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“Ich würde lieber sterben als kotzen!”

Fallbericht einer Emetophobie-Therapie

Den Satz „Ich würde lieber sterben als kotzen!“ sagt Mia, eine 16-jährige Schülerin, bei der Aufnahme in die Klinik. Sie hat panische Angst davor, dass sie selbst oder eine andere Person in ihrer Nähe erbrechen könnte. Der folgende Bericht erläutert, mit welchen therapeutischen Mitteln es Mia in relativ kurzer Zeit geschafft hat, diese Angst in den Griff zu bekommen.

05.01.2024 – Autor: Michael Metzner

Die Geschichte von Mia

Im weiteren Verlauf des Gesprächs erzählt sie ihrem Bezugstherapeuten, wie sich diese quälende Angst vor zwei Jahren nach einem schweren Magen-Darm-Infekt mit dem Noro-Virus entwickelte. Zunächst habe sie nur Probleme beim Busfahren gehabt, weil sie befürchtete, „nicht rauszukommen“, wenn sie selbst oder ein anderer Fahrgast würde brechen müssen. Im Laufe der Zeit sei es ihr dann zunehmend schwergefallen, überhaupt öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, einkaufen zu gehen oder sich mit Freunden zu treffen, geschweige denn wie ihre Altersgenossen zu feiern. Oft habe sie den Unterricht panisch verlassen müssen, weil sich ihr Magen „seltsam“ anfühlte. Wenn jemand in ihrer Nähe auch nur hustet oder eine Mitschülerin beiläufig erwähnt, dass sie sich nicht gut fühlt, laufe es ihr heiß und kalt den Rücken hinunter. Sie müsse sich dann ständig rückversichern, ob derjenige auch wirklich nichts Ansteckendes habe und sich vielleicht übergeben könnte.

Aus Angst vor Übelkeit und Erbrechen war es Mia schließlich nicht mehr möglich, mit der Familie in den Urlaub zu fahren. Und bei jeder Mahlzeit kreisen ihre Gedanken nur noch darum, ob sie diese auch gut vertragen würde. Auswärts zu essen sei schon lange undenkbar, weil die junge Frau den fremden Hygienestandards nicht wirklich vertraut. Gewöhnliche Infekte sind für sie ein absoluter Horror, weil die ständige Sorge über ein etwaiges Erbrechen ihr dann den letzten Nerv raubt und gehörig auf den Magen schlägt – ein Teufelskreis aus Übelkeit und Angst vor dem Erbrechen, der mittlerweile ihr gesamtes Leben bestimmt.

Von ihrer ambulanten Psychotherapeutin hat Mia bereits erfahren, dass sie unter einer Emetophobie, der krankhaften Angst vor dem Erbrechen, leidet. Aufgrund der Schwere ihrer Beeinträchtigungen hatte die niedergelassene Therapeutin eine stationäre Behandlung angeregt.

Der erste Schritt: Das Problem verstehen

In der Klinik setzt sich die junge Patientin dann schrittweise mit ihren Ängsten auseinander. Das Problem genau zu verstehen, ist nämlich sehr wichtig, um die geeigneten Schritte zu seiner Lösung zu wählen.

So kann Mia gemeinsam mit ihrem Therapeuten reflektieren, dass sie ein äußerst empfindsamer, ängstlicher Mensch ist und sich schon immer den Kopf über alles Mögliche zerbrochen hat (hohe Ängstlichkeit). Und dass sie sich – genau wie ihre Mutter – vor Vielem ekelt (Ekelsensitivität), weswegen sie einen übermäßig hohen Hygienestandard entwickelte. Schon im Kindergarten sei es für sie schrecklich gewesen, wenn eines der Kinder erbrechen musste. Als es sie selbst einmal aufgrund eines Magen-Darm-Infektes erwischte, sei es „der blanke Horror“ gewesen, so dass Mia zunächst den weiteren Besuch der Einrichtung verweigerte. Von ihrem Vater hat das Mädchen, wie sie berichtet, den empfindlichen Magen geerbt und entsprechend auf jede Aufregung seit jeher mit Bauchweh und Übelkeit reagiert (Somatisierungsneigung). Darüber hinaus wird der Teenagerin in den Gesprächen auch zunehmend klar, dass sie ihr brüchiges Selbstwertgefühl, das aufgrund von zahlreichen Mobbingerfahrungen in der Grundschule gelitten hatte, vor allem über Leistung zu gewinnen versucht. So nimmt es nicht Wunder, dass die Schülerin auf dem Gymnasium mit den stetig steigenden Anforderungen zunehmend unter Leistungsdruck kam und viele ihrer Hobbies, die dem Ausgleich dienten, vernachlässigte.

