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Der tiefere Grund von Bindungs- und Trennungsangst 

Wie unsere Beziehungsfähigkeit als Erwachsener stark von den frühkindliche Bindungserfahrungen geprägt wird

Gesteigerte Ängste vor Trennungen und vor nahen Bindungen lassen sich mit Hilfe der Bindungstheorie gut erklären. Im vorliegenden Text wird diese kurz skizziert und einige entscheidende Aspekte der frühen kindlichen Entwicklung beschrieben. Auf dieser Grundlage werden anschließend die Bindungs- und die Trennungsangst erläutert.

Autor: Rainer Rehberger

Die Geschichte von Anna: Starke Trennungsängste

Anna kam mit Depressionen in die Behandlung. Sie verstand nicht, weshalb sie sich von ihrem “schlimmen” Mann nicht trennen konnte. Sie hatte sich nach dem Kennenlernen zu ihrem Mann hingezogen gefühlt, weil er, wie sie auch, sehr unter der eigenen Mutter gelitten hatte, die ihn als Kind oft geschlagen hatte. Nach einigen Ehejahren suchte der Mann von Anna, seine Not, Schmerz und Scham mit Alkohol zu betäuben. Manchmal wurde ihr Mann, wenn er betrunken war, laut und gewalttätig, schlug sie ins Gesicht. Sie entfremdeten sich, sie lehnte Sexualität ab, zweimal hat er sie vergewaltigt. Nun schliefen sie getrennt. Sie fand ihn bestimmend, rechthaberisch, ungeduldig und unbeherrscht, doch war sie nie fähig, den dauernden Erniedrigungen etwas entgegenzusetzen.

Lange Zeit klagte sie immer wieder, wie schlimm sich ihr Ehemann verhielte. Er unterbrach ihre Fernsehsendung, nahm sich mehr Kuchen als ihm zustand, versteckte “seine” Marmelade im Keller, gab ihr keinen Einblick in sein Einkommen. Er respektierte auch nicht ihren Wunsch, nicht im Bad aufs Klo zu gehen, wenn sie duschen wollte. Als sie ihn bei einer solchen Gelegenheit aufforderte, draußen zu bleiben, schüttete er kaltes Wasser über sie und machte das Licht aus.

Anna neigte dazu, sich schnell schuldig zu fühlen und sich für alles zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Sie zweifelte ständig, ob sie ihre Aufgaben richtig erledigt hätte. Sie erzählte eigenes erfolgreiches Handeln unpersönlich und verbarg sich hinter Formulierungen wie “man machte es” oder “es klappte”. Als sie in der vorangegangenen Behandlung eine Trennung mit Hilfe des Therapeuten vorbereitet hatte, schreckte sie schließlich doch zurück, unterschrieb gegen ihre Absicht einen Darlehensvertrag für ein Wohnmobil des Mannes und blieb in der Ehe.

Zur Bindungstheorie und Entwicklungspsychologie

Kern der von John Bowlby begründeten Bindungstheorie ist das Bedürfnis des kleinen Kindes, sich ständig in unmittelbarer oder mittelbarer Nähe der Bindungsperson (meist, aber nicht zwingend, der Mutter) aufzuhalten. Dahinter steht letztlich das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontakt. Das Kind erkundet und erforscht seine Welt und hält dabei die Verbindung zur Mutter aufrecht. Als Baby an der Brust schaut es, wenn es seinen ersten Hunger gestillt hat, abwechselnd in die Augen der Mutter und zur Umgebung. Als Krabbelkind und später als Laufkind bewegt es sich in die Welt, bleibt in Sichtweite, dann in Rufweite der Mutter und kehrt zu ihr zurück, um gestärkt durch ihre Nähe, erneut seine Abenteuer mit Neuem und Fremdem zu wagen. In Augenblicken der äußeren oder der inneren Not drängt es Kinder, die Bindungsperson aufzusuchen, um sich helfen und trösten zu lassen. Allgemein werden Kinder durch eine Trennung geängstigt, Bindung dagegen beruhigt sie.

