiegendere Folgen als Angst in reiner Form: Selbstmordhandlungen kommen bei kombiniertem Auftreten von Angst und Depression häufiger vor. Menschen mit einer reinen Angststörung haben zwar auch Selbstmordgedanken, spüren aber etwas seltener den Drang zu Selbstmordhandlungen oder wollen sie nicht umsetzen („Das kann ich meiner Partnerin/Familie nicht antun“).

Fazit: Angst bleibt lebenslang ein Risiko für Depression, wenn die Angststörung(en) nicht behandelt wird. Depressive Patienten sollten immer nach Ängsten Ausschau halten, dazu befragt und, wenn nötig, entsprechend behandelt werden, selbst wenn die Angst derzeit nicht im Vordergrund steht. Denn Angst und Depression als komorbide Störungen sind im Allgemeinen komplizierter und schwieriger zu behandeln als Angst- oder depressive Störung in reiner Form.

das aktuelle Buch der Autorin

Sigrun Schmidt-Traub:
Schüchtern, nervös, unsicher?
Ein Selbsthilfebuch für Jugendliche und junge Erwachsene

Springer Verlag Berlin 2021

Sozial ängstliche Personen sind immer wieder unsicher, gehemmt und befürchten, peinlich aufzufallen. Solche sozialen Ängste treten meist mit Beginn der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter auf. Deshalb werden in diesem Buch besonders Jugendliche und junge Erwachsene angesprochen. Unbehandelte soziale Angst ist ein Risikofaktor für Depressionen. Bleibt eine Angststörung unbehandelt, folgen oft Traurigkeit und Verzweiflung. Deshalb darf in der Therapie nicht nur die Depression beachtet werden, sondern auch die eigentliche primäre soziale Angst.

Neuropsychologische Besonderheiten von Angst und Depression

Der Mandelkern (Amygdala) gehört zum Hirnstamm, dem ältesten Teil des Gehirns. In Zusammenarbeit mit anderen Hirnregionen (Hypothalamus, Frontalhirn, Hippocampus) werden darin Gefühle verarbeitet. Für das Angsterleben wurde von Neuropsychologen zwei unterschiedliche Bahnungen in der Amygdala entdeckt (LeDoux, 2016). Eine Bahn verläuft von der Wahrnehmung des Angstreizes über den Hypothalamus direkt in die Amygdala und löst blitzschnell eine lebensrettende körperliche Alarm- und Angstreaktion aus (mit Herzrasen, Schwindel usw.). Das geschieht unbewusst. Informationen der Sinnesreize werden zwar rasch, aber dabei nur grob verarbeitet. Die andere Bahn der Angst verläuft über den praefrontalen Kortex; sie ist länger und daher langsamer. Dafür werden aber die Sinneseindrücke genauer eingeschätzt, bevor sie in die Amygdala einfließen und dort auf Grundlage der differenzierter wahrgenommenen Gefahr hin eine emotionale Angst- und Anpassungsreaktion auslösen (bewusste Bewertung).

Kommt es im Laufe des Lebens zu einer oder mehreren Angststörungen, entsteht – anders als bei Depressionen – ein Angstnetzwerk im Gehirn, das mit bildgebenden Verfahren zu erkennen ist. Es bleibt bestehen, auch nach erfolgreicher Therapie (LeDoux, 2016). Wir müssen also davon ausgehen, dass die Angst durch eine wirkungsvolle Therapie gehemmt wird, unter Belastung aber wieder ausbrechen kann.

Bei depressivem Erleben wird die Umgebung und die eigene Person einseitig negativ gesehen. Die innere Anspannung ist anhaltend erhöht (Stresserleben, innerer Stressfaktor) und die Amygdala in Dauererregung. Der Hippocampus, das Hirnzentrum u. a. für bewusstes emotionales Erinnern, ist mit seinen vielen Andockstellen für Stresshormone (v. a. Cortisol) ebenfalls an der Stressregulation des Körpers beteiligt. Unter anhaltender Belastung werden im Hippocampus Rezeptoren für Stresshormone zerstört, sodass es bei depressiven und auch bei traumatisierten Patienten zu einer Hippocampusverkleinerung kommt. Bei erfolgreicher Psychotherapie oder medikamentöser Behandlung vermehren sich die Stresshormonrezeptoren erneut und es kommt zu einer Hippocampusvergrößerung bis zur ursprünglichen Größe. Das lässt sich mit Bild gebenden Verfahren (wie fMRT/PET) belegen. Vielleicht werden in Zukunft Therapieerfolge im klinischen Alltag einmal daran gemessen.

Gemeinsame Therapiebausteine

Depressionen kommen eher von ganz allein zum Stillstand (spontane Remission) als übersteigerte, unbegründete Ängste. Spontane Besserungen gibt es vor allem dann, wenn depressive Menschen soziale Unterstützung bekommen, sich stärker aktivieren, nach Lösungen für ihre Probleme suchen, soziale Kontakte aufnehmen und positivere Aussichten entwickeln. Bei Ängsten sind spontane Remissionen selten zu beobachten, am ehesten noch im Rentenalter. Die spontane Remissionsrate von Angststörungen liegt da bei 20% (Jacobi et al., 2014). 