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Durch die Vermeidung war sie in die Falle getappt, die alle Angsterkrankungen mit sich bringen. Die kurzfristige Sicherheit wird nämlich mit dem hohen Zins des sich stetig verengenden Lebensradius und einer steigenden Erwartungsangst erkauft. Harmlose Schreckgespenster werden damit zu wahren Horrorgestalten.

Der Noro-Virus, von dem die Patientin eingangs berichtete, hat das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht und all ihre Ängste an einer „psychischen Sollbruchstelle“ kanalisiert. Es ist mehr als nachvollziehbar, dass das Mädchen in diesem Ausnahmezustand keine bessere Lösung als die komplette Vermeidung aller Situationen fand, die zu Übelkeit und Erbrechen führen könnten. Leider ist sie damit in die Falle getappt, die alle Angsterkrankungen mit sich bringen. Die kurzfristige Sicherheit wird nämlich mit dem hohen Zins des sich stetig verengenden Lebensradius und einer steigenden Erwartungsangst erkauft. Harmlose Schreckgespenster werden damit zu wahren Horrorgestalten, „deren Namen noch nicht einmal genannt werden dürfen“.

Die pfiffige junge Frau versteht daher sehr schnell, dass der einzig sinnige Weg aus dem Schlamassel heraus darin bestehen muss, sich der Angst zu stellen, ihr direkt ins Auge zu blicken und zu überprüfen, ob das Monster sie frisst. Im psychotherapeutischen Fachjargon nennt sich das Exposition.

Biofeedback: Den Zusammenhang von Körper und Geist sehen

Im Rahmen einer ganz speziellen Behandlungsmethode, dem sogenannten Biofeedback, soll Mia der Zusammenhang von körperlichen Reaktionen wie Übelkeit mit psychischem Stress veranschaulicht werden. Dabei ist der gut zwei Kilometer lange Weg zu den Behandlungsräumen dieser Fachtherapie, für den ein Shuttle-Bus genutzt wird, für sie zunächst ein unüberwindbares Hindernis. Mehrere Male muss die Jugendliche den Weg gemeinsam mit ihrem Bezugstherapeuten zu Fuß bestreiten und „inspizieren“, bis sie sich schließlich ein Herz fasst und in den Klinik-Bus einsteigt (vorne, versteht sich).

Richtig atmen lernen

Im Biofeedback erlernt die Patientin ein wichtiges Tool zur Besänftigung ihres nervösen Magens und damit zur Linderung der Dauerübelkeit: die tiefe Zwerchfellatmung. Ein am Bauch befestigter Atemgurt misst dabei ihre Atembewegungen und zeigt genau, ob Mia in den Unterbauch atmet und wie viele Atemzüge sie pro Minute macht. Im Erstgespräch wird bei ihr eine Atemrate von über 30 Atemzyklen pro Minute bestimmt, was als „Stressatmung“ anzusehen ist und eine Erklärung für ihre Symptome von Übelkeit und Benommenheit bietet. Als Norm gilt eine Atemfrequenz von 15 bis 20 Atemzügen. In wenigen Sitzungen kann die engagierte Patientin ihre Atmung bereits auf 6 Atemzüge pro Minute beruhigen. Das ist eine besondere Frequenz („Resonanzfrequenz“), bei der das Herz bzw. der Puls eine ganz deutliche „Schwingung“ – die sogenannte Herzratenvariabilität (HRV) – zeigt, die durch unser Entspannungssystem (den Parasympathikus) verursacht wird. Je höher diese Schwingung ist, desto aktiver arbeitet der Magen-Darm-Trakt, und Übelkeit verfliegt. Auch in den bevorstehenden Expositionen soll Mia darin unterstützt werden, eine gesunde Atemfrequenz aufrechtzuerhalten.

