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Im Verborgenen leiden

Emetophobie erkennen und behandeln

„Das glaube ich jetzt nicht! Es gibt eine Angst vor dem Erbrechen?“ Emetophobie ist eine weitverbreitete, jedoch oft unterschätzte und stigmatisierte psychische Störung. Diese Furcht vor dem Erbrechen, entweder dem eigenen oder beim Anblick des Erbrechens anderer, kann das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. In diesem Artikel werden wir die Wurzeln, die Auswirkungen und die therapeutischen Ansätze näher beleuchten.

05.01.2024 – Autorin: Martina Effmert

Emetophobie – Ursachen und Symptome

Emetophobie bedeutet eine irrationale und überwältigende Angst vor dem Erbrechen sowie jeglicher Konfrontation damit, mitunter tritt auch eine Angst vor der Beobachtung anderer Menschen oder sogar Tiere beim Erbrechen auf. Die genauen Ursachen der Emetophobie sind oft unklar. Traumatische Kindheitserlebnisse oder eine klassische Konditionierung nach dem „Pawlowschen Hund“-Prinzip können eine Rolle spielen. Negative Gedankenmuster und eine Neigung zur Katastrophisierung wirken als zusätzliche Verstärker der Angst.

Schleichend geht es meistens los – willkürlich und unspezifisch. Anfängliche Beschwerden wie Übelkeit oder Magenbeschwerden werden allmählich zu täglichen Begleitern. Oft beginnt die Erkrankung unscheinbar, doch mit der Zeit greift sie auf nahezu alle Lebensbereiche über.

„Mir ist schlecht“ – diese drei Worte benutzen Betroffene im Dauergebrauch, schleichen sich täglich ein. Übelkeit, Magenbeschwerden sowie eben dieser Satz, über einen längeren Zeitraum verwendet, können erste Warnsignale sein, die genauer beobachtet werden sollten.

Die Symptome der Emetophobie beginnen subtil, oft mit anhaltender Übelkeit und körperlichen Beschwerden wie Herzrasen, Schwindel und Druckgefühl im Hals. Mit diesen Symptomen wenden wir uns meist zuerst an die Schulmedizin. Führen aber jegliche medizinische Untersuchungen, von Ultraschall über Magen-Darmspiegelungen, MRT oder Unverträglichkeitstests zu keinem relevanten Ergebnis, bleibt der Patient ratlos, verzweifelt und gefrustet zurück – mit seinen Ängsten alleingelassen und zuweilen als Simulant abgetan.

Als Folge wächst die Angst immer weiter, Nahrungsmittel für Nahrungsmittel wird als potenzieller Auslöser angesehen, sodass der Patient die Ernährung reduziert, begrenzt und kontrolliert. Außerdem neigen Betroffene dazu, sich sozial zurückzuziehen, da sie in sozialen Situationen oder an öffentlichen Orten die erhöhte Wahrscheinlichkeit für eigene Übelkeit oder das Beobachten anderer Menschen mit Übelkeit fürchten. Die Angst vor einem Magen-Darm-Virus macht den Kita-Besuch in der Winterzeit für junge Mütter, die mit diesem Problem konfrontiert sind, zu einer regelrechten Qual.

daka/pexels.de

 

Da Übelkeit und Bauchbeschwerden zu einer Reduktion der Nahrungsaufnahme führen, verlieren die Betroffenen mitunter an Gewicht. Bei der Emetophobie steckt dahinter die Angst vor unverträglichen Lebensmitteln/Reizstoffen, die Betroffene als Übelkeitsauslöser fürchten.

Auswirkungen im Alltag

Da Übelkeit und Bauchbeschwerden zu einer Reduktion, gar Restriktion der Nahrungsaufnahme führen, verlieren die Betroffenen mitunter an Gewicht. Sie meiden die Nahrung – anders als bei einer Magersucht – nicht aufgrund des Fettgehalts oder der Kalorienanzahl. Bei der Emetophobie steckt die Angst vor unverträglichen Lebensmitteln/Reizstoffen dahinter, die Betroffene als Übelkeitsauslöser fürchten. Im Kopf führen sie eine Liste mit „gefährlichen“ und „sicheren“ Lebensmitteln, auf die sie sich sicherheitshalber beschränken. Die Einstufungen sind dabei komplett individuell und orientieren sich daran, ob bisher gute Erfahrungen bezüglich der Verträglichkeit gemacht wurden.