Treten Ängste zeitlich vor der Depression oder gleichzeitig mit ihr auf, hat eine Angstbehandlung Vorrang. In den meisten Fällen legt sich die Depression nach erfolgreicher Angstbehandlung wieder von alleine. Weil bei Depressionen anhaltende innere Spannungszustände (Freisetzung von Stresshormonen) oft nicht gesehen oder zumindest unterschätzt werden, sollten beide Störungen behandelt werden. Ist eine depressive Störung jedoch besonders ausgeprägt und besteht Suizidgefahr, muss sie unbedingt mit behandelt werden, die Suizidalität an erster Stelle (Suizidprophylaxe).

In der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es mittlerweile eine Reihe von störungsübergreifenden (transdiagnostischen) Therapiebausteinen, die für die Behandlung beider Störungen geeignet sind, obgleich es sich jeweils um verschiedene emotionale Dimensionen handelt (Barlow et al., 2019). Bei einer Angststörung überwiegt das Angstgefühl, bei Depressionen geht es um Gefühle wie Traurigkeit, Hilflosigkeit, Schuldgefühle und Wut. Jeder emotionale Erregungsprozess schaukelt sich – z. B. durch Sorgen oder Grübeln – zu einem Teufelskreis der Angst, Traurigkeit oder Wut hoch und manchmal verlieren Betroffene für den Moment die Kontrolle über negative Gefühle (Schwächezustand, Wein- oder Wutanfälle). Sie sind auch sehr viel schneller erschöpft.

Mit folgenden wissenschaftlich untermauerten Therapiebausteinen lassen sich sowohl Ängste, als auch Depressionen mit kognitiver Verhaltenstherapie erfolgreich behandeln (Barlow et al., 2019; Hautzinger, 2010, 2021; Schmidt-Traub, 2005, 2020, 2021). Alle aufgeführten Therapiebausteine lassen sich mit dem Therapeuten oder in Selbsthilfe flexibel auf die individuellen Bedürfnisse anpassen.

Psychoedukation dient einer umfassenden Aufklärung über die Störung – wie es dazu kam und wie sie therapeutisch behandelt werden kann – , entweder mit Unterstützung eines Therapeuten oder in Selbsthilfe (Selbsthilfebücher, Online-Programme). Psychoedukation stimmt den ängstlichen oder depressiven Patienten auf die (Selbst-) Behandlung ein und stärkt seine Therapiemotivation.

Eine genaue Selbstbeobachtung – von Situationen, Auslösern von Grübeln und Sorgen, von Angst bzw. depressiver, dysphorischer Stimmung und wie solche negativen Gefühle verlaufen (Teufelskreis von Angst und Traurigkeit, Angstkurve) – schult die Wahrnehmung und liefert genauere Anhaltspunkte für das therapeutische Vorgehen.

Um sich nicht weiter Katastrophen auszumalen oder dem Pessimismus freien Lauf zu lassen, lernen ängstliche und depressive Personen, ihre Gedanken und Vorhaben einer Wirklichkeitsüberprüfung zu unterziehen und sie realistischer und wohlwollender zu gestalten.

Angst wird entweder durch einen Gedanken ausgelöst („Gleich bekomme ich einen Panikanfall“), durch ein körperliches Angstsymptom (Herzrasen, Kloßgefühl im Hals, Schwindel, Taubheitsgefühle, Druckgefühl in der Brust) oder durch das Aufsuchen einer Angstsituation (Fahrstuhl, Feier mit vielen fremden Menschen). Setzen sich ängstliche Personen wiederholt ihren gefürchteten Situationen, körperlichen Angstsymptomen oder Angstgedanken aus und halten die dadurch ausgelöste Angst aus, bis sie wieder nachlässt, wird das Angsterleben allmählich schwächer. Die Angst kann sogar ganz verschwinden. Gleichzeitig machen sie bei der Konfrontation die Erfahrung, dass ihre Befürchtung, es könnte etwas Schreckliches passieren, gar nicht zutrifft. Dadurch kommt es zu einer kognitiven Umstrukturierung. Sie konfrontieren sich so oft und solange, bis sie alle Angstsituationen ohne Begleitung aufsuchen und bewältigen können. Konfrontation erfordert zu Beginn Mut, viel Übung und Durchhaltevermögen. Jeder ist dazu imstande; er kann ja die Größe seiner Konfrontationsschritte selbst bestimmen.
Vermeidungsverhalten lässt sich ganz abbauen, die Angstbereitschaft aber nicht ein für alle Male löschen, denn sie ist durch das ängstlich-scheue Temperament in der Person angelegt. Etwa 17-20% eines Jahrgangs haben Jerome Kagans Längsschnittstudien zufolge ein ängstliches Temperament (in Schmidt-Traub, 2014). Unter anhaltendem Stress kann Angst erneut als Stressreaktion auftreten. Kehrt sie wieder, muss die betroffene Person darauf achten, nicht wieder vieles zu vermeiden. Depressive ziehen sich sozial zurück und weichen ebenfalls vielen Situationen aus. Sie müssen sich um mehr Initiative und Aktivitäten bemühen.

