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Mehr Utopie wagen!

Was hilft gegen Zukunftsangst? Was sollen wir tun, um nicht in lähmende Starre zu verfallen angesichts der riesenhaften Herausforderungen, die auf uns zukommen? Die Palette der Reaktionen reicht von Wegschauen bis hin zu verbissenem Aktivismus. Anne möchte das nicht. Ihr Vorschlag: Der Angst eine Utopie entgegenstellen, ein positives Zukunftsbild, das mehr motiviert als ein ängstliches Festkrallen am Bestehenden.

01.10.2022 – Autorin: Anne Reifferscheid

Die psychotische Gesellschaft

Heute morgen, seit dem Aufstehen um 6:00 Uhr bis jetzt, wo ich diesen Text schreibe, hat mein Handy bzw. die App der Tagesschau mich zig mal darauf hingewiesen, dass es neuste Neuigkeiten gibt. Der Moderator im Deutschlandfunk entschuldigte sich dafür, dass dieses oder jenes Interview schon ein paar Stunden alt sei und sich die Sachlage inzwischen verändert habe. Hätte ich eine Smartwatch, dann würde diese mir sicherlich in zeitlichem Verhältnis zu Nachrichtenmeldungen Blutdruckspitzen attestieren: Zukunftsangst.

Was also tun? Die Nachrichten ausschalten, den Ticker stumm stellen? Gesund wäre es. Aber nur, weil ich diese Nachrichten nicht höre oder lese, finden die Dinge dennoch statt. Wenn ich also bewusst wegschaue, bewusst nicht wahrnehme, oder auch unbewusst verdränge (manchmal geht auch das Bewusste ins Unbewusste über), ist das dann Symptombehandlung? Oder ist es schlicht naiv? Wie ein kleines Kind, das sich unterm Küchentisch versteckt? Sich laut singend die Augen zuhält? Was ich nicht sehe und höre, das ist auch nicht da?

Fangen wir anders an. Woher kommt diese Zukunftsangst. Puh, wo soll ich da anfangen, dieses Buch hat viele Seiten. Da gibt es das Kapitel der monetären Sorgen einer alleinerziehenden Mutter, da gibt es das soziale Miteinander im Alltag und in den Sozialen Medien, da gibt es immer mehr wohnungslose Menschen, denen ich tagtäglich in einer Großstadt wie Köln begegne, da gibt es den Krieg in der Ukraine, die damit verbundene Energiekrise. Da gibt es einen zunehmenden Rechtsruck in Europa, siehe die Wahlen in Schweden und in Italien. Da gibt es den Pflegenotstand. Wobei, wenn ich alt und pflegebedürftig bin, dann könnte ich es mir sowieso nicht leisten, pflegebedürftig zu sein. Das führt zur nächsten Sorge: meinen Kindern. Der Gedanke oder der Wunsch, dass die künftige Generation es besser haben soll als die jetzige, die Kinder es besser haben sollen als die Eltern, dieser Wunsch zeichnet sich als unerfüllbar ab, zumindest unter den Vorstellungen unserer ökonomisierten Gesellschaft.

Der größte Zukunftsängste auslösende Faktor ist jedoch die Klimakrise. Die Klimakrise mit ihrer ganzen Unberechenbarkeit und ihren unvorstellbaren Folgen. Wir hätten etwas tun können und wir können, nein müssen immer etwas tun. Warum haben wir nicht längst wirksam gehandelt? Weil diese Krise so groß und so unvorstellbar ist in all ihren Auswirkungen, die wir teils schon zu spüren bekommen, dass wir uns lieber singend unter den Küchentisch versteckt haben und dort immer noch hocken.

Fazit: Verdrängung hilft nicht. Verdrängung hilft, wenn überhaupt nur kurzfristig. Die Krisen holen uns ein und zuvor die Ängste. Verdrängen hilft nicht, weil wir uns erst der Krise bewusst sein müssen, um ihr adäquat begegnen zu können. Aber wir sind der Realität entrückt. Wir, die Gesellschaft. Ariadne von Schirach nennt es die “psychotische Gesellschaft” und diese Bezeichnung scheint mir treffend, denn so fühlt es sich für mich an. Wir sind so mit dem unter dem Küchentisch hocken beschäftigt, dass wir völlig unbeweglich werden. Wir erstarren und sind handlungsunfähig, wo handeln dringend notwendig ist. Und auch dieses Bild des kollektiven Augenverschließens, auch vor einander, ist ein weiterer Faktor meiner Zukunftsangst.

