Foto: Sandra Kathe

 

Höhe trotz Angst

Warum sich Höhenangst und die Leidenschaft fürs Ballonfahren nicht zwingend ausschließen

Der 60-jährige Jens Rönnfeldt lebt in Österreich, südlich von Wien, und hat um die 400 Fahrten als Pilot von Heißluftballonen absolviert, eine der spektakulärsten in über 3000 Metern Höhe über die Alpen. Und das, obwohl er seit Kindheit an Höhenangst leidet. Einzelne Momente der Höhenangst erlebt er noch heute – nur beim Ballonfahren ist davon nichts zu spüren. Sandra Kathe hat ihn einen Tag am Boden und im Ballon begleitet.  

23.03.2023 – Text und Interview: Sandra Kathe

Es ist ein x-beliebiger Tag in den 90ern, irgendwo in Norddeutschland. Ein junger Mann will in elf, zwölf Metern Höhe die verwitterte Holzverkleidung am Haus seiner Schwiegereltern streichen. Er organisiert sich Hubsteiger, Pinsel und Farbe, steigt in den Arbeitskorb und drückt aufs Knöpfchen. Keine zwei Meter aufgestiegen, stellt er fest, dass seine Hand sich so stark ins Geländer des Korbes krampft, dass es schmerzt. An ein Weiterfahren ist nicht zu denken.

Ein anderer Tag, kaum ein paar Jahre später. Derselbe Mann, inzwischen Mitte 30, bekommt als Dankeschön für die Hilfe bei der Fertigstellung eines anderen Hauses eine Heißluftballonfahrt geschenkt. Völlig unerwartet geht es zum Startplatz, wo Korb und Ballonhülle vorbereitet werden. Zeit groß darüber nachzudenken, was gleich passieren wird, gibt es keine. Der Ballon hebt ab und schwebt eine Runde irgendwo zwischen Ostsee und Elbe. Wohl schon bevor er wieder landet, war dem jungen Mann klar geworden, dass das nicht seine letzte Heißballonfahrt gewesen sein wird. Von Höhenangst jedenfalls war nichts zu spüren. An beide Tage erinnert sich Jens Rönnfeldt gut.

Hattest du vor deiner ersten Ballonfahrt Bedenken?

Ich hatte kaum Zeit für Bedenken. Damals, das war 1997, hieß es für mich und einen Freund ganz spontan am Morgen, dass wir die Ballonfahrt geschenkt bekommen sollen und es damit auch gleich losgeht. Ich hatte gar nicht Zeit darüber nachzudenken, ob mir das trotz Höhenangst taugen würde, weiß allerdings heute noch gut, dass es mir gefallen hat und von der Höhenangst, die ich sonst seit meiner Kindheit habe, beim Ballonfahren überhaupt nichts zu merken war.

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Jens Rönnfeldt im Korb des Ballons

Wie äußert sich diese Höhenangst in anderen Fällen?

Das kommt immer auf die Situation an. Mal ist es Schwindel und Nervosität, das Gefühl, sich unbedingt irgendwo festklammern zu müssen. Ich hatte aber auch schon Situationen, in denen ich auf einer Aussichtsplattform ganz weit oben stand und, statt den Ausblick zu genießen, plötzlich eine Art Kopfkino losging mit einem Gefühl, jetzt springen zu müssen. Ich habe diesem vermeintlichen Verlangen logischerweise nie nachgegeben, aber beenden lassen sich dieses Gefühl und die weichen Knie, die damit einhergehen, trotzdem nur, wenn ich so eine Situation abbreche. Wenn ich weggehe oder wieder festen Boden unter den Füßen habe, verzieht sich die Angst. In vielen Fällen kann ich danach noch einen zweiten Versuch starten und komme, zum Beispiel bei der Sache mit dem Hubsteiger, doch noch auf die Höhe, um die Hausfassade einigermaßen entspannt ohne große Probleme zu streichen. In vielen Fällen merke ich dann selbst, dass das mit der Angst reine Kopfsache ist.

Das heißt, man kann sich auch trotz Höhenangst an große Höhen gewöhnen?

Das glaube ich auf jeden Fall. Mir hilft es zum Beispiel in vielen Momenten, sich bewusst zu machen, dass ich meine Sicherheit selbst in der Hand habe. In ganz vielen Situationen ist es offensichtlich, dass man eine Reihe von Sicherheitsvorkehrungen beachtet und damit eigentlich nichts passieren kann. Diese Liste im Kopf abzuhaken, gibt mir häufig den nötigen Schub, meine Angst dann doch zu überwinden.

