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Klettern als Therapie

Ein effektiver Ansatz zur Bewältigung von Ängsten und psychischen Herausforderungen

Menschen, die im Alltag mit verschiedenen Ängsten zu kämpfen haben, werden sehr wahrscheinlich schnell sagen: „Klettern? Niemals!“ Wenn Panikattacken wie aus dem Nichts kommen oder vermeintlich einfache Aufgaben starke Ängste auslösen und kaum zu bewältigen erscheinen, ist diese Reaktion nur logisch. Doch gerade diese Menschen können vom therapeutischen Klettern profitieren. Wie das funktioniert und was therapeutisches Klettern genau bedeutet, wird in diesem Artikel erklärt.

24.11.2023 – Autor: Pascal Bsdurek

Therapeutisches Klettern aus Sicht der Wissenschaft

Bereits seit vielen Jahren wird Klettern als therapeutisches Verfahren bei verschiedenen Krankheiten eingesetzt. So wird zum Beispiel in der Orthopädie das Klettern genutzt, um mit PatientInnen an Körperaufrichtung, Kräftigung und Mobilisierung des Bewegungsapparates oder am Abbau muskulärer Dysbalancen zu arbeiten. Auch bei der Behandlung von neurologischen Erkrankungen, wie Multiple Sklerose oder Parkinson, kommt therapeutisches Klettern zum Einsatz.

Vor allem aber im Bereich psychischer Erkrankungen konnte in den letzten Jahren durch mehrere qualitativ hochwertige Studien gezeigt werden, wie gut therapeutisches Klettern zum Beispiel bei der Behandlung von Depressionen oder Angststörungen helfen kann.

Karg et al. (2020) konnten mit einer randomisiert kontrollierten Studie nachweisen, dass positive Veränderungen in Bezug auf Angstempfinden, das eigene Körperbild und das Selbstwertgefühl bei den TeilnehmerInnen einer therapeutischen Klettergruppe stärker war als bei der Kontrollgruppe. Luttenberger et al. (2022) verglichen in einer randomisiert kontrollierten Studie eine manualisierte therapeutische Klettergruppe mit einer klassischen psychotherapeutischen Gruppe (kognitive Verhaltenstherapie). Das Ergebnis zeigt, dass beide Gruppenkonzepte einen starken positiven Effekt auf depressive Symptome und Angstempfinden erzielen können. Die Effektstärke beider Konzepte ist in etwa gleich hoch (kein signifikanter Unterschied). Die Vermutung der Forschergruppe wurde damit bestätigt: Die untersuchte therapeutische Klettergruppe ist genauso effektiv wie kognitive Verhaltenstherapie im Gruppensetting. Zusätzlich konnte nachgewiesen werden, dass die positiven Effekte nach Ende der Behandlung mindestens zwölf Monate anhalten.

Weitere Forschung wird benötigt, jedoch gibt es mittlerweile deutliche Anzeichen dafür, dass therapeutisches Klettern eine effektive Methode in der Behandlung von psychischen Erkrankungen darstellt. Viele Kliniken haben das erkannt und therapeutisches Klettern in ihr Behandlungskonzept integriert. Nicht nur im stationären Rahmen, sondern auch ambulant sind mittlerweile verschiedene Angebote entstanden.

Doch wie genau wirkt Klettern auf die Psyche?

Wer sich schon mal mit dem Thema Angstbewältigung auseinandergesetzt hat, weiß, dass es sehr hilfreich sein kann, sich seinen Ängsten zu stellen. Eine Person etwa, die einen Vortrag halten muss, macht sich vielleicht im Vorfeld ängstliche Gedanken: „Wenn ich gleich vor meinen KollegInnen spreche, fange ich wieder an zu stottern, alle schauen mich an und merken, wie nervös und unprofessionell ich bin und am Ende überkommt mich wieder eine Panikattacke.“ Vermeidet nun die Person die Situation, ergibt sich auch nicht die Möglichkeit zu überprüfen, ob das befürchtete Szenario tatsächlich eintritt. Nur wenn man sich der Situation stellt, können angstauslösende Gedankenmuster überprüft und widerlegt werden. 