Indem ängstliche und depressive Menschen lernen, belastende Situationen und ihre Konsequenzen selbstständig zu lösen, nehmen sie entscheidenden Einfluss auf ihre Gefühle. Ängstliche Personen müssen z. B. lernen, sich weniger ausnützen zu lassen und sich zu behaupten, depressive eher, mehr Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Daraufhin verbessert sich ihre Selbstwirksamkeit und Eigenständigkeit; die Hilflosigkeit nimmt ab und das Selbstwertgefühl zu.

Sorgen und Grübeleien werden von Angst, Traurigkeit und körperlichen Missempfindungen, die oft nicht mehr kontrolliert werden können, begleitet. Gelingt es Patienten, vor allem körperliche (Miss-) Empfindungen wie Herzrasen, Druck auf der Brust oder Schmerzen im Hier und Jetzt bewusst zu beachten, ohne sie zu bewerten oder verändern zu wollen, gehen sie auf mehr emotionale Distanz und die Beschwerden werden erträglicher. Auch auf diese Weise lässt sich die Einstellung zu körperlichen Beschwerden, negativen Gedanken und Gefühlen verändern.

Für mehr Fitness (und damit auch mehr psycho-neuro-endokrino-immunologische Stärke) sorgen Gesundheitsvorkehrungen wie
o Körperliche Bewegung (Sport, Spaziergänge); regelmäßiger Sport – ohne Leistungsdruck – schwächt Studien zufolge sowohl Panikneigung als auch depressives Erleben. Bauchatmung wirkt flacher Atmung und Hyperventilationsneigung bei ängstlicher Erregung entgegen und beruhigt.
o Entspannungsübungen (Progressive Muskelentspannung, Visualisierungsübungen, Bauchatmung, usw.)
o Schlafhygiene
o Gesunde Ernährung, genügend trinken, weniger Luxusdrogen.

Lassen sich internalisierende Störungen komplett heilen oder ‚löschen‘?

Depressionen können bei den meisten depressiven Menschen erfolgreich mit Psychotherapie oder/und Medikamenten wie SSRI/SSNRI (Antidepressiva) behandelt werden. Nicht selten gehen sie auch von alleine zurück.

Das gilt nicht in demselben Maße für Angststörungen, denn ein ängstlich-scheue Temperament ist schon in den ersten Lebenstagen zu beobachten und begleitet diese Personen ihr Leben lang. Angst ist die in ihnen angelegte Art, auf starke Belastung zu reagieren, so wie andere unter Stress Kopf- oder Rückenschmerzen oder Magenschleimhautentzündung entwickeln. Dennoch können ängstliche Menschen ihre Angst unter Kontrolle bringen. Die Maxime heißt: Sie entscheiden wieder über Ihr Leben – und nicht die Angst. Sie planen mit Blick nach vorne, teilen sich Ihre Tage gut ein und bauen Rückzugs- und Vermeidungsverhalten ab, indem Sie sich Ihren Ängsten stellen und sich allmählich an sie gewöhnen.

Literatur
Barlow D.H., Farchione T.J., Fairholme C.P. et al. (2019). Transdiagnostische Behandlung emotionaler Störungen. Therapeutenmanual. Göttingen: Hogrefe.
Hautzinger M. (2021). Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. 8. Auflage. Göttingen: Hogrefe.
Hautzinger M. (2010). Akute Depression. Göttingen: Hogrefe.
Jacobi F, Höfler M, Strehle J, Mack S et al. (2014). Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ (DEGS1-MH). Der Nervenarzt, 85 (1), 77-87.
Kessler R.C. (2001). Comorbidity of depression and anxiety disorders. In S.A. Montgomery & J.A. den Boer (Hrsg.), SSRI in depression and anxiety (S. 87-106). Chichester: Wiley.
Kühner, C., Schricker, I.F. & Nayman, S. (2021). Depressive Störungen in der ICD-11: Was bleibt, was ist neu. Psychotherapeutenjournal 4/2021.
LeDoux J. (2016). Angst. Wie wir Furcht und Angst begreifen und therapieren können, wenn wir das Gehirn verstehen. Wals bei Salzburg: Ecowin.
Schmidt-Traub S. (2021). Schüchtern, nervös, unsicher? Ein Selbsthilfebuch für Jugendliche und
junge Erwachsene. Berlin: Springer.
Schmidt-Traub S. (2020). Angst bewältigen. Selbsthilfe bei Panik und Agoraphobie. 7. Auflage. Berlin: Springer.
Schmidt-Traub S. & Lex T.-P. (2005). Angst und Depression. Göttingen: Hogrefe.
Wittchen H.-U., Jacobi F. u. a. (2011). The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology, 21, 655-679.

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