Wenn Kinder zu lange oder zu häufig unvorbereitet von der Bindungsperson getrennt sind, protestieren sie zuerst und bemühen sich, aktiv zu ihr zurück zu gelangen. Anfänglich flammt ihr Ärger immer wieder auf. Scheitern ihre Bemühungen, verzweifeln sie. Schließlich werden sie aus Resignation ruhig und ziehen sich innerlich zurück – äußern auch Schmerz, Verzweiflung, Angst und Ärger nicht mehr. Sie fügen sich dann ihrem Schicksal. 

In Zusammenarbeit mit John Bowlby hat Mary Ainsworth die „Fremde Situation“ als psychologischen Test entwickelt. Bei einer kurzen Trennung von der Mutter und ihrer Wiederkehr zeigen Kinder drei unterschiedliche charakteristische Gefühlszustände und Verhaltensmuster – die so genannten Bindungsmuster. Diese entwickeln sich im ersten Lebensjahr als emotionale Reaktionsmuster, die das Kind in dieser Zeit in Auseinandersetzung mit dem emotionalen Verhalten der Bindungsperson herausgebildet hat.

  • Bei einer sicheren Bindung können die Kinder ihren Müttern Angst, Ärger und Schmerz zeigen und die Trennung schnell bewältigen. Nach einer Weile können sie trotz der Abwesenheit ihrer Mütter richtig spielen.
  • Bei einer unsicher-ambivalenten oder zwiespältigen Bindung zeigen sich die Kinder beim Weggehen der Mütter außerordentlich ängstlich, schreien, werden ärgerlich und geraten durch die Trennung völlig außer sich.
  • Bei einer unsicher-vermeidenden Bindung bleiben die Kinder äußerlich ruhig, scheinen Angst, Ärger und Schmerz nicht zu spüren. Tatsächlich lässt sich bei ihnen jedoch der stärkste Anstieg des Stresshormons und des Herzschlags feststellen.

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Bei einer sicheren Bindung geht die Bindungsperson bereitwillig auf die Appelle und Notrufe des Kindes ein und hilft ihm, seine Emotionen zu regulieren. So entwickelt das Kind die Überzeugung, durch seine Gefühlsäußerungen etwas bewirken zu können.

Sichere Bindung

Die Bindungsbeziehung beeinflusst entscheidend die Entwicklung der Fähigkeit, andere und sich selbst psychologisch zu verstehen. Im Zentrum des frühen Lernens stehen Einstimmung und Abstimmung (Affektsynchronisierung) zwischen Mutter und Kind beim Füttern und Pflegen sowie beim einfachen Beisammensein. Auf die Hilferufe bei Hunger, Müdigkeit, Schmerz, Angst – kurz: immer dann, wenn das Kind in Stress gerät, und wenn es nach der Begegnung mit der Mutter verlangt, geht die Mutter auf den jeweiligen Zustand ein, antwortet dem Kind und versucht seinen subjektiv schlechten Zustand durch Füttern, Wiegen, Lindern, Pflegen, Beruhigen, Ablenken oder Spielen wieder zu bessern. Die Mutter hilft, beeinflusst das Kind in seiner schlechten Verfassung und vermittelt ihm so Möglichkeiten der Regulierung seiner unangenehmen Gefühlszustände. 

Bei einer sicheren Bindung kann das Kind sich von seinen offenen Affekten leiten lassen und auch negative Emotionen offen zeigen. Die Bindungsperson geht bereitwillig auf seine Appelle und Notrufe ein und hilft ihm, seine Emotionen zu regulieren. So entwickelt das Kind die Überzeugung, durch seine Gefühlsäußerungen etwas bewirken zu können. Dies ist der Kern der später entwickelten Fähigkeit, zuversichtlich planen und handeln zu können. Eine sichere Bindung fördert die Entwicklung bleibender Selbstsicherheit, Selbstachtung und den Erwerb sozialer und instrumenteller Fähigkeiten. Sie ist die Basis für die eigenständige Hinwendung zur Welt. Der Widerspruch von Bindung und Autonomie bildet eine Grundspannung unserer Existenz – ihr fließender Wechsel ist das Merkmal eines gelingenden Lebens.