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Weil sie in der Vergangenheit wirklich alles vermieden hat, was mit dem Erbrechen zu tun hat, löst zu Beginn der Konfrontationsbehandlung schon der kurze Anblick abstrakter Piktogramme oder Comiczeichnungen mit erbrechenden Menschen immense Angst aus.

Das Herz mit Achtsamkeit im Hier-und-Jetzt verankern

Neben dem Atemtraining wird in der Therapie eine Haltung von „Achtsamkeit“ mit Hilfe ganz einfacher und bewährter Meditationstechniken (z.B. Sitz- und Gehmeditation, Bodyscan und Yoga) eingeübt. Das soll der Patientin helfen, im Hier-und-Jetzt zu bleiben und etwas Abstand von aufdringlichen Gedanken zu gewinnen – Erinnerungen an vergangene Erbrechensszenarien (Flashbacks) bzw. Horrorphantasien, was in der Zukunft alles passieren könnte (Flashforwards). Ferner ist Achtsamkeit diejenige offene, annehmende und neugierige innere Ausrichtung, die bei einer therapeutisch wirksamen Konfrontation wichtig ist. Ein stumpfes „Aushalten“ von Angstsituationen macht nämlich keinen Sinn, wie sie erfährt und aus eigener Erfahrung nur zu gut bestätigen kann. „Die Angst bewusst zulassen und erleben“, lautet die Devise.

Konfrontation mit den Schreckgespenstern: Die Expositionsbehandlung

Als Mia bei der Erläuterung der Exposition große Augen macht, wird schnell Entwarnung gegeben: Das eigene Erbrechen wird üblicherweise nicht exponiert, weil es in den meisten Fällen weder besonders hilfreich noch nötig ist. Vielmehr hangelt man sich anhand einer vorher erstellen Angsthierarchie schrittweise zu immer herausforderderen Situationen hoch und erweitert so den eigenen Aktionsradius – in ihrem Tempo. Darauf kann sich die junge Frau gut einlassen.

Weil sie in der Vergangenheit wirklich alles vermieden hat, was mit dem Erbrechen zu tun hat, löst zu Beginn der Konfrontationsbehandlung schon der kurze Anblick abstrakter Piktogramme oder Comiczeichnungen mit erbrechenden Menschen immense Angst aus. Doch die aufgeweckte Schülerin stellt fest, dass diese mit der richtigen Atemtechnik und einer zulassenden inneren Haltung recht schnell abklingt und kaum Übelkeit mit sich bringt. Das ermutigt sie, bald Videos von erbrechenden Comicfiguren, Babys und auch erwachsenen Menschen in zunehmender Schwierigkeitsstufe anzusehen, ohne dabei völlig aus dem Häuschen zu geraten. Sie wagt es, mit Gummikotze zu hantieren, mit Spaß ein therapeutisches „Kotze-Quartett“ zu spielen und sogar an Buttersäurearoma zu riechen, das stark nach Erbrochenem stinkt.

Ferner traut sie sich, das tunlichst vermiedene Völlegefühl im Magen durch zügiges Trinken von einem halben Liter Mineralwasser zu exponieren. Während sie normalerweise mit vollem Bauch jede Bewegung vermeidet, legt sie sich in der Therapie nun bäuchlings über einen Gymnastikball und macht einen Handstand, um ihre katastrophisierenden Erwartungen zu überprüfen – und schließlich zu widerlegen. Sie lässt sich auf einem Bürostuhl so lange drehen, bis ihr schwindlig und schlecht ist – um festzustellen, dass auch diese Empfindungen ohne weitere Folgen nach wenigen Minuten wieder abklingen. Gleiches bei der nachgespielten Racheninspektion mit einem Mundspatel – was für Mia zu Corona-Zeiten immer ein (oftmals vermiedener) Gräuel war. Schließlich spielt die mutige Patientin das eigene Erbrechen mit dem Therapeuten nach, zuerst noch relativ abstrakt, dann ganz realitätsnah mit einem Eimer, in den sie mit lauten Würgegeräuschen eine zerkaute Brezel mit Cola aus dem Mund laufen lässt und Buttersäurearoma riecht.