Artem Malushenko/pexels.de

Ich bin davon überzeugt, dass wir vieles ändern können, wenn wir das Narrativ ändern. Wieso sollten meine Kinder es nicht besser haben, wenn wir als Gesellschaft den gegenwärtigen psychotischen Zustand überwunden haben und uns als Menschen wieder näher sind?

Der Zukunftsangst mit Utopien drohen

Wer sich nicht bewegt, der kann nichts verändern. Dabei haben wir uns doch bewegt, damals vor Corona, da waren wir viele. Da waren wir 1,4 Millionen Menschen in Deutschland, beim dritten globalen Klimastreik. Und wir hatten das Gefühl, etwas verändern zu können. Wir waren ein Kollektiv voller Individuen, das gemeinsam wegen seiner*ihrer Ängste friedlich auf die Straße gegangen ist und gemeinsam eines der umwerfendsten Gefühle erlebt hat, die es gibt: Selbstwirksamkeit. Wo ist sie hin? Die Klimabewegung? Die Selbstwirksamkeit? Was passiert, wenn Ängste nicht ernst genommen werden? In Bezug auf die Klimabewegung macht sich Frust breit, weil das Handeln scheinbar nichts bewirkt. Müssen wir noch mehr sein? Müssen wir noch lauter sein? Müssen wir zu anderen Mitteln greifen, um Aufmerksamkeit zu generieren? Diese Fragen stellte sich unsere Gruppe. Um diese Frage kreisten die Gedanken, diese Frage wurde zum Gedankenkreisel. Braucht es zivilen Ungehorsam? Braucht es mehr Menschen, die sich aufgrund von dystopischen Zukunftsszenarien an die Straße kleben? Ich will das nicht. Ich will mich weder an den Asphalt kleben, noch will ich, dass meine Mitmenschen so wenig Hoffnung haben, dass sie dies als eines der letzten Mittel einer letzten Generation sehen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir vieles ändern können, indem wir das Narrativ ändern. Und indem wir anerkennen, dass jede:r einzelne niemals alles richtig machen kann. Wir sind Menschen, wir sind fehlerhafte Wesen. Aber wir können jede:r für sich und als Gesellschaft aus unserer Starre erwachen und in kleinen Schritten vorangehen. In kleinen Schritten, um uns nicht von der Größe der Krise aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Der Mensch ist „Im Grunde gut“ wie Rutger Bregman sagt, was mich hoffen lässt. Außerdem habe ich den Wunsch, dieser Klimakrise und somit auch meinen Zukunftsängsten mit Utopien zu drohen, statt mich mit Dystopien noch weiter zu lähmen. Denn mit dieser Utopie lösen sich auch manche der weiteren, oben genannten Zukunftsängste auf. Wieso sollten meine Kinder es nicht besser haben, wenn wir als Gesellschaft diesen psychotischen Zustand überwunden haben und uns als Menschen wieder näher sind? Uns als Menschen verbundener sind, in der Gegenwart, in der Realität, in uns selbst.

Häufig wird mir gesagt, dass man mit philosophischen Überlegungen die Klimakrise nicht stoppen kann. Das stimmt und stimmt doch nicht. Und mit meinem Wunsch nach mehr Utopien wäre das Glas zwar halb voll, aber immer noch genauso leer. Dabei kommt es darauf gar nicht an, ob es halb voll oder halb leer ist. Viel entscheidender ist doch, ob ich den verbleibenden Getränkerest ängstlich oder frustriert in einem herunterstürze oder ob ich gemeinsam mit guten Menschen, in guter Stimmung darüber nachdenke, wie dieses Glas wieder aufgefüllt werden kann – und bis dahin konsumieren wir möglichst zurückhaltend.