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Reisen lernen

Trotz Angststörung die Welt erobern

Sommerzeit ist Reisezeit – zumindest für alle, für die sich der Traum von der Ferne nicht nach der größten Herausforderung des Jahres anfühlt. Nicht nur die Angst vorm Fliegen kann einem die Reiselaune verderben, auch die Befürchtung einer drohenden Reisekrankheit oder sonstige Angststörungen aller Art können Faktoren sein, die die Freude am Unterwegssein trüben. Mit einigen Tricks kann das Reisen dennoch gelingen, auch wenn man es womöglich erst (wieder) lernen muss.

11.08.2022 – Autorin: Sandra Kathe

Am Anfang steht das Losfahren

Der Koffer ist gepackt, die Urlaubskasse prall gefüllt, die Tickets gebucht – nur zur Vorfreude, die die Mitreisenden seit Wochen in schier unerträglicher Glückseligkeit verbreiten, muss man sich irgendwie zwingen… Wer schonmal mit Angststörung gereist ist, kennt das Gefühl. Im besten Fall verschwindet es unterwegs irgendwann unter einem Berg von Ablenkungen und die Angst weicht der Freude am Unterwegssein, am Entdecken von allerlei Unbekanntem und der Dankbarkeit, endlich mal wieder Zeit mit seinen Liebsten zu verbringen.

Denn das schwierigste am Reisen mit Angst ist in den allermeisten Fällen das Losfahren. Dabei ist es egal, ob es sich um diffuse Ängste wie Agoraphobie, Generalisierte Angststörung (GAS) oder eine echte Reiseangst (Hodophobie) handelt, definiert als die Angst, das vertraute Zuhause zu verlassen, oder ob vielmehr spezifische Ängste mit im Spiel sind wie die Angst vorm Fliegen (Aviophobie), die Angst sich unterwegs aufgrund von womöglich auftretender Reisekrankheit übergeben zu müssen (Emetophobie) oder eine soziale Phobie, also die Angst, sich wegen der Unkenntnis der herrschenden Gebräuche vor Ort dramatisch zu blamieren. Wie sehr man sich zum Losfahren überwinden muss, das hängt häufig weniger von der Art der Angst ab als vielmehr von ihrer Schwere, beziehungsweise davon, wie aktiv die Betroffenen im Vorfeld der Reise an ihren Problemen gearbeitet haben, etwa im Rahmen einer Therapie.

Was Fachleute in solchen Fällen als häufigste Tipps empfehlen, sind eine besonders gute Vorbereitung auf die Reise, eine Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten bei der Planung sowie ein bewusster Umgang mit den Ängsten bei der Wahl von Reiseziel und Art der Reise. Wer noch am Anfang ist auf seiner Entwicklung zum Vollblutreisenden mit Angststörung im Gepäck, muss ja nicht gleich ans andere Ende der Welt fliegen. 

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Das schwierigste am Reisen mit Angst ist in den allermeisten Fällen das Losfahren.

REISEN MIT ANGST IM GEPÄCK: NÜTZLICHE HELFER IM REISEALLTAG

Dabei kann man die Angststörung im Gepäck durchaus wörtlich nehmen, denn egal wie weit Angstpatient:innen bei der Überwindung ihrer Ängste bereits gekommen sind, ein klein wenig Angst wird immer mitreisen. Dafür lohnt es sich, ganz bewusst etwas Platz im Rucksack oder Koffer zu lassen. Auch bei der Reiseplanung kann es sich lohnen, die Angst zu konsultieren, ob sie sicher nach Portugal zum Surfen will oder doch lieber erstmal mit Stand-Up-Paddeln im Schwarzwald anfangen mag? Wichtig beim Plan einer jeden Reise ist es, der Angst auf Augenhöhe zu begegnen, um ihr vom ersten Moment an klarzumachen: „Wir sitzen im selben Boot – und ob wir kentern oder nicht, das entscheiden wir beide!“

