Alena Shekhovtcova/pexels.de

Die Angstanfälligkeit des Menschen

Anthropologische Grundlagen der Angst (Teil 2)

Die Angst hat in der Philosophie eine reichhaltige Tradition. Schon seit der Antike haben Menschen über ihr Seelenleben und ihre Emotionen nachgedacht. Die Angst spielte dabei immer eine besondere Rolle als eines der stärksten Gefühle, das großen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. In einer kleinen dreiteiligen Artikelreihe wollen wir euch verschiedene Facetten der Angst aus philosophischer Perspektive näherbringen.

Der zweite Teil behandelt die Angst aus anthropologischer Sicht. Hat der Mensch Merkmale, so fragt die Anthropologie, die ihn geradezu anfällig für Angst machen? Und gibt es eine spezifisch menschliche Angst? 

07.07.2023 – Autorin: Tamara Niebler

Über anthropologische Wissenschaften

“Was ist der Mensch?” – fragte Kant im 18. Jahrhundert und brachte damit einen Diskurs in Gang, der in die heutige Wissenschaft über den Menschen, die Anthropologie, mündet. Im Grunde gibt es aber nicht eine Anthropologie, sondern viele verschiedene Perspektiven innerhalb dieses Faches: philosophische, theologische, kultursoziologische, ethnologische, medizinische und biologische.

Obwohl anthropologische Ansätze keine festgelegte Natur des Menschen annehmen, gehen sie von allgemeingültigen Grundvoraussetzungen der menschlichen Existenz aus. So lassen sich sowohl die Struktur als auch das spezifisch Menschliche an der Angst verstehen.

Struktur menschlicher Ängste

In früheren Forschungen wurde eine unbestimmte Angst von einer konkreten Furcht unterschieden. Doch neueste Ansätzen verwerfen diese klare Trennung. Stattdessen wird die Angst graduell eingeordnet. Sie bewegt sich auf einer Skala zwischen diffuser Ängstlichkeit und konkreter Furcht.

So unterschiedlich sich das Phänomen der Angst beim Einzelnen auch ausprägen mag – die grundlegende Struktur ist bei jedem Menschen gleich. 

Struktur der Angst

 

Wer Angst hat:

  • fürchtet sich stets vor etwas (Wovor)
  • verspürt übermächtige Impulse, zu fliehen oder zu vermeiden (Wozu)
  • fühlt sich in seinem ganzen Sein bedroht (Worum)

Keira Burton/pexels.de

 

Angst neigt zur Selbstquälerei, ähnlich wie Eifersucht, meinte der Philosoph Sören Kierkegaard. Und tatsächlich ist das ein weiteres wichtiges Charakteristikum: Angst nutzt die Macht der Fantasie und malt schlimmste Katastrophenszenarien aus. Normalerweise können wir gut zwischen realer Wahrnehmung und Vorstellung unterscheiden. Doch diese Differenzierungsfähigkeit wird in der Angst förmlich ausgehebelt, die Grenzen zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit beginnen zu verschmelzen.

In jedem Fall stellt die Angst, wie alle Emotionen, eine Form des menschlichen Selbstverhältnisses dar, d.h. sie kann als Reaktion auf die Gefährdung des eigenen Selbst betrachtet werden – egal ob auf vitaler, gesellschaftlicher oder existenzieller Ebene. Philosophisch betrachtet, liegt in der Angst ein Moment der Selbstentfremdung.

Anthropologische Grundlagen der Angst

Herzrasen, Schwitzen, angespannte Muskeln und erhöhte Wachsamkeit zeugen von der biologischen Funktion der Angst als Warnsystem. Sie aktiviert den gesamten Organismus, um ihn auf Flucht oder Kampf einzustellen. Im Verlauf der kulturellen Entwicklung tritt jedoch die primäre, lebenserhaltende Funktion der Angst eher in den Hintergrund. Anstelle dessen gewinnt die Angst vor sozialen und existenziellen Bedrohungen immer mehr an Bedeutung.

Im Zusammenhang mit Angststörungen stellt sich die Frage, inwieweit Gegensätze und unvermeidbare Konflikte in der menschlichen Natur vorhanden sind, die unter bestimmten Umständen zu psychischen Krankheiten führen können.

Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs geht von einer anthropologischen Vulnerabilität aus, also von einer speziellen psychischen Gefährdung, die aus der Konstitution des Menschen entspringt. Zu nennen sind hier: 

Foto: Quelle: Unsplash.com/ Agni B

Im Verlauf der kulturellen Entwicklung tritt die primäre, lebenserhaltende Funktion der Angst in den Hintergrund. Anstelle dessen gewinnt die Angst vor sozialen und existenziellen Bedrohungen immer mehr an Bedeutung.