Im Kontext der kognitiven Verhaltenstherapie spricht man von „Expositionstherapie mit Reaktionsmanagement“. Das bedeutet, sich mit seinen Ängsten zu konfrontieren, ohne Fluchtimpulsen oder sonstigen Vermeidungsstrategien nachzugehen. Es geht dabei nicht darum, sich direkt seinen größten Ängsten zu stellen, vielmehr kann dies auch graduiert, also Schritt für Schritt, geschehen. Ein solches graduiertes Vorgehen machen sich KlettertherapeutInnen zu nutze. Die Teilnehmenden können selbst entscheiden, wie stark sie in eine Angst gehen wollen und vor allem wie lange sie in der angstauslösenden Situation bleiben. So sollen die Teilnehmenden gefordert und nicht überfordert werden. Das hilft, regelmäßige Erfolgserlebnisse zu erzielen und damit das Selbstvertrauen zu stärken.

Weitere Themenfelder –  wie Kontrolle abgeben, Verantwortung übernehmen, Selbstwirksamkeit, Körpergefühl, Aufmerksamkeitsregulation, Emotionsmanagement – spielen im Rahmen der Angstbewältigung eine wichtige Rolle. Beim therapeutischen Klettern werden diese Themen erlebbar gemacht und können damit gut aufgegriffen und gefördert werden.

Auch an den benannten Vermeidungsstrategien und Fluchtimpulsen sowie an Gedanken- und Handlungsmustern wird im Rahmen der Klettertherapie gearbeitet. Häufig laufen diese Prozesse sehr schnell und unbewusst ab. Im Vergleich zu anderen Sportarten zeigen sich beim Klettern die im Alltag oft unbewusst und automatisch ablaufenden Gedanken- und Handlungsmuster sehr schnell und deutlich. KlettertherapeutInnen versuchen,  diese unbewussten Prozesse in das Bewusstsein zu holen. Gezielte Übungen setzten neue Impulse, und neue Handlungsoptionen werden erlernt, wodurch ein gesünderer Umgang mit Ängsten entsteht.

Foto: Rock & Soul

Das Ziel ist nicht, dass die Teilnehmer bis nach ganz oben klettern. Vielmehr sollen sie üben, besser auf ihre Grenzen zu achten und sich nicht zu überfordern. Die Angst soll zugelassen und bewusst wahrgenommen werden, ohne sofort dem Fluchtimpuls nachzugeben.

Ein typisches Praxisbeispiel

Ein Teilnehmer kommt zum ersten therapeutischen Klettertermin. Alle sicherheitsrelevanten Dinge wurden ihm von seiner Klettertherapeutin erklärt und er beginnt zu klettern. Für ihn ist schnell klar, er möchte nach ganz oben, alles andere zählt nicht. Es dauert nicht lange, da hat er es geschafft. Aufgrund der körperlichen Anstrengung ist sein Puls bereits deutlich erhöht, er atmet schnell und schwitzt. Um seiner Therapeutin das Kommando zu geben, dass sie ihn herunterlassen könne, schaut er kurz nach unten und bemerkt zum ersten Mal, wie hoch er eigentlich ist. Es schnürt ihm die Kehle zu, der Puls wird noch schneller als er es eh schon ist und sein ganzer Körper spannt sich an. Und als wäre das noch nicht genug, schießt ihm plötzlich ein Gedanke nach dem anderen durch den Kopf, was jetzt alles schief gehen könnte. All das erinnert ihn stark an seine letzte Panikattacke. Letztendlich schafft er es, die Hände von der Kletterwand zu lösen, sich ins Seil zu setzen und sich von seiner Therapeutin abseilen zu lassen. Unten angekommen lässt zwar die Angst langsam nach, aber er ist nass geschwitzt und sichtlich erschöpft.

Gemeinsam mit seiner Klettertherapeutin entscheiden sie sich, eine Pause einzulegen. Sie suchen sich einen ruhigen Ort und besprechen die Situation nach. Beim Gespräch wird ihm klar, dass er sich ein zu hohes Ziel gesetzt hat und beim Klettern in den „Augen-zu-und-durch-Modus“ gerutscht ist. Unbewusst hat er während dem Klettern kein einziges Mal nach unten geschaut. Nur so hat er es überhaupt bis nach oben geschafft, wo er dann aber kurz vor einer Panikattacke stand. Dieses Muster kenne er nur zu gut von sich. Häufig habe er im Alltag das Gefühl, er müsse einfach „funktionieren“ und dürfe keine Schwäche zeigen. Er ignoriere dann seine Gefühle, vor allem Angst, oder schaffe es mit der Hilfe von diversen Sicherheitsstrategien, die Angst in Schach zu halten.

