Das Online-Magazin der Deutschen Angst-Hilfe e.V. für Betroffene von Angststörungen
Foto: Deutsche Angsthilfe e.V.
Unter dem Motto „Sich selbst und gegenseitig“ fand vom 11. -13. November 2022 die Jahrestagung der Deutschen Angst-Hilfe e.V. in München statt. Die Veranstaltung war gespickt mit hochkarätigen Lesungen (Antonia Wille, Katharina Altemeier), spannenden Vorträgen (Willi Butollo, Nike Hilber, Timo Stolz) sowie lebhaften Workshops und Präsentationen. Ein sehr kurzweiliges Programm also, wie auch von verschiedenen Teilnehmer:innen angemerkt wurde, die aus ganz Deutschland angereist waren. Es war die erste Jahrestagung der Deutschen Angst-Hilfe e.V. in dieser Form, die damit ein neues Kapitel in der Vernetzung von Angstselbsthilfegruppen aufschlug. Nach dem gelungenen Auftakt sollen nun regelmäßig weitere Treffen stattfinden. Nachfolgend einige Highlights der Veranstaltung.
23.11.2022 – Deutsche Angsthilfe e.V.
Moderiert wurde die Tagung von dem früheren langjährigen Vorstandsmitglied Dieter Reithmeier. Er erzählte zu Beginn von der Situation Angstbetroffener in den 80er Jahren, als es die Diagnose „Angststörung“ noch gar nicht gab. Seine Panikattacken wurden als vegetative Dystonie oder ähnliche Wortungetüme bezeichnet und oft auch abgetan. Mehr als medikamentöse Hilfe bekam er nicht. Bis er auf die erste Gruppe der damals neu gegründeten Münchner Angstselbsthilfe (MASH) traf. Dort fand er Gleichgesinnte, die seine Situation verstanden und sich gegenseitig ermutigten. Die Selbsthilfe bei Angststörungen war geboren, in München und auch in anderen deutschen Städten, und wurde zum Erfolgsmodell für die Zukunft.
Die Lesung von Antonia Wille setzte den furiosen Auftakt der Veranstaltung. Die Journalistin und Bloggerin, ehrenamtliche Mitarbeiterin des Online-Magazins daz.digital, las aus ihrem 2020 erschienen Buch „Angstphase“. Warum sie sich genötigt fühlte, ein Buch über ihre Angststörung zu schreiben, erklärte sie so: In den Medien würde heute zwar immer mehr von psychischen Störungen, auch von Angststörungen, berichtet, oft handle es sich dabei aber um extreme Fälle, etwa Menschen, die seit Jahren nicht mehr das Haus verlassen hätten und nur noch hinter zugezogenen Vorhängen ihr Leben verbringen. Diese Fälle mögen Aufmerksamkeit erzeugen, der Normalfall unter Betroffenen sind sie gewiss nicht. Denn, so Antonia weiter, die meisten Menschen mit Angst führen ein ganz normales Leben, gehen zur Arbeit, haben Freunde und Familie, unternehmen etwas in ihrer Freizeit, ärgern und freuen sich – nur ab und zu eben mit Angst, die sie dann zittrig, unsicher und hilflos macht. Sie erleben eine Angstphase, mal schlimmer, mal weniger schlimm, doch auch diese geht wieder vorüber.
Eine solche durchlebte auch Antonia. Schon als Teenager hatte sie immer wieder Angstzustände, gepaart (bzw. überdeckt) von einer Übelkeit, was sie zunehmend in soziale Isolation führte. Agoraphobie lautete schließlich die für sie damals niederschmetternde Diagnose. Mit eisernem Willen konfrontierte sie sich fortan mit ihrer Angst, was zunächst Erleichterung brachte, irgendwann aber, als sie ihre eigenen Bedürfnisse vor lauter „Funktionieren“ völlig aus den Augen verlor, zu Panikattacken führte. „Es bringt nichts, die Angst zu bekämpfen, wegzuboxen oder zu ignorieren“, fasste Antonia ihre Erfahrungen zusammen. Vielmehr sollte man die Angst als Teil von sich akzeptieren und sich zugestehen, vulnerabler als andere zu sein, und daher mit der eigenen Energie und den eigenen Grenzen achtsam umzugehen. Ihr Fazit: Du bist nicht die Angst, sondern zuerst Freundin, Schwester, Kollegin, und ab und zu mit Angst.