Entstehung der Bindungsstile

Wiederholte Erfahrungen mit der Bindungsperson führen beim Kind zur Ausbildung einer bestimmten Erwartung im Hinblick auf das Verhalten und die Verlässlichkeit der Bindungsperson. 

Diese Erfahrungen verfestigen sich zu einer mentalen Repräsentation, d.h. zu bestimmten Einstellungen in Bezug auf die Bindungsperson, letztlich in Bezug auf die Welt als Ganzes und auf sich selbst.

Die Entwicklung einer solchen Repräsentation ist in jedem Menschen angelegt, ihre Qualität jedoch von der Umwelt (den Bindungspersonen) abhängig.

 

die drei Bindungsstile

Sichere Bindung: Das Kind kann darauf vertrauen, dass die Bindungsperson jederzeit verfügbar ist und verlässlich auf seine Appelle und Emotionen reagiert, sie wird als sichere Basis repräsentiert. 

Unsicher-ambivalente Bindung: Erfahrung der Unbeständigkeit und Unberechenbarkeit, kein Gefühl der Verlässlichkeit im Hinblick auf das Verhalten der Bindungsperson. 
Folge: "Überaktivierung" des Bindungssystems, starkes Verlangen nach Nähe, Trennungsangst

Unsicher-vermeidende Bindung: Erfahrung wiederholter Zurückweisung des Nähebedürfnisses führt zu Rückzug und Ablehnung der Bindungsperson.
Folge: Unterdrückung eigener Emotionen, um schmerzhafte Zurückweisung zu vermeiden, Unterdrückung des Bedürfnisses nach Nähe, Bindungsangst

Trennungsangst

Bei einer unsicher-ambivalenten Bindung ist das Kind von ambivalenten Gefühlen beherrscht, nämlich von Angst und Ärger. Es sucht nachdrücklich die Nähe zur Mutter, ist bei Trennung heftig belastet, zugleich ist es wegen des Verlassenwerdens wütend. Zu frühe, zu lange und sich wiederholende Trennungserfahrungen – etwa durch zu häufige Abwesenheit der Bindungsperson, durch Verlust eines Elternteils sowie durch die Unterbringung in Pflegeeinrichtungen – steigern die Trennungsangst. Aber auch ängstliches und anklammerndes Verhalten der Eltern an das Kind, dessen Autonomie nicht respektiert wird, führt zu einer ängstlichen Voreingenommenheit gegenüber Trennungen und zur Scheu bei der Autonomnieentwicklung. 

Trennungsangst beeinträchtigt die Entwicklung der Selbstständigkeit durch Einbußen im Bereich des Erkundungsverhaltens (Exploration), der Selbstbehauptung und oft auch bei der Selbstverteidigung aufgrund der Unterdrückung des Ärgers, der nicht gezeigt werden darf. Bei Verstärkung von Angst in gefahrvollen Situationen zeigen Kinder (und später Erwachsene) ein übersteigertes Bindungsverhalten – als Angstbindung. Als Spätfolge tritt häufig eine abhängige Persönlichkeitsstörung auf. Die Trennungsangst kann über längere Lebensabschnitte kompensiert bleiben, doch können Lebenskrisen sie erneut aktivieren und dann Angststörungen oder Depressionen auslösen.

Bindungsangst

Bei einer unsicher-vermeidenden Bindung unterdrückt das Kind den Ausdruck sowie die Selbstwahrnehmung seiner Gefühle und wendet sich der Mutter weder bei ihrem Weggehen noch bei ihrer Wiederkehr zu. Die physiologischen Begleitreaktionen von Angst, Schmerz und Ärger laufen aber unbewusst ab. 