Gemeinsam beschließen sie, dass er es nochmal probiert. Bevor er losklettert, soll er aber drei Griffe benennen, bei denen er eine Pause macht und nach unten schaut. Dabei soll er jedes Mal die Wand loslassen, sich in das Seil setzen und beobachten, wie groß seine Angst ist und vor allem wie sie sich äußert (z.B. schwitzige Hände, schnelle Atmung, Enge in der Brust usw.). Erst nachdem er das getan hat, soll er eine Entscheidung treffen, ob er weiter klettern will oder heruntergelassen werden möchte. Das Ziel ist nicht, dass der Teilnehmer bis nach ganz oben klettert, wobei er dies natürlich darf. Vielmehr soll er üben, besser auf seine Grenzen zu achten und sich nicht zu überfordern. Die Angst soll zugelassen und bewusst wahrgenommen werden, ohne sofort dem Fluchtimpuls nachzugeben. Langfristig kann es jedoch durchaus das Zeil sein, dass er es bis nach oben schafft, allerdings dann ohne Vermeidungsverhalten. Optimalerweise hat er dann schon in mehreren Einheiten geübt, auf seine Grenzen zu achten, rechtzeitig Pausen zu machen und die Angst zuzulassen, anstatt sie zu verdrängen.

Ein essentieller Schritt im Therapieprozess ist es dann, die neu erlernten Fertigkeiten auch im Alltag zu erproben. Wie er das genau durchführt und welche Situationen im Alltag sich gut eignen, bespricht er jedes Mal am Ende der Klettereinheit mit seiner Therapeutin.

Umgang mit der Angst erlernen

Dies ist eines von vielen möglichen Beispielen, wie im Rahmen der Klettertherapie das Selbstvertrauen im Umgang mit Ängsten gestärkt werden kann. Es geht nicht bloß um die Bewältigung von Höhenangst, sondern der generelle Umgang mit Ängsten, egal wovor, kann effektiv erprobt werden. Auch Freude und Genusserleben haben einen wichtigen Platz im therapeutischen Klettern. Klettern macht vor allem dann Spaß, wenn die Angst nicht mehr als Hindernis, sondern als wichtiger Begleiter auf dem Weg nach oben angesehen werden kann.

Auch der Extrembergsteiger Alexander Huber hat für sich erkannt, dass es wichtig ist, seine Ängste zuzulassen. Er selber litt zeitweise unter einer Angststörung und konnte diese mit Hilfe von Psychotherapie überwinden. In seinem Buch „Die Angst – dein bester Freund“ berichtet er über seine Erfahrungen.

„Angst schadet mir nicht, ganz im Gegenteil. Lasse ich Angst zu und beobachte, was sie mit mir macht, kann sie mir nützen. Nämlich dann, wenn sie mich warnt und ich mich wegen ihr besser konzentriere, meinen Fokus in einer brenzligen Situation auf das Wichtige richte.“

Abschließend ist es wichtig zu erwähnen, dass therapeutisches Klettern keinen Ersatz für eine Psychotherapie darstellen soll. Diese ist wichtig und essenziell für viele Betroffene. Durch eine Kombination von beiden Therapieformen können jedoch starke Synergien entstehen.

Falls Sie Interesse am therapeutischen Klettern entwickelt haben, aber noch zweifeln, ob es etwas für Sie ist, empfehle ich nach Angeboten in Ihrer Nähe zu suchen und eine Mail zu schreiben. In der Regel können Sie sich in einem unverbindlichen Erstgespräch mehr Informationen einholen und so besser abschätzen, ob Sie in naher Zukunft therapeutisches Klettern ausprobieren wollen.

Literatur:

Karg, N.; Dorscht, L.; Kornhuber, J.; Luttenberger, K. Bouldering psychotherapy is more effective in the treatment of depression than physical exercise alone: Results of a multicentre randomised controlled intervention study. BMC Psychiatry 2020, 20, 116.

Luttenberger, K.; Karg-Hefner, N.; Berking, M.; Kind, L.; Weiss, M.; Kornhuber, J.; Dorscht, L. Bouldering psychotherapy is not
inferior to cognitive behavioural therapy in the group treatment of depression: A randomized controlled trial. Br. J. Clin. Psychol. 2022, 61, 465–493.

Huber, A. (2013). Die Angst – dein bester Freund, Deutschland: Ecowin Verlag.

Zajetz, A. K. (2014). Therapeutisches Klettern: Anwendungsfelder in Psychotherapie und Pädagogik. Deutschland: Schattauer.