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Daily Fights – Teil 2

Mein 40jähriger Kampf gegen Angst und Depression

Im ersten Teil habe ich euch von dem perfiden Zusammenspiel von Gefühlen und Gedanken berichtet und wie sie euch immer tiefer in den Abgrund führen können, wenn ihr auf Vermeidung setzt. Darum muss man sie mit Tricks überwinden. An einigen Beispielen will ich euch im zweiten Teil zeigen, wie das gelingen kann. 

22.09.2023 – Autorin: Martina

Auf der Party

Ängste tauchen in allen Lebensbereichen auf: beim essen, trinken, bewegen, Sport, Partys, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, Urlaub, einkaufen, Autofahren und sogar beim Sex.

Jeder Mensch muss essen und trinken und das besonders gern auf Partys. Ich stellte mir vor jedem Essen stets die Frage: “Kann ich das essen? Krieg ich davon Bauchweh? Muss ich davon aufs Klo?” Hier kam jahrelang die Vermeidungstaktik zum Tragen. Meine Mahlzeiten bestanden nur aus Lebensmitteln, von denen ich genau wusste, welche Wirkung sie auf meinen übel gelaunten Bauch hatten. Also Salzstangen, Cola, mageren Aufschnitt, Weißbrot und Schokolade. Eben alles, was stopft. Kein Obst oder Gemüse,  keine leckeren Suppen oder frisches Brot. Ergebnis: Verstopfung bis zum Haarkranz! Aber irgendwann kommt alles wieder raus und an den Tagen war ich nicht zu gebrauchen. Ich hatte Bauchweh, mir war übel und ich war dadurch sehr panisch. Erst Jahre später bin ich drauf gekommen, dass Verstopfung viel unangenehmer und schmerzhafter ist als normales Essen und Verdauen.

Bei Partys, wenn die Stimmung gut war und man durch schöne Gespräche abgelenkt war, stellte sich das Problem, vorerst, nicht. Bis zum nächsten Tag! Mein Körper, endlich wegen der ungewohnten Nahrung an seine eigentlichen Aufgaben erinnert, agiert eifrig und zuverlässig, wie von der Natur vorgesehen und verwertet alles, was ihm geboten wurde. Er läuft zur Höchstform auf – wer weiß, wann es wieder so was Schönes gibt. Nun nur noch den Abfall raus bringen und schon ist wieder alles schön. Großer Irrtum! Der Kopf springt auf Alarmstufe rot. Die Abfallbeseitigung ist zwar prima für den Körper, aber eine Katastrophe für den Kopf. Auf der Party habe ich nicht auf den Kopf gehört. Ich habe die Gedanken ignoriert und meinem Appetit den Vortritt gelassen. So was ist strafbar. Die Gedanken rächen sich mit Klogang und Bauchweh. Das war dann immer der Moment, wo ich mir jede weitere Party verboten habe und wieder der leblosen Kost verfallen bin.

Heute ist es nicht mehr ganz so schlimm. Ich esse fast alles und es ist mir egal, was danach passiert. Hauptsache, es hat geschmeckt. Doch um dahin zu kommen, braucht man viel Mut und muss auch mal mit Rückschlägen rechnen. Aber es lohnt sich. Ein gutes Stück an Lebensqualität habe ich mir wieder erkämpft.

Im Zug

Bei allen anderen Bereichen mischt sich gerne das Herz-Kreislauf-System mit ein, als Trittbrettfahrer der Angst sehr erfolgreich. Wenn ich früher mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren bin, bekam ich schon am Bahnsteig, beim Warten auf den Zug, Zustände. Je länger ich wartete, umso überzeugter war ich, dass ich keinen Darm, sondern ein Regenfallrohr hatte. Mir konnte also jederzeit völlig ungebremst ein höchst peinliches Malheur passieren. Also Beine zusammenkneifen und beten, dass der Zug sofort kommt. Vor lauter Anstrengung stand mir dann der Schweiß auf der Stirn. Das ist der Moment, wo sich das Herz-Kreislauf-System meldet. Du schwitzt extrem, dein Herz rast, die Ohren rauschen und dein Umfeld versinkt im Nebel. Auch das noch!

