Gibt es eine Marina vor und eine nach dem Jakobsweg?
Marina Bauer: Unbedingt! Das Bemerkenswerte ist: Ich merke, dass der Jakobsweg noch ganz andere, größere Dinge mit sich bringt. Und das trotz einer Angststörung, die mich begleitet, seit ich 18 bin. In den Akutphasen hatte ich mich nicht mal vor die Tür getraut, geschweige denn in einen Supermarkt oder eine Straßenbahn. Dann kommt dieser Weg um die Ecke und sorgt dafür, dass ich allein in einen Flieger nach Portugal steige und jeden Tag rund zwei Dutzend Kilometer zu Fuß zurücklege. Und obwohl die Reise nicht ohne Herausforderungen verlaufen ist: Ein paar Wochen später hatte ich Flugtickets nach Mittelamerika in der Hand, wo ich im Frühjahr 2022 zwei Monate in Costa Rica und Panama verbracht habe. Ohne den Jakobsweg hätte ich das niemals gemacht!
Das heißt, der Jakobsweg hat einen Knoten zum Platzen gebracht?
Ich würde sagen, die Idee des Wegs hat dafür gesorgt, mir selbst das Versprechen zu geben, mich von Angst nicht mehr länger begrenzen zu lassen. Ich lebe seit knapp 20 Jahren mit einer Angststörung und habe mir so viele Lebensbereiche dadurch nehmen lassen und gleichzeitig wieder und wieder beobachtet, was andere Tolles erleben. Das brachte mich irgendwann an den Punkt, an dem ich sagte, es gibt jetzt zwei Optionen: sich weiter einsperren oder etwas tun, womit sich das Leben zurückgewinnen lässt. Und weil ich wusste, dass mich ein Leben wie vorher auf Dauer nicht glücklich machen würde, war mir klar: Ich muss einen ersten Schritt wagen.
Wie viel Vorlaufzeit hast du gebraucht, vom ersten Plan bis zur Reise?
Tatsächlich relativ viel, was aber damit zu tun hatte, dass der Beginn der Corona-Pandemie dazwischen lag. Auf den Gedanken Jakobsweg hatte mich eine Freundin gebracht, bevor Corona überhaupt Thema war. Damals hatte ich mir vorgenommen, den Camino Francés zu laufen, also den langen Jakobsweg, der über knapp 800 Kilometer von der französischen Grenze zur Westküste Spaniens führt. Bücher und Rucksack waren bereits gekauft, dann kam Corona dazwischen und wegen eines Jobwechsels war für die lange Route dann nicht so ohne Weiteres Zeit. Dann habe ich umgeplant und mich für den nur knapp 260 Kilometer langen Caminho Português entschieden, was womöglich nicht das Schlechteste war.
Wieso das?
Tatsächlich war eine meiner größten Ängste im Vorfeld, irgendwann unterwegs diese gelben Wegemarkierungen aus den Augen zu verlieren und mich an einem ohnehin schon fremden Ort komplett zu verlaufen. Beim Caminho Português ist die Sache einfach. Das Meer liegt auf der linken Seite, das steht in jedem Reiseführer. Solang das Meer links liegt, bist du richtig. Und da ich das Meer ohnehin liebe, hat mir die Route gleich richtig gut gefallen. Im Juni 2021 war es dann so weit.
Welche Rolle spielte das Reisen für dich, bevor du nach Portugal geflogen bist?
Ich war, das ist das Absurde, eigentlich immer gern unterwegs. Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust: Das eine ist die Angst, die mich blockiert, mit der ich mich eingesperrt habe und die mich an vielen Dingen gehindert hat. Das andere ist die abenteuerlustige Marina, die die Welt sehen will. Die offen ist, die andere Kulturen mag, die das Meer liebt und die wahnsinnig gern andere Dinge sieht. Aber ich bin vorher nie allein gereist, immer nur mit Partnern. Das ging irgendwie. Allein war für mich immer die große Hürde. In meinen 20ern konnte ich kaum vor die Haustür gehen. Ich bin zur nächsten Straßenecke gelaufen und meine Knie wurden weich, ich stand mit Panikattacke in der Schlange im Supermarkt, ich hatte mich über Jahre hinweg isoliert und eingesperrt und auch Medikamente genommen. Dann einfach so allein in ein Flugzeug zu steigen und diesen Weg zu gehen hat jede Menge Mut gekostet – viele Tränen, viele Zweifel…