Ein typisches Praxisbeispiel
Ein Teilnehmer kommt zum ersten therapeutischen Klettertermin. Alle sicherheitsrelevanten Dinge wurden ihm von seiner Klettertherapeutin erklärt und er beginnt zu klettern. Für ihn ist schnell klar, er möchte nach ganz oben, alles andere zählt nicht. Es dauert nicht lange, da hat er es geschafft. Aufgrund der körperlichen Anstrengung ist sein Puls bereits deutlich erhöht, er atmet schnell und schwitzt. Um seiner Therapeutin das Kommando zu geben, dass sie ihn herunterlassen könne, schaut er kurz nach unten und bemerkt zum ersten Mal, wie hoch er eigentlich ist. Es schnürt ihm die Kehle zu, der Puls wird noch schneller als er es eh schon ist und sein ganzer Körper spannt sich an. Und als wäre das noch nicht genug, schießt ihm plötzlich ein Gedanke nach dem anderen durch den Kopf, was jetzt alles schief gehen könnte. All das erinnert ihn stark an seine letzte Panikattacke. Letztendlich schafft er es, die Hände von der Kletterwand zu lösen, sich ins Seil zu setzen und sich von seiner Therapeutin abseilen zu lassen. Unten angekommen lässt zwar die Angst langsam nach, aber er ist nass geschwitzt und sichtlich erschöpft.
Gemeinsam mit seiner Klettertherapeutin entscheiden sie sich, eine Pause einzulegen. Sie suchen sich einen ruhigen Ort und besprechen die Situation nach. Beim Gespräch wird ihm klar, dass er sich ein zu hohes Ziel gesetzt hat und beim Klettern in den „Augen-zu-und-durch-Modus“ gerutscht ist. Unbewusst hat er während dem Klettern kein einziges Mal nach unten geschaut. Nur so hat er es überhaupt bis nach oben geschafft, wo er dann aber kurz vor einer Panikattacke stand. Dieses Muster kenne er nur zu gut von sich. Häufig habe er im Alltag das Gefühl, er müsse einfach „funktionieren“ und dürfe keine Schwäche zeigen. Er ignoriere dann seine Gefühle, vor allem Angst, oder schaffe es mit der Hilfe von diversen Sicherheitsstrategien, die Angst in Schach zu halten.
Gemeinsam beschließen sie, dass er es nochmal probiert. Bevor er losklettert, soll er aber drei Griffe benennen, bei denen er eine Pause macht und nach unten schaut. Dabei soll er jedes Mal die Wand loslassen, sich in das Seil setzen und beobachten, wie groß seine Angst ist und vor allem wie sie sich äußert (z.B. schwitzige Hände, schnelle Atmung, Enge in der Brust usw.). Erst nachdem er das getan hat, soll er eine Entscheidung treffen, ob er weiter klettern will oder heruntergelassen werden möchte. Das Ziel ist nicht, dass der Teilnehmer bis nach ganz oben klettert, wobei er dies natürlich darf. Vielmehr soll er üben, besser auf seine Grenzen zu achten und sich nicht zu überfordern. Die Angst soll zugelassen und bewusst wahrgenommen werden, ohne sofort dem Fluchtimpuls nachzugeben. Langfristig kann es jedoch durchaus das Zeil sein, dass er es bis nach oben schafft, allerdings dann ohne Vermeidungsverhalten. Optimalerweise hat er dann schon in mehreren Einheiten geübt, auf seine Grenzen zu achten, rechtzeitig Pausen zu machen und die Angst zuzulassen, anstatt sie zu verdrängen.
Ein essentieller Schritt im Therapieprozess ist es dann, die neu erlernten Fertigkeiten auch im Alltag zu erproben. Wie er das genau durchführt und welche Situationen im Alltag sich gut eignen, bespricht er jedes Mal am Ende der Klettereinheit mit seiner Therapeutin.