Jetzt kommt Stress auf. Du musst die Beine zusammenkneifen und gleichzeitig kämpfst du gegen den plötzlichen Herztod an. Was passiert zuerst? Nimmt das Regenfallrohr den Betrieb auf oder falle ich tot um und es fließt dann? Beide Szenarien will man nicht! Jetzt nur nicht bewegen – das macht alles nur noch schlimmer – und dann fährt der Zug ein. Mit letzter Kraft schlurfst du in den Wagon und lässt dich vollkommen erledigt auf den Sitz fallen. Sofort beruhigt sich dein Körper und du kannst wieder tief durchatmen. Der Zug hält und du bist am Ziel. Du kannst dich wieder ganz normal bewegen. Es waren nur ein paar Minuten, aber dir kommt es vor, als wenn Stunden vergangen sind. Und das Wichtigste: Es ist nichts von dem passiert, was du befürchtet hast. Heute macht mir das nicht mehr so viel aus. Ich kann so eine Fahrt jetzt sogar genießen. Ich habe gelernt, meinem Körper zu vertrauen und mich abzulenken, wenn der Druck im Kopf zu groß wird. Klappt prima!

Matei Raam/pexels.de

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Bei der schönsten Nebensache

Wenn ich sehr ausgeglichen und mit mir im Reinen bin, suche ich gern die intensive Nähe zu meinem Mann. Ich fühle mich gut. Nichts belastet mich körperlich und auch meine Gedanken scheinen heute ihren freien Tag zu haben. Alles scheint harmonisch der Dinge zu harren, die nun unweigerlich folgen dürfen. Wirklich alles? Natürlich nicht! Der Bauch fängt an zu kneifen. Erst zaghaft und wirklich nur kurz, aber doch zu spüren. Das ist der Moment, wo ich eigentlich mit dem Thema Sex schon wieder durch bin. Jetzt sitze ich in der Falle. Die Aktivitäten beenden wäre das, was ich sofort gerne machen würde. Geht aber nicht, ich bin ja nicht alleine. Also weiter im Text. Meine Konzentration ändert die Richtung und hängt jetzt im Bauch fest. Zwickt er noch mal? Wird es schlimmer? Muss ich abbrechen, weil ich sofort zum Klo muss? Die angeblich schönste Nebensache der Welt wird somit zur Folterstrecke.

Nun bin ich von Natur aus ein sehr dickköpfiger Mensch. Ich biete meinen Gedanken die Stirn. Ich möchte mir einen Gefallen tun und die intensive Zeit mit meinem Mann genießen! Also ignoriere ich meine Gedanken und die Gefühle im Bauch und konzentriere mich wieder aufs Kuscheln. Darauf haben die Kameraden nur gewartet! Es fängt an, im Bauch zu drücken und zu kneifen und meine Gedanken schlagen Purzelbäume. Wie soll man dabei, bitteschön, in Stimmung bleiben? Immer wieder der Gedanke „Abbruch“! Aber was sagt dann mein Mann dazu? Er wäre sicher nicht begeistert. Das möchte ich ihm nicht antun. Also weitermachen. Was aber ist, wenn ich die Gedanken und Gefühle ignoriere und dann ganz spontan unter mich mache?

Mir bricht der Schweiß aus! Pure Panik hat mich fest im Griff! Das will ich aber nicht. Ich will wenigstens in diesem Bereich meines Lebens frei von Angst sein. Also mobilisiere ich meine ganze Willenskraft und blende die schlechten Gedanken erfolgreich aus. Mehr und mehr kann ich mich jetzt fallen lassen und die Nähe zu meinem Mann genießen. Am Ende ist natürlich nichts passiert und ich fühle mich jetzt sehr gut und bin mächtig stolz auf mich, dass ich nicht aufgegeben habe. Von störungsfreier Entspannung bin ich allerdings noch weit entfernt.

Beim Schlafen

Anders verhält es sich da mit der Depression. Sie arbeitet gern und unermüdlich im Hintergrund. Sie ist immer und überall gegenwärtig. Sie begleitet mich durchs Leben und schlägt immer dann zu, wenn ich mich so richtig gut fühle. Inzwischen kann ich sie mit anderen angeblich enorm wichtigen negativen Gedanken über den Tag abwimmeln. Das klappt auch ganz gut bis zu dem Zeitpunkt, wenn ich zu Bett gehe. Kaum liegt mein Kopf auf dem Kissen, bricht das Chaos los. Es herrscht ein wildes Durcheinander in meinem Kopf. Jeder Gedanke will zuerst die Frontallappen (anatomisch eventuell inkorrekt) erreichen und somit meine volle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es herrscht ein einziges Geschiebe und Geschubse hinter meiner Stirn. Mit soviel Unruhe im Kopf kann man beim besten Willen nicht schlafen. Sicher, man döst immer mal wieder ein, aber erholsam ist das nicht. So ging das jede Nacht. Und tagsüber war ich müde und kaputt. Beste Bedingungen für noch mehr depressive Gedanken. So konnte es nicht weitergehen! Eine effektive Lösung musste her!