Betroffene sortieren akribisch Haltbarkeitsdaten und essen niemals etwas Abgelaufenes. Vertrauen auf die eigenen Sinne ist unmöglich. Zubereitete Speisen eines anderen Menschen sind eine unbestreitbare Challenge. Unbekannte Lebensmittel sind angsteinflößende Feinde, die möglicherweise Gefahren auslösen. Die tägliche Nahrungsaufnahme wird einseitig, durch Mangelerscheinungen verstärken die Symptome sich noch weiter. Ein Teufelskreis entsteht und Betroffene entwickeln eine regelrechte Angst vor dem Essen. Bei der Nahrungsaufnahme bauen sie verschiedene Rituale ein, die in ängstlichen Momenten in einem kompletten Vermeidungsverhalten enden.

Abgrenzungen zu anderen psychischen Störungen

Magersucht: Auch wenn die Magersucht ebenfalls eine Form der Angst ist, besteht diese jedoch darin, an Gewicht zuzunehmen oder dick zu sein bzw. zu werden. Betroffene haben Angst, von einem Kontrollverlust über das Essen übermannt zu werden. Die sichtbare Auswirkung zeigt sich dementsprechend mit deutlich zu geringem Gewicht, das die Betroffenen allerdings immer noch als viel zu hoch ansehen. Die Körperwahrnehmung ist gestört und im Spiegel zeigt sich nicht der abgemagerte Körper, sondern eine vielfache Dimension davon, was zur Einschätzung „zu dick“ führt. In der Folge schränken die Betroffenen ihre Nahrungsaufnahme weiter ein und verlieren kontinuierlich an Gewicht.

Zwar kontrollieren auch Emetophobie-Betroffene ihr Essen und ritualisieren ihre Nahrungsaufnahme, allerdings aus anderen Impulsen. Ihre Kategorisierungen haben nichts mit dem Fettgehalt, der Kalorienzahl oder Menge zu tun. Die Gefahr sieht der Emetophobiker in der Übelkeit. Die Betroffenen halten sich an dem Glauben fest: „Je weniger reinkommt, desto weniger kann wieder herauskommen.“

Ein weiterer sehr ausschlaggebender Unterschied liegt darin, dass den an Magersucht erkrankten Patienten sehr häufig die Einsicht in das Ausmaß ihrer Krankheit fehlt. Ganz anders ist das bei den an Emetophobie Erkrankten: Der Wunsch „normal“ essen zu können, ist unbeschreiblich und die Verzweiflung wächst, es nicht zu können und deshalb abzunehmen. Der starke Gewichtsverlust ist für einen Magersucht-Patient ein Erfolg, für viele an Emetophobie-Leidende dagegen eine zusätzliche Beeinträchtigung. 

Zwangsstörung: Eine Gemeinsamkeit von Magersüchtigen und Emetophobikern findet sich in der Entwicklung von Ritualen rund um die Nahrungsaufnahme. Beide Gruppen essen meistens sehr langsam, kauen sorgfältig und schneiden die Bestandteile in unzählige Schnipsel. Mahlzeiten werden nur noch (oder wenn überhaupt) an bestimmten Orten und zu genauen Zeiten zu sich genommen. Für Magersüchtige beherrschen das Kalorienzählen und die Nährstoffanalyse die Mahlzeiten. Für Emetophobiker gelten die Händedesinfektion und Reinigung der Lebensmittel als Rituale. Deswegen denken bei diesen Handlungen viele Ärzte voreilig an einen Waschzwang, also eine Zwangsstörung.

Soziale Phobie: Nicht nur die Magersucht führt häufig zu Verwechslung. Viele Betroffene ziehen sich beruflich und sozial komplett zurück, vermeiden gesellschaftlichen Kontakt, Restaurantbesuche, öffentliche Verkehrsmittel, Supermärkte, Wartebereiche usw. Überall lauern potenzielle Gefahren, dass man selbst oder ein anderer sich übergeben könnte. Das mündet zuletzt im völligen Einnisten in den eigenen „sicheren“ vier Wänden. Und der Rückzug erfolgt in Gesellschaft des Alltagsbegleiters: der Übelkeit.

Schulangst: Gerade bei Kindern ist ein genaues Hinsehen gefragt. Nicht selten wird eine soziale Phobie oder Schulangst vermutet, wenn das Kind jeden Morgen über Übelkeit klagt, das Butterbrot nicht anrührt und weint, wenn der nächste Schultag ansteht.

Quelle: Martina Effmert, Angst vor Übelkeit und Erbrechen, S. 64

Woran erkenne ich die Emetophobie noch?

Dazu schauen wir uns die mentale Ebene genauer an. Die Gedanken der Patienten drehen sich nur um die Angst, sich übergeben zu müssen. Sätze wie „Hilfe, ich werde sterben, ich muss hier raus“ oder „Es hört nicht mehr auf, diese Übelkeit ist unerträglich“ schwirren den ängstlichen, ja schon panischen Betroffenen im Kopf herum. Sie fühlen sich traurig, verzweifelt, deprimiert und wertlos – hinzu kommt großes Schamempfinden. Dies führt zu komplexen Verhaltensmustern, die sich in Vermeidung, Flucht, Ablenkung, Medikamenten oder auch regressivem Verhalten zeigen.