1) Der Mensch als physiologische Frühgeburt

Bereits in den ersten Lebensmonaten und -jahren erfahren wir Angst. Der Mensch wird (verglichen etwa mit Menschenaffen) unfertig geboren, Adolf Portmann nennt ihn eine “physiologische Frühgeburt”. Er ist von Geburt an allerlei Gefahren ausgesetzt und äußerst schutzbedürftig. Dabei scheint die Angst biologisch die Gefahr eines Verlusts von Nähe und Zuneigung von Bezugspersonen und damit von lebenswichtiger Sicherheit zu signalisieren.

Gleichzeitig bringt die “Unausgereiftheit” des menschlichen Körpers und Geistes flexible Möglichkeiten zur Entwicklung mit sich. Das macht selbstbestimmt, kann aber auch auf verschiedenste Weise misslingen und daher ängstigen.

2) Angst als sozial-korrektive Funktion

Angst spielt aber auch eine Rolle im sozialen Gefüge des Menschen. So trägt Angst zur internen Steuerung des Verhaltens innerhalb der Gemeinschaft bei. Nach Sigmund Freud gleicht sie einem inneren Wächter für Selbstkontrolle, damit die Regeln der Gesellschaft nicht verletzt werden und das Zusammenleben reibungslos funktioniert. Aus der Offenheit der individuellen Handlungsfreiheit und den Anforderungen der Gemeinschaft können sich Widersprüche ergeben, die innere Konflikte auslösen. Tatsächlich sind Konflikte zwischen Individuum und sozialer Norm der häufigste Auslöser für soziale Angststörungen.

3) Fantasie und Zukunftsbezug des Menschen

Die Angstbereitschaft des Menschen erhöht sich zusätzlich durch seine Vorstellungskraft. Die Vorwegnahme der Zukunft erlaubt es ihm, mögliche Bedrohungen – wie Krankheiten, Verluste, Trennungen, Notlagen oder Kriege – in Gedanken zu antizipieren. Dadurch wird die Sorge um das eigene Dasein zu einer grundlegenden Struktur des Lebens (vgl. Heidegger). Das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit ruft notwendig Angst hervor.

4) Menschliche Willens- und Handlungsfreiheit

Angst ist letztlich der Preis für die Offenheit des “nicht festgelegten Tieres” (Friedrich Nietzsche), also für unsere spezifisch menschliche Handlungsfreiheit. Da das Leben für den Menschen nicht einfach festgelegt ist, sondern seine eigene Aufgabe ist, impliziert dies zugleich eine höhergradige, nämlich existenzielle Gefährdung. Über die grundlegende Existenzsicherung hinaus, wird das Leben für uns zu einem Risiko mit der Gefahr des Scheiterns. Entscheidungen können dazu führen, dass wir unsere Zielsetzungen oder Prinzipien nicht erreichen und Risiken zu hoch oder zu niedrig einschätzen. Insbesondere in diesem Zusammenhang stehen oft existenzielle Ängste.

„Mut hat, wer aus der Angst im Erfühlen des Möglichen zugreift in dem Wissen: Nur wer Unmögliches will, kann das Mögliche erreichen. Der Mensch wird heute nicht geprägt, indem er sich zu eigen macht, was ihm aus der Tradition seiner Welt entgegenkommt. Er ist in einem neuen Sinne auf sich als Einzelnen gestellt: Er muss sich selbst helfen – frei in der Leere des Nichts.“ (Karl Jaspers)

Ausblick

Angst ist eine grundlegende Erfahrung des Menschen, die sich sowohl im Körper, in gesellschaftlichen Kontexten und letztendlich auch in existenziellen Bereichen zeigt.

Aus Sicht der Anthropologie sind wir grundsätzlich angstanfällig und zwar wegen unserer

  • biologischen “Unangepasstheit” an die Natur
  • Abhängigkeitsverhältnisse zur Gemeinschaft
  • Imaginationskraft
  • Willens- und Handlungsfreiheit 

Bemerkenswert ist vor allem: Die Angst macht deutlich, dass die Selbstständigkeit des Einzelnen keine isolierte Autonomie bedeutet, sondern stets als Unabhängigkeit in Beziehung zum Du, also zur Gemeinschaft zu denken ist.

Quellen:
T. Fuchs und S. Micali: Die Enge des Lebens. Zur Phänomenologie und Typologie der Angst. In: Angst. Schriftenreihe der DGAP, Bd. 6, Verlag Karl Alber, 2017
C. Demmerling und H. Ladweer: Angst. In: Philosophie der Gefühle. Metzler, 2007
Metzler Lexikon der Philosophie: Angst. Metzler, 2008
T. Fuchs: Anthropologische und phänomenologische Aspekte psychischer Erkrankungen. In: H.-J. Möller, R. Laux (Hrsg.): Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, S. 1-15. Berlin, Heidelberg: Springer, 2016