Das Buch des Autors

 

Michael Stefan Metzner:
Mein Köpfchen sagt: “Ich muss erbrechen!”
Mit Achtsamkeit aus der Emetophobie
Rhombos Verlag Berlin 2020

Das Buch ist als Leitfaden für Betroffene wie für Therapeuten gedacht, als ermutigendes “Mitlese- und Arbeitsbuch”, das über die Symptomatik der Emetophobie aufklärt und Wege vermittelt, die Angst zu überwinden. Die Methodik basiert auf einer zeitgemäßen kognitiven Verhaltenstherapie gepaart mit einer Geisteshaltung von Achtsamkeit.

Die alten, traumatisierenden Horrorszenarien des eignen Erbrechens im Rahmen der Noro-Erkrankung werden ebenso wie die von ihr phantasierten Schreckensszenarien in der Klinik (“Ich könne mir einen Magen-Darm-Infekt einfangen und erbrechen”) in der Vorstellung – „in sensu“, wie man sagt – exponiert. Dabei stellt Mia fest, dass sie diese Gedanken aus Angst oftmals einfach nicht weitergedacht und darüber vergessen hatte, dass nach dem Erbrechen immer die Erleichterung kommt. Und dass weniger das Erbrechen selbst für ihr Unwohlsein verantwortlich war, als der Virus, unter dem sie litt. Vor allem eine Exposition des Würgereizes (ohne Erbrechen!) öffnet ihr in diesem Zusammenhang die Augen. In dem konfrontativen Verhaltensexperiment überprüft sie die Annahme, dass Würgen praktisch gleichbedeutend mit Erbrechen ist. Doch selbst nach zehnmaligem Auslösen des Würgereflexes (durch die Patientin selbst) bleibt das Erbrechen aus. Mia stellt erstaunt fest, dass dieser Reflex selbst für sie „gar nicht so schlimm“ ist.

Arbeit am Hintergrund

Schon bei der Erarbeitung des Störungsmodells wird Mia klar, dass man eine Angststörung wie die Emetophobie nicht einfach mal so mit Expositionen wegtherapiert und sonst alles beim Alten bleibt, sondern dass die Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung immer mit dem Menschen in seiner Gesamtheit zu tun hat. Dass sie lernen muss, sich nicht nur über ihre schulischen Leistungen zu definieren und in Beziehungen auch eigene Bedürfnisse und Wünsche äußern darf, ohne dafür gleich gemobbt oder verlassen zu werden. Das ist für sie ein ebenso hartes Stück Arbeit wie die Expositionsbehandlung. Auch mal Nein zu sagen, wenn ihr etwas gegen den Strich geht, also Grenzen zu setzen, ist vor allem im Kontakt mit Gleichaltrigen eine große Herausforderung. Immer wieder verwandelt sich ihre ohnehin selten auftretende Wut auf Mitpatientinnen oder Therapeuten in Selbsthass und – Angst. Doch einige besonders positive Beziehungen zu Mitstreiterinnen auf derselben Station helfen der Patientin, mehr und mehr zu sich selbst zu stehen und ihren inhärenten Wert als Mensch zu erkennen.

Weil der Stationsalltag gewissermaßen ein „sozialer Experimentierkasten“ ist, bieten sich zahlreiche Möglichkeiten, mit Gefühlen anders umzugehen, als man das vielleicht gewohnt ist: z.B. Enttäuschungen offen anzusprechen oder Irritationen in zwischenmenschlichen Kontakten rückzumelden. Unter therapeutischer Begleitung macht Mia auch in dieser Hinsicht große Fortschritte.

Schließlich werden auch die Eltern eingeladen, um für ein gedeihliches Miteinander nach dem stationären Aufenthalt zu sorgen und Unterstützungsmöglichkeiten für die junge Patientin zu besprechen.

Fazit: Mit neuem Mut nach Hause

Mia verlässt nach 12 Wochen stationärer Therapie die Klinik mit festen Plänen für die Zukunft. Natürlich sind ihre Ängste nicht gänzlich weg. Aber sie hat ihren Handlungsspielraum auf ein Maß erweitert, das ihr die Hoffnung auf ein erfülltes Leben zurückbringt. Ferner weiß das Mädchen sehr genau, wie sie den Herausforderungen des Alltags mit ihrem neuen Handwerkszeug zu begegnen hat.

So revidiert die junge Frau schließlich doch noch ihre anfängliche Aussage und meint, dass sie nun doch „lieber kotzen als sterben“ würde.