Füllen lässt sich der freigehaltene Platz im Gepäck mit allerlei Nützlichem, was unterwegs als Erste Hilfe dienen kann: ein paar Beutel des Lieblingstees, der immer die Nerven beruhigt, Medikamente, Noise-Cancelling-Kopfhörer, ein Laptop mit einer heruntergeladenen Staffel der Lieblingsserie oder ein Reisetagebuch, das beim Abschalten hilft. Kleine Helfer, die – ob man allein, mit der Familie oder mit Freunden reist – einem dabei unterstützen, sich unterwegs niemals allein und völlig hilflos zu fühlen. Erfahrungsgemäß benötigt man sie von Mal zu Mal weniger. Sie nach wie vor als ständige Reisebegleitung dabei zu haben, gibt dennoch ein Gefühl der Sicherheit.

Von Fall zu Fall mal Fluch, mal Segen sind dagegen menschliche Reisebegleiter:innen, weswegen sich der Start ins Leben als Reisende:r auch im Alleingang lohnen kann. Sorgen Partner:innen, Freund:innen oder Familie bei manchen dafür, sich beim Reisen sicherer zu fühlen, geben andere Mitreisende ihren Liebsten – oft unabsichtlich – ein Gefühl von Druck, Stress und Mitverantwortung für einen gelungenen Urlaub. Ein oft nicht böse gemeintes „Stell dich nicht so an, das schaffst du schon“ wirkt nicht nur im Alltag häufig in die falsche Richtung. Und auch Menschen, die ihre Liebsten unterwegs in Watte packen, können dafür sorgen, dass man sich als Paar oder Teil einer Gruppe weniger zutraut als beim Urlaub allein.

Alex Azabache/pexels.de

 

Wer mit einer Angststörung reist, wird die Herausforderung, die das Reisen darstellt, mit der Zeit einzuschätzen lernen und der Angst dabei zusehen, wie sie sich von Mal zu Mal mehr zurückzieht.

ALLEIN REISEN ALS ANGST-SELBSTHILFE

Mit einem Solo-Urlaub ins Leben als Reisende:r mit Angststörung zu starten, hat vor allem den entscheidenden Vorteil, ganz allein für das Gelingen oder Scheitern von Plänen verantwortlich zu sein und niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Heute doch wieder in der Ferienwohnung Convenience-Food gekocht statt beim bestens bewerteten Fischladen um die Ecke zu essen? Dann startet eben morgen der nächste Versuch. Das Wichtigste beim Beginn eines Reiselebens trotz Angst ist Geduld und Verständnis für alles, was nicht klappt – sowie die Erinnerung an jeden kleinen umgesetzten Plan, der dafür sorgt, einem früheren Ich, könnte es einen heute beobachten, alle Gesichtszüge entgleisen zu lassen.

Wer allein reist, entscheidet sich auch allein für eine Form des Reisens. Mit Auto, Bahn, Schiff oder Flugzeug stehen einem die verschiedensten Möglichkeiten offen, um gerade bei den ersten Reisen für Sicherheit zu sorgen. Bekommt der eine Panik beim Autofahren, fürchtet sich die andere vor Reisekrankheit auf der Autofähre, ein dritter kämpft mit Atemnot, sobald sich die Türen von Zug oder Flugzeug schließen. Auch hier hilft, sich bewusst zu machen: Mit dem kaum vermeidbaren “Rien-ne-va-plus-Moment” beginnt einer der wichtigsten Therapielernziele, die man sich gegen die Angst vorstellen kann: Die Erinnerung, dass einen Situationen zwar in Angst versetzen, aber am Ende doch nichts anhaben können. Auch wenn das Abenteuer, das mit dem Betreten der Gangway beginnt, eben wirklich erst anfängt.

REISEN MIT ANGSTSTÖRUNG: TROTZ ÄNGSTEN JEDEN MOMENT AUSKOSTEN

Wer mit einer Angststörung reist, wird die Herausforderung, die das Reisen darstellt, mit der Zeit einzuschätzen lernen und der Angst