Kinder suchen aktiv nach Bindung. Werden sie dabei jedoch wiederholt abgewiesen, verletzt und enttäuscht, verstehen sie es, ihre Bedürfnisse innerlich zu verschließen, im schlimmsten Fall, keine Bindung mehr einzugehen. Sie rufen und greifen nicht mehr nach der Mutter – stattdessen ziehen sie sich in ihr Inneres zurück, in ihre Fühl- und zunehmend in ihre Denkwelten. Oft spüren sie Schmerz, Ärger und Angst nicht mehr bewusst. Mit Selbstverletzungen und stereotypen Hin- und Herbewegungen können sie bei nicht endender Verlassenheit ihre Hilflosigkeit auffangen.

Emotionale Zustände von Vernachlässigung und erzieherischen Versagungen speichert das Kind im so genannten emotionalen Gedächtnis. Die Gefühle werden vom älteren Kind und vom Erwachsenen mit Leere, Sinnlosigkeit, Vergeblichkeit, Schmerz, Ohnmacht, Sterben und Verzweiflung bebildert. Diese im emotionalen Gedächtnis lebenslänglich gespeicherten Gefühlszustände können jederzeit durch äußere Umstände der Versagung, des Mangels und des Scheiterns wach bzw. ins Bewusstsein gerufen werden. Wichtig ist hierbei vor allem, dass die Annäherung an andere (Nähe) in einer Beziehung diese Gefühlszustände in gleicher Weise wachruft, da sie in der Nähe zur Mutter gemacht worden sind. Da dies mit Angst und dem Gefühl des Zusammenbruchs verbunden ist, veranlasst es die Betroffenen, die bewusste Wahrnehmung solcher Gefühle durch Abwehr zu vermeiden. Eine häufige Form der Abwehr ist, die Nähe zu anderen zu vermeiden. Entweder werden Beziehungen ganz ausgeschlossen oder die Betroffenen bleiben auch in einer Partnerschaft innerlich verschlossen. Eine andere Abwehrform gegen die als bedrohlich empfundene Nähe ist es, zwanghaft mehrere Beziehungen offen oder heimlich nebeneinander zu leben.

 

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Bindungsstile sind emotionale Reaktionsmuster, die sich in Auseinandersetzung mit dem emotionalen Verhalten der Bindungsperson entwickeln. 

Zur Behandlung von Anna

Anna überspielte ihre Gefühle, wenn sie von schlimmen Ereignissen erzählte. An ihren Schweigepausen, an ihrer Neigung, eher Allgemeinplätze als eigene Not zu besprechen, konnte man deutlich wahrnehmen, wie groß ihre Trennungsangst sein musste. Im Laufe der Zeit bekam Anna mehr Zugang zu ihren unterdrückten Gefühlen, ihren unterdrückten Tränen und den bis dahin aus dem Bewusstsein unterdrückten Ärger. Nun spürte sie mit Hilfe ihres Ärgers, wenn der Mann sich Übergriffe erlaubte und lernte, sich zu wehren. Anfangs schlug sie schnell mit Beschuldigungen und Vorwürfen zurück. Später lernte sie, sich mit einem einfachen “Nein so nicht’” oder “Das ärgert mich” abzugrenzen. Sie lernte auch, sich handelnd abzugrenzen, indem sie eines Tages unangekündigt einen Schlüssel für die Badezimmertür besorgte und die Störungen durch ihren Mann bei der Intimpflege verhinderte. Ihren Ärger wahrzunehmen, erlaubte es ihr, sich abzugrenzen. Früher war ihr eigener Ärger sofort mit Trennungsängsten verbunden gewesen.

Ihre Trennungsängste standen im Kontext ihrer frühkindlichen Erfahrungen. Die familiären Verhältnisse waren zerrüttet, die Erziehung überstreng, hinzu kam noch eine prekäre materielle Situation. Die Mutter hat Anna vermutlich als Baby und Kleinkind zu wenig beachtet. Dieses Erlebnis wird von Kindern auch ohne Trennung als schlimme Verlassenheit erlebt, weshalb auch Menschen unter Trennungsängsten leiden können, die nachweislich keine längere Trennung als Kleinkinder und Kinder erlitten haben. In einer langjährigen Behandlung gelang es Anna, eine erheblichen Verbesserung ihrer Depression zu erzielen. Zum Ende der Therapie trennte sie sich schließlich von ihrem Mann.