Kannst du in Worte fassen, was beim Ballonfahren anders ist?

Ich glaube tatsächlich – und das sagen auch einige medizinische Studien –, dass das Losgelöstsein von der Erde, das man beim Ballonfahren erlebt, etwas mit der Wahrnehmung macht. Das Zusammenspiel zwischen Auge, Hirn und Gleichgewichtssinn ist ein anderes, wenn du im Ballonkorb stehst, als wenn du die Aussichtsplattform von irgendeinem Funkturm unter den Füßen hast. Zumindest ging es mir seit meiner ersten Fahrt immer so, was es dann ja auch schließlich ermöglicht hat, dass ich die Ausbildung zum Ballonpiloten machen konnte.

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Startvorbereitung

Ende Januar stehen Jens Rönnfeldt und ich gemeinsam im Ballonkorb und schweben knapp 700 Meter überm Erdboden. Seine Frau Karin, deren Ballon sie zu ihrem diesjährigen Besuch des Kaiserwinkl Alpine Ballooning Festivals mitgebracht haben, an dem sie fast jährlich teilnehmen, sitzt irgendwo, ebendiese 700 Meter unter uns im blauen Bus und fährt als Verfolgerin mit. Ihre Aufgabe heute ist, uns am Landeplatz wieder einzusammeln. Verabreden lässt sich so ein Treffpunkt nicht, weil wir fahren, wohin der Wind uns treibt, erklärt Jens seinen drei Passagier:innen, während in einer Wolkenlücke das Kitzbüheler Horn an uns vorbeizieht und Karin aufmerksam vom Boden aus den kleinen blau-weißen Punkt verfolgt, wie sie es schon unzählige Male getan hat. Wenn sie selbst, die bereits als ganz junge Frau von kaum 20 die Ausbildung zur Ballonpilotin absolviert hat, als Pilotin unterwegs ist, werden die Rollen eben getauscht.

Eigentlich hätten wir bereits am Tag vorher abheben sollen, bevor Wind und Nebel den Plänen einen Strich durch die Rechnung gemacht haben und aus dem von Jens beim ersten Kennenlernen angekündigten „Hüpfer“ über den Walchsee ganz im Norden Tirols doch nichts wurde. Besserung für morgen? Eher nicht in Sicht! Am Abend macht sich bei meinem Partner, der situationsbedingt auch immer mal wieder an Höhenangst leidet, und mir, die sich ihr halbes Leben von akuter Agoraphobie hat diktieren lassen, darüber fast so etwas wie Erleichterung breit.

Wie viele deiner Fahrgäste haben Angst, wenn sie zu dir in den Ballonkorb steigen?

Ich würde sagen 80 Prozent der Menschen, die zum ersten Mal mitfahren, sind schon nervös oder äußern mir gegenüber, dass sie etwas Bammel haben. Von denen sagen aber so ziemlich alle direkt nach der Fahrt, dass sie jederzeit wieder einsteigen würden. Einen Passagier mit einer richtigen Panikattacke habe ich tatsächlich erst ein einziges Mal unter rund 1000 Fahrgästen erlebt. In so einem Fall muss man dann eben sehen, dass man schnellstmöglich wieder festen Boden unter den Füßen bekommt.

Kann man in leichteren Fällen der Angst entgegenwirken?

Als Pilot stelle ich mich auf meine Passagiere ein und beobachte die Menschen, die mitkommen, gerade am Anfang sehr genau. Dass wir unsere Fahrgäste schon von Beginn an in die Crew integrieren, weil zum Aufbau auch helfende Hände notwendig sind, hat zwei entscheidende Vorteile: Die Leute bekommen beim Füllen der Ballonhülle mit kalter Luft, die dann nach und nach erwärmt wird, einen ganz praktischen Eindruck davon, wie die Sache mit dem Ballonfahren technisch funktioniert und können Fragen stellen. Damit entsteht eine Vertrauensbasis zu mir und meiner Ausrüstung. Gleichzeitig habe ich Gelegenheit, die Passagierinnen und Passagiere zu beobachten und erkundige mich gerade am Anfang auch immer mehrfach ob alles gut ist. Meistens lautet die Antwort, selbst wenn den Leuten vorher ein bisschen Bammel anzumerken war: „Ja!“

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Blick aus dem Korb auf die verschneiten Berge

