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Corona: Hat die Zahl der Angststörungen wirklich zugenommen?

Ein Interview mit dem Angstexperten Prof. Peter Zwanzger

„Angststörungen rapide angestiegen.“ „25 Prozent mehr Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen“ oder „Die verheerenden Folgen der Pandemie“: So oder so ähnlich lauteten die Schlagzeilen der letzten Wochen. Inzwischen über 50 Studien weltweit hätten eindeutig bewiesen, dass die Zahl der Angststörungen stark zugenommen habe. Die daz wollte das genauer wissen und befragte dazu Prof. Peter Zwanzger. Der ärztliche Direktor des kbo-Inn-Salzach-Klinikums ist Experte für Angststörungen und rät, sich die Zahlen genau anzuschauen.

17.05.2022

daz: Herr Zwanzger, ist es richtig, dass psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung durch Corona stark zugenommen haben? Was ist aus wissenschaftlicher Sicht dazu zu sagen?

Diese Aussage ist wissenschaftlich gesehen so nicht korrekt. Zunächst einmal gilt es zu unterscheiden: Die Corona-Pandemie hat natürlich, wie von Anfang an zu vermuten war, zu einer Zunahme psychischer Belastungen in der Bevölkerung geführt. Das ist ja auch nicht schwer vorzustellen. Die Sorge um die Gesundheit, die eigene wie die der Angehörigen, die finanziellen Sorgen, der Lockdown, die soziale Isolation, die Einsamkeit und vieles andere mehr, und über allem die Ungewissheit: Wie lange dauert das? Wie schlimm wird es? Es war vorauszusehen, dass es zu Belastungen in der Bevölkerung kommen wird. Dabei handelt es sich um durchaus nachvollziehbare Ängste, die fast zwangsläufig als Folge solcher Ereignisse eintreten. Aber nicht alle diese Menschen werden auch eine dauerhafte Angststörung entwickeln, eine krankheitswertige Angst, die mit einer Diagnose versehen werden kann.

Die Schlagzeilen behaupten etwas anderes. Täuscht das mediale Bild also über die wirkliche Studienlage hinweg?

Am Anfang der Pandemie gab es viele Vermutungen über das Ausmaß der psychischen Belastung, aber keine harten Daten. Die Wissenschaft hat sich also recht schnell daran gemacht, Daten zu erheben. Zahlreiche Arbeitsgruppen weltweit befassten und befassen sich noch immer damit. Die meisten Studien, die bisher durchgeführt wurden, gehen dabei folgendermaßen vor: Innerhalb einer bestimmten Einrichtung oder einer bestimmten Region wird eine Fragebogenaktion durchgeführt, manche qualitativ hochwertiger, manche weniger. In einigen Studien wurde etwa nur gefragt, ob die Menschen jetzt mehr Angst hätten als früher. Die Ergebnisse werden anschließend verglichen mit Ergebnissen, die vor 10 oder 5 Jahren erhoben wurden, also weit vor der Pandemie. Und natürlich kamen die allermeisten Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Ängste im Zusammenhang mit Corona zugenommen haben, die Menschen stärker belastet sind – wie auch immer Belastung im Einzelnen definiert wird. Also die Studien zeigen ganz klar: Corona und die ganze damit einhergehende Unsicherheit belastet die Seele. Das haben wir zwar vorher schon vermutet, aber jetzt ist es auch wissenschaftlich validiert.
Und diese Ergebnisse – deswegen habe ich so weit ausgeholt – wurden kürzlich als Metaanalyse zusammengefasst im Lancet Psychiatry, eines der angesehensten medizinischen Fachjournale weltweit. Eine Metaanalyse ist eine wissenschaftlich hochqualifizierte Auswertung von guten Studien. Es wurden ungefähr 50 internationale Studien ausgesucht und dabei festgestellt, dass die Ergebnisse weltweit dieselben sind, d.h. die Aussage muss stimmen. Und was passiert, wenn in so einem hochkarätigen Journal ein solches Ergebnis publiziert wird? Natürlich springen sofort die Medien drauf, schreiben darüber und verfassen entsprechende Headlines: Vermehrte Angststörungen durch die Corona-Pandemie, mehr psychische Erkrankungen. In solchen Headlines, die natürlich Aufmerksamkeit finden wollen, wird leider zu wenig differenziert und die Begriffe Belastung und Störung durcheinandergeworfen.

Wenn man also genauer hinblickt: Was kann man auf Grundlage der Studien wirklich sagen?

Ganz klar wissenschaftlich erwiesen ist, dass die Leute ängstlicher sind. Das ist nicht nur eine Spekulation, das kann man anhand von Zahlen eindeutig nachweisen. Das zeigt sich ja auch in einer verstärkten Inanspruchnahme psychologischer Dienste. Aber: Ob es wirklich epidemiologisch zu einer Zunahme von Erkrankungen kommt, ist zwar nicht unwahrscheinlich, aber wissenschaftlich noch nicht belegt. Was auch daran liegt, dass sich eine Angststörung erst mal entwickeln muss. So etwas dauert seine Zeit. Eine Störung entsteht nicht immer sofort nach einem Trauma oder einer Belastungssituation, sondern es kann Wochen oder Monate, vielleicht sogar Jahre dauern, bis sie offen zu Tage tritt. Das ist ja kein simpler einliniger Prozess: Erst Belastung, dann Störung. Die Frage, ob die Zahl der Störungen zunehmen wird, ist somit wissenschaftlich abschließend noch nicht zu beantworten. Und vor allem auch nicht die Frage, wie stark diese Zunahme sein wird.
Wenn man mir solche Fragen stellt, bin ich natürlich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite will ich keineswegs so verstanden werden, als ob ich behaupten wollte: Das stimmt alles gar nicht und wir wissen noch nicht, ob die psychischen Erkrankungen, insbesondere Angst und Panik zunehmen. Auf der anderen Seite muss man ganz seriös sagen, wir wissen bisher nur, dass die Angst zunimmt, aber wir wissen nicht, ob wirklich mehr Erkrankungen dadurch entstanden sind, welche Erkrankungen und in welchem Ausmaß.

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Ob es wirklich epidemiologisch zu einer Zunahme von Erkrankungen kommt, ist zwar nicht unwahrscheinlich, aber wissenschaftlich bis jetzt noch nicht belegt.

Peter Zwanzger
Aber ist es nicht verwunderlich, dass nach zwei Jahren Pandemie noch keine gesicherten Aussagen möglich sind?

Ja, für einen Laien mag dies verwunderlich sein. Aber man muss sich klarmachen: Woher wissen wir denn überhaupt, wie häufig seelische Erkrankungen in der Bevölkerung sind, also die sogenannte Prävalenz. Solche Daten bekommt man nicht dadurch, dass man die Anzahl der von Ärzte und Ärztinnen behandelten Leute zählt. Dann wäre die Sache einfach. Aber nicht jeder Kranke geht ja zum Arzt und nicht jeder, der zum Arzt geht ist krank gemäß den diagnostischen Kriterien. Um die Prävalenz in der Bevölkerung herauszufinden, müssen große Kollektive untersucht werden, etwa 10.000 Menschen in einer repräsentativen Stichprobe, und anhand deren Antworten wird ermittelt, wer als krank einzustufen ist und wer nicht. Epidemiologisch zuverlässige Studien sind hochkomplex und sehr aufwändig und werden deshalb auch nicht dauernd durchgeführt.
Die beiden bedeutendsten Prävalenzstudien sind die von Ron Kessler aus den 90er Jahren in den USA und die von Ulrich Wittchen von 2011, in der 27 europäische Länder untersucht wurden. Sie werden bis heute in jeder wissenschaftlichen Arbeit zitiert. Diese Studien haben jeweils mehrere Jahre gedauert. Erst bei einer neuen Prävalenzstudie wird sich ein Anstieg an Angsterkrankungen eindeutig nachweisen lassen.

Die Corona-Pandemie ist noch längst nicht vorbei und es kommt mit dem Krieg in der Ukraine schon die nächste Krise, die die Kraftreserven der Menschen beansprucht. Wird das zu noch mehr Angststörungen führen?

Ich denke schon, dass die Menschen durch diese neue Krise nochmal zusätzlich belastet werden. Von der kbo-Klinik Inn-Salzach kann ich sagen: Wir hatten in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn gleich 20 Patienten und Patientinnen, denen es deutlich schlechter ging, allein nur durch die vielen negativen Nachrichten. Die Leute sind verzweifelt. Gerade für Menschen, die weniger Halt und weniger Stabilität haben oder insgesamt ängstlichere Persönlichkeiten sind, ist es jetzt wirklich schwer. Ob daraus wirklich mehr Krankheiten entstehen, kann ich nicht sagen. Zu einem großen Teil gehören diese Personen ja zu denjenigen, die ohnehin schon betroffen sind.
Und was generell für alle solche Krisen gilt – egal ob Corona oder aktuell das Kriegsgeschehen: Man darf das Phänomen der Habituation nicht unterschätzen. Das kennen wir aus der Angstforschung. Wenn man eine Maus mit einem lauten Ton erschreckt, dann zuckt sie zusammen oder läuft weg, aber wenn man das 20 Mal macht, reagiert sie am Schluss gar nicht mehr. Und so ist es beim Menschen auch. Die Leute werden irgendwann gelassener, weil sie sich einfach an diese Dauerbedrohung gewöhnen. Sicherlich nicht alle, aber ein großer Teil.
Und bei dem Krieg kommt noch hinzu, noch stärker als bei Corona, dass wir das Gefühl haben, als ganzes Volk herausgefordert zu sein, in einer kritischen Situation zu stecken, durch die wir jetzt durch müssen. Und dieses Gefühl hat schon einen resilienzstärkenden Charakter. Es ist wie bei einer großen gemeinsamen Wanderung: Wenn wir zu zehnt unterwegs sind und einer müde wird, kommt es stark auf die Reaktion der anderen neun an. Sagen diese, sie können auch bald nicht mehr oder sagen sie, das schaffen wir noch, das kriegen wir hin – das macht einen Unterschied und hat Einfluss auf jeden Einzelnen. Wenn das Kollektiv ohne Angst reagiert, kann auch der Einzelne beruhigter sein.

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Man darf das Phänomen der Habituation nicht unterschätzen. Die Leute werden irgendwann gelassener, weil sie sich einfach an die Dauerbedrohung gewöhnen.

Peter Zwanzger
Was sind denn die Befürchtungen der Menschen, die zu Ihnen in die Klinik kommen? Welche Ängste treten am stärksten auf?

Hier würde ich differenzieren, die Leute in zwei Gruppen aufteilen: die Stammpatienten und -patientinnen und die neuen Patienten und Patientinnen. Bei letzteren geht es ganz häufig “nur” um Beratung. Sie sind durch die Umstände verunsichert, wissen oft nicht, wie es weitergehen soll. Diesen geben wir eine ganze Reihe von praktischen Hilfen und Ratschlägen, wie man sich richtig verhält. Solche Hilfen vergisst man im Alltag schnell und rutscht so leicht in die Krise hinein. Einige dieser Ratschläge zum Umgang mit Corona finden sich auch auf der Homepage der Gesellschaft für Angstforschung.

Was wäre ein solcher Ratschlag?

Wenn ich einen extra aufgreifen darf, dann ist das der richtige Konsum von Nachrichten. Da sehe ich ein ganz großes Problem in unserer Gesellschaft. Irgendwie habe ich die Befürchtung, – das ist jetzt eine Meinung von mir, das ist nicht validiert, aber speist sich aus der Lebenserfahrung als Psychiater und Psychotherapeut – dass sich die Medienberichterstattung in den letzten 20 Jahren eher zum Nachteil für die psychische Gesundheit verändert hat. Besonders die schnelle Information hat immens zugenommen. Früher kam morgens die Zeitung und die war bis abends durchgelesen, dann gab es vielleicht noch die Tagesschau und das war es an Nachrichten für einen Tag. Doch heute haben wir durch das Smartphone einen Dauerbeschuss. Und die Schlagzeilen, die man da liest, über das tödliche Virus oder den dritten Weltkrieg, können einem schon Angst machen. 

Weniger Nachrichten, bessere mentale Verfassung also?

Ja, ich glaube, dass das Medienkonsumverhalten ganz entscheidend ist für die seelische Stabilität. Es gibt Untersuchungen, die ganz klar zeigen, dass der vermehrte Medienkonsum wirklich eine Belastung für uns ist. Gerade ängstliche Personen sollten sich einen Plan machen, wann wie oft sie Nachrichten lesen. Ich finde das eine so wichtige Botschaft, die kann ich gar nicht oft genug betonen.

Sie sprachen von Stammpatienten und -patientinnen. Mit welchen Themen kommen diese Menschen zu Ihnen?

Dieser Patientenkreis ist durch Corona erheblich beeinträchtigt worden. Es handelt sich um Personen, die schon eine psychische Erkrankung hatten. Wenn sich dann noch die Außenbedingungen verschlechtern, so richtig verschlechtern, dass man gar nicht mehr den Arzt aufsuchen kann wegen Quarantäne oder wegen Lockdown, wie das in der stillen Phase der Fall war, dann ist das eine echte Lebensbedrohung für diese Patienten und -patientinnen. Aber diese Phase ist ja jetzt zum Glück vorbei.

Welche Konsequenzen sollte die Gesellschaft, die Politik aus den Erfahrungen der Pandemie ziehen hinsichtlich einer Verbesserung der psychischen Gesundheit?

Allen sollte klar geworden sein, dass wir uns mehr um unsere psychische Gesundheit kümmern müssen. So haben auch die Stellungnahmen der Leopoldina immer wieder betont, dass die Folgen von Corona auf die psychische Gesundheit immens sein werden und wir die psychische Gesundheit in den Fokus rücken müssen. Das gilt sowohl individuell wie auch gesellschaftlich, also hinsichtlich der Versorgungslage. Wobei ich mich bei letztem Punkt nicht beklagen kann, denn der bayerische Staat baut gerade für uns ein ganz neues Klinikum.
Ansonsten versuchen wir hier am kbo-Inn-Salzach-Klinikum unsere Angebote ständig auszuweiten. Wir haben hier eine Schwerpunktstation Angsterkrankung gerade für schwere Fälle. Außerdem haben wir in unsere Institutsambulanz eine Notfallsprechstunde für Patienten, die mit akuten Krisen kommen. Und wir haben jetzt auch eine Traumasprechstunde eingerichtet für Leute, die eine traumatische Belastung haben.

Herr Zwanzger, ich sage vielen Dank für das Gespräch.

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