Wer ist betroffen?

Emetophobie kann Menschen jeden Alters und Geschlechts treffen, wobei Frauen häufiger betroffen sind. Einige Betroffene können sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann die Symptome erstmals auftraten. Für die Behandlung und die Ausprägungen spielen diese Faktoren auch lediglich eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist die frühzeitige Diagnosestellung, damit eine entsprechende Behandlung angegangen werden kann.

Das Buch der Autorin

Martina Effmert: 
Angst vor Übelkeit und Erbrechen
humboldt 2021

In diesem Ratgeber erklärt die Therapeutin Martina Effmert die Entstehung der Symptome, ihre Behandlung und die Möglichkeiten der Selbsttherapie zu Hause. Viele erprobte Übungen helfen dabei, die Emetophobie in den Griff zu bekommen und zu besiegen – von der Selbstfürsorge über Atemübungen bis hin zu Notfallmaßnahmen wie Akupressur, Massage oder Zentrierungsübungen.

Behandlungsmöglichkeiten

Zuerst einmal vorweg: Behandlungsmöglichkeiten gibt es! Die Behandlung der Emetophobie erfordert eine ganzheitliche Herangehensweise. Besonders eine mögliche Hochsensibilität der Betroffenen sollte berücksichtigt werden, da sie bei jedem Magengeräusch oder Zwicken in ihren Körper hineinhorchen. Eine professionelle Therapie, wozu beispielsweise die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologische Therapie oder die Hypnotherapie zählen, kann nachweislich erhebliche Fortschritte bewirken. Das Ziel ist eine Verhaltensänderung, sodass negative Denkmuster umgepolt werden. Bei schweren Fällen können Medikamente zur Linderung von Angst- und Übelkeitssymptomen eingesetzt werden.

Wichtig ist dabei allerdings auch immer die Begleitung durch einen qualifizierten Therapeuten. Eine Kombination der Therapiemöglichkeiten kann wahre Wunder bewirken. Gerade die Hypnose zeigt enormes Potenzial. Mit der richtigen, frühzeitigen Diagnosestellung sollen Betroffene schnelle und erfolgsversprechende Unterstützung finden, damit das Leben geprägt von Einschränkungen und Beschwerden wieder lebenswert und voller Freude wird.

Mit einer Therapie gelingt es, die empfundene Angstintensität zu reduzieren. Nicht nur die Häufigkeit der Angstattacken nimmt stetig ab, auch können die eigenen Körpervorgänge bewusster wahrgenommen und verstanden werden. Dadurch werden schädliche Gedankensysteme und -strudel selbst erkannt, entschlüsselt, schließlich zum Positiven verändert und neu abgespeichert. Das eröffnet die Aussicht auf ein Leben ohne ständige Gefühle des Ausgeliefertseins, sondern mit Vertrauen in den eigenen Körper. Die Wahrnehmung und der Umgang mit dem eigenen Körper verbessern sich schrittweise. Die Hypnose, aber auch andere Therapieansätze, aktivieren die Selbstheilungskräfte der Betroffenen. Und mit der richtigen Diagnose, der entsprechenden Behandlungsmethode, dem vertrauensvollen Therapeuten, der eigenen Motivation und auch einer Portion Geduld kommen Lebensmut, Lebenskraft und Lebensfreude wieder zurück.

Aussicht

Ohne Zweifel beeinträchtigt die Emetophobie das Leben der Leidenden stark. Dagegen kann die richtige Therapie die Intensität der Angst reduzieren und die Lebensqualität steigern. In akuten Situationen helfen leicht anwendbare SOS-Maßnahmen wie Klopfen, Atemübungen und Selbsthypnose-Anleitungen. Diese Notfallinstrumente lassen sich gut in den Alltag integrieren und anwenden. Manche Patienten schwören auf Angstringe oder Seaband-Armbänder – die je individuellen kleinen Helferlein muss jeder Patient für sich herausfinden und sich zu Nutze machen.

Die Entwicklungen im Verständnis und in der Behandlung der Emetophobie sind vielversprechend. Bleibt zu hoffen, dass in Zukunft mehr Aufmerksamkeit auf diese Störung gelenkt wird, um Betroffenen die angemessene Unterstützung zu bieten. Es gibt wirksame Behandlungsansätze, um diese belastende Angst zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen.

Falls Sie selbst oder bei einem Angehörigen vermuten, an Emetophobie zu leiden, zögern Sie nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie sind nicht alleine – viele Menschen teilen das Problem, und gemeinsam kann dieser Angst entgegengewirkt werden.