Das lief auch in unserem Fall nicht anders, als wir nach dem ungewohnten Abheben von einem Flugplatz in St. Johann plötzlich die Welt aus einer neuen nie erlebten Perspektive sahen. Ein deutliches „Ja!“, gepaart mit einem dicken Grinsen. Die Häuser, Straßen und Bäume werden immer kleiner, um uns herum tanzen viele andere bunte Heißluftballons und treiben, je nach ihrer Höhe, in andere Richtungen ab. Der Brenner über unseren Köpfen stößt immer wieder ein lautes Fauchen aus, danach macht ein Klackern den Temperaturunterschied zwischen Flamme und Tiroler Winterluft kurz hörbar. Und dann herrscht absolute Stille. Als wir weiter und weiter aufsteigen und der Luftströmung folgen, die uns in sicherem Abstand zu den eindrucksvollen Bergen beidseits des Tals in südöstlicher Richtung vorantreibt, beantwortet unser Pilot Jens Rönnfeldt geduldig alle Fragen, mit denen wir zu verstehen versuchen, was hier eigentlich gerade Faszinierendes passiert.

Was passiert, wenn einer deiner Fahrgäste direkt zu Beginn merkt, dass die Ballonfahrt gar nicht geht?

Grundsätzlich gibt es nach den ersten Metern direkt nochmal die Möglichkeit zu landen, auch wenn es meiner Erfahrung nach fast nie dazu kommt. Passagiere, die Probleme bekommen, denen rate ich häufig, erstmal den Blick in die Ferne – auf den Horizont – zu richten, was die Sinneswahrnehmung ein Stück weit verändern kann und dafür sorgt, dass mögliche Schwindel- oder Angstgefühle auch deutlich abnehmen, während ein Blick nach unten erste Angstgefühle sehr wahrscheinlich erstmal verstärkt. Was ich außerdem immer versuche, ist eine ganz entspannte Atmosphäre zu schaffen, bei der niemand zu irgendetwas gezwungen oder zur Hektik angehalten wird, einfach weil meiner Erfahrung nach ein entspanntes Miteinander auch Problemen mit Angst entgegenwirkt.

Kann man sagen, dass Ballonfahren grundsätzlich als Angsttherapie taugt?

Ich denke schon, dass es einen positiven Effekt haben kann. Jetzt bin ich natürlich kein Psychologe, aber grundsätzlich würde ich schon sagen, dass man Ängste bekämpft, indem man sich mit den Dingen konfrontiert, vor denen man Angst hat. Wenn du Probleme mit Spinnen hast, musst du sehen, dass du dich langsam an Spinnen herantastest und bei Angst vor Höhe musst du dich in Situationen bringen, in denen die Faszination der Höhe die Angst überwiegt. Und dafür ist das Ballonfahren in meinen Augen bestens geeignet.

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Grundsätzlich würde ich schon sagen, dass man Ängste bekämpft, indem man sich mit den Dingen konfrontiert, vor denen man Angst hat. Bei Angst vor Höhe musst du dich in Situationen bringen, in denen die Faszination der Höhe die Angst überwiegt. Und dafür ist das Ballonfahren in meinen Augen bestens geeignet.

Jens Rönnfeldt

Die Fahrt ist zu Ende und wir sitzen nach einer weichen Landung irgendwo auf einem Feldweg im Norden Österreichs zu viert auf etwas, was man aus der Ferne für einen etwas überdimensionierten Sitzsack halten könnte. Im Inneren des kaum einen Kubikmeter großen Päckchens entweicht gerade die letzte Luft aus der sorgfältig zusammengebundenen und verstauten Ballonhülle, die uns eben noch in gut zweieinhalb Stunden Fahrt vier Kilometer durch die traumhaft schöne Berglandschaft getragen hat. In Sichtweite landet einige hundert Meter neben uns ein weiterer Ballon, der kurz nach uns in St. Johann gestartet ist und dessen Crew wir noch beim Zusammenpacken unterstützen. Auch hier steigen ausschließlich gut gelaunte Menschen aus, die von ihren Piloten im Anschluss getauft und damit in die Riege derer aufgenommen werden, die Mut bewiesen und in dieser ganz speziellen Fortbewegungsart die Welt von oben betrachtet haben.

Als es am Ende, wenn alles wieder gemeinschaftlich verstaut und verpackt ist, mit dem Auto zum Ausgangspunkt zurückgeht, kommt fast etwas Wehmut auf, dass der Wind nicht einfach drehen konnte und es zurück nicht einfach noch einmal durch die Luft gehen kann. Denn jetzt, wo Bedenken und Angst das erste Mal eines Besseren belehrt wurden, könnte man es fast machen, wie damals der junge Mann in den 90ern, der das Ballonfahren zum Hobby gemacht und von den tollen Perspektiven auch heute noch längst nicht genug hat.