Mit zwei halbstündigen Referaten traten der Angstexperte Willi Butollo und die „Influencerin“ Nike Hilber auf. Willi Butollo, emeritierter Professor und Experte für Angst und Trauma und der DASH seit Jahren freundschaftlich verbunden, sprach über das Motto der Jahrestagung, das auf das Grundprinzip der Selbsthilfe verweist: Sich selbst und gegenseitig helfen und stärken. Der Mensch, leitete er seinen Vortrag ein, ist existenziell auf Kontakt und sozialen Austausch angewiesen, hängt davon doch die Entwicklung der eigenen Emotionen und des eigenen Selbst (das Gefühl der Selbstwirksamkeit) ab. Ist dieser Kontakt von starken negativen Erfahrungen geprägt, zieht der Betroffene sich zurück. Es entsteht Angst und diese sorgt dafür, dass der verkümmerte Kontakt eingefroren bleibt und der Mensch sozial wie als Person auf einer reduzierten Ebene verharrt und sich nicht weiterentwickelt. Um hier eine Veränderung zu bewirken, muss der Mensch sich der Angst stellen: Es gibt keine Verringerung der Angst ohne ein erneutes Durchleben der Angst, diesmal aber, etwa im Rahmen einer Angstselbsthilfegruppe, mit positiven Konsequenzen. So kann der Einzelne im positiven Kontakt ein neues Verhältnis zur Umwelt und zu sich selbst aufbauen. Und das Entscheidende ist nun: Diese Hilfe zur Veränderung kann jeder Mensch leisten, der diesen Prozess durchschritten hat. Kein Expertenwissen und keine Angstfreiheit ist Voraussetzung, sondern nur die eigene Erfahrung des Sich-stellens der Angst. Aus diesem Grunde helfen Betroffene in der Selbsthilfegruppe sich selbst, indem sie sich gegenseitig helfen, sich der Angst zu stellen.
Den zweiten Vortrag hielt Nike Hilber, Psychologin (M.Sc.), zertifizierte Psychoonkologin und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeutin. Sie ist auch als „La Psychologista“ bekannt, die psychologische Begriffe „ohne Fachgedöns“ auf ihrem Instagram-Kanal (gefördert von der Deutschen Fachgesellschaft für Tiefenpsychologie und psychodynamische Psychotherapie) erklärt. Sie sprach zu einem ganz aktuellen Thema: „Umgang mit der (welt)politischen Lage – was schützt, was hilft?” Beim Umgang mit erschreckenden Ereignissen reagieren viele Menschen mit Abwehr. Manche dieser Abwehrstrategien sind durchaus sinnvoll, etwa die Vermeidung von zu viel Nachrichten. Andere dagegen sind weniger hilfreich wie Verleugnung („so schlimm wird es schon nicht“) oder Verdrängung („ich habe anderes zu tun“). Insgesamt besser sind Mechanismen, die das eigene Selbst und die eigenen Ressourcen stärken, etwa die Selbstwirksamkeit verbessern (aktiv werden, auch kleine Schritte helfen schon), Selbststärkung aufbauen (was hat mir in der Vergangenheit geholfen), Selbstwohlwollen aktivieren (sich selbst mit Mitgefühl begegnen).
Den Abschluss der Veranstaltung bildete die Lesung von Katharina Altemeier, Betroffene und Beraterin in einem, die einen eigenen Podcast betreibt, der denselben Namen hat wie ihr dieses Jahr erschienenes Buch: Hallo Angst! Im Unterschied zu Antonia Wille ist ihr Buch keine reine Autobiographie, sondern enthält fachliche Erörterungen über die Hintergründe der Angst. Ihre Geschichten dagegen haben einige Parallelen. Auch bei Katharina stand am Anfang ein traumatisches Erlebnis im Zusammenhang mit Übelkeit. Auch ihr Weg zur Akzeptanz war lange, auch sie machte die Erfahrung, dass die Angst umso stärker wird, je mehr man gegen sie ankämpft. Der Ausweg: Mit der Angst in Kontakt zu treten, Hallo zu sagen und eine freundliche Beziehung aufzubauen. Heute kann sie sich als große Katharina neben die kleine Katharina setzen und zu ihr sagen: Du hast Angst, aber es ist ganz ok, Angst zu haben!