Die psychotische Gesellschaft
Heute morgen, seit dem Aufstehen um 6:00 Uhr bis jetzt, wo ich diesen Text schreibe, hat mein Handy bzw. die App der Tagesschau mich zig mal darauf hingewiesen, dass es neuste Neuigkeiten gibt. Der Moderator im Deutschlandfunk entschuldigte sich dafür, dass dieses oder jenes Interview schon ein paar Stunden alt sei und sich die Sachlage inzwischen verändert habe. Hätte ich eine Smartwatch, dann würde diese mir sicherlich in zeitlichem Verhältnis zu Nachrichtenmeldungen Blutdruckspitzen attestieren: Zukunftsangst.
Was also tun? Die Nachrichten ausschalten, den Ticker stumm stellen? Gesund wäre es. Aber nur, weil ich diese Nachrichten nicht höre oder lese, finden die Dinge dennoch statt. Wenn ich also bewusst wegschaue, bewusst nicht wahrnehme, oder auch unbewusst verdränge (manchmal geht auch das Bewusste ins Unbewusste über), ist das dann Symptombehandlung? Oder ist es schlicht naiv? Wie ein kleines Kind, das sich unterm Küchentisch versteckt? Sich laut singend die Augen zuhält? Was ich nicht sehe und höre, das ist auch nicht da?
Fangen wir anders an. Woher kommt diese Zukunftsangst. Puh, wo soll ich da anfangen, dieses Buch hat viele Seiten. Da gibt es das Kapitel der monetären Sorgen einer alleinerziehenden Mutter, da gibt es das soziale Miteinander im Alltag und in den Sozialen Medien, da gibt es immer mehr wohnungslose Menschen, denen ich tagtäglich in einer Großstadt wie Köln begegne, da gibt es den Krieg in der Ukraine, die damit verbundene Energiekrise. Da gibt es einen zunehmenden Rechtsruck in Europa, siehe die Wahlen in Schweden und in Italien. Da gibt es den Pflegenotstand. Wobei, wenn ich alt und pflegebedürftig bin, dann könnte ich es mir sowieso nicht leisten, pflegebedürftig zu sein. Das führt zur nächsten Sorge: meinen Kindern. Der Gedanke oder der Wunsch, dass die künftige Generation es besser haben soll als die jetzige, die Kinder es besser haben sollen als die Eltern, dieser Wunsch zeichnet sich als unerfüllbar ab, zumindest unter den Vorstellungen unserer ökonomisierten Gesellschaft.
Der größte Zukunftsängste auslösende Faktor ist jedoch die Klimakrise. Die Klimakrise mit ihrer ganzen Unberechenbarkeit und ihren unvorstellbaren Folgen. Wir hätten etwas tun können und wir können, nein müssen immer etwas tun. Warum haben wir nicht längst wirksam gehandelt? Weil diese Krise so groß und so unvorstellbar ist in all ihren Auswirkungen, die wir teils schon zu spüren bekommen, dass wir uns lieber singend unter den Küchentisch versteckt haben und dort immer noch hocken.
Fazit: Verdrängung hilft nicht. Verdrängung hilft, wenn überhaupt nur kurzfristig. Die Krisen holen uns ein und zuvor die Ängste. Verdrängen hilft nicht, weil wir uns erst der Krise bewusst sein müssen, um ihr adäquat begegnen zu können. Aber wir sind der Realität entrückt. Wir, die Gesellschaft. Ariadne von Schirach nennt es die “psychotische Gesellschaft” und diese Bezeichnung scheint mir treffend, denn so fühlt es sich für mich an. Wir sind so mit dem unter dem Küchentisch hocken beschäftigt, dass wir völlig unbeweglich werden. Wir erstarren und sind handlungsunfähig, wo handeln dringend notwendig ist. Und auch dieses Bild des kollektiven Augenverschließens, auch vor einander, ist ein weiterer Faktor meiner Zukunftsangst.