Andrea Piacquadio/pexels.de

In der darauf folgenden Nacht habe ich mir dann überlegt, dass Ablenkung vielleicht helfen könnte. Tagsüber geht das ja auch inzwischen. Irgendwas muss es doch geben! Etwas, wohin man sich zurückziehen konnte. Das wars! Ein Rückzugsort! Nur für mich alleine! Ohne Familie oder Freunde! Einfach nur für mich! Dieser Gedanke gefiel mir so gut, dass ich noch in derselben Nacht damit begonnen habe, mir so einen Ort zu gestalten.

Zuerst war es schwierig. Man möchte einfach zu viel mitnehmen. Ich hab mich dann fallen lassen und nur meiner Fantasie vertraut. Das Ergebnis hat mich sprachlos gemacht. Und das will echt was heißen! Mein geheimer Ort ist eine Zwei-Zimmerwohnung geworden. Ich betrete sie und fühle mich nur noch wohl und geborgen. Die Einrichtung passt eigentlich so gar nicht zu mir, aber trotzdem fühle ich mich sicher zu Hause. Ganz allein! Ohne jede Störung! Seitdem schlafe ich deutlich besser und träume auch nicht mehr so wirres Zeug.

Es spielt keine Rolle, für was man sich entscheidet. Die Unterkunft, die Einrichtung und der Aufenthalt dort kosten kein Geld und man vergeudet auch keine Zeit. Es findet nur in deinem Kopf statt. Niemand sieht dir zu oder diskutiert mit dir. Es gehört dir allein. Kein anderer hat Zutritt!

Mein Fazit

Jeder Mensch ist ein Individuum und darum sind auch seine Angstauslöser individuell. Die Palette ist so vielfältig wie die Menschen, die davon betroffen sind und lernen müssen, damit umzugehen. Grob betrachtet scheinen sich die Symptome alle zu gleichen, aber die Feinheiten der Gedanken und Ängste sind jeweils nur auf ihr spezielles Opfer zugeschnitten. Man findet nie zwei Menschen, die exakt die gleichen Ängste und Gedanken haben. Irgendwo im Facettenreichtum der Panikattacken unterscheiden sie sich alle.

Die Erfahrung im Umgang mit Panikattacken, schlechten Gedanken und Depressionen hat mir gezeigt, dass man zwar mit dieser psychischen Erkrankung leben muss, aber trotzdem ein zufriedenes Leben führen kann. Ich wollte nicht in meiner eigenen angstvollen Welt leben, allein und abgekapselt. Ich wollte raus. Wollte Kontakte pflegen wie jeder andere Mensch auch.

Julian Jagtenberg/pexels.de

Neben der Selbsthilfe gibt es natürlich auch Medikamente, die beruhigend wirken und somit eine gute Basis für weitere therapeutische Maßnahmen schaffen. Das habe ich am Anfang auch versucht. Aber nach einer Weile hat mir das nicht mehr gereicht. Ich wollte aus eigener Kraft meine schützende Burg verlassen können und nicht dadurch, dass mich Tabletten so beruhigen, dass meine Nerven den Unterschied zwischen drinnen und draußen nicht merken.

Ich habe viel Zeit gehabt zum Experimentieren und auch viel Angst davor. Trotzdem habe ich bis heute nicht aufgegeben, weitere Tricks zu erarbeiten, denn jeder noch so kleine Erfolg, den Ängsten und Gedanken die Stirn geboten zu haben, lässt mich hoffen, noch mehr Freiheit für meine Seele zu erkämpfen und nicht nur zufrieden, sondern auch glücklich zu sein. Ich meine nicht das Glück von außen mit Partner und Familie, sondern das Glück tief in mir drinnen. Aus eigener Kraft erkämpft und gepflegt und Tag für Tag erneuert.

Zum Schluss sei noch gesagt: Sprecht mit Menschen eurer Wahl über eure Ängste und deren Spießgesellen. So genau wie möglich. Ihr werdet euch wundern, was dann mit euch passiert. Ihr seht eure Krankheit plötzlich aus einer ganz anderen Perspektive. Natürlich können nicht alle Gesprächspartner mit der Krankheit etwas anfangen und distanzieren sich dann vielleicht. Lass dich davon nicht entmutigen! Es ist erstaunlich, wie viele Menschen ähnliche Probleme haben und sich nur nicht trauen, darüber zu sprechen. Jedes Gespräch, jeder Austausch von Erfahrungen bringt dich weiter. Es macht zufrieden und glücklich und das hat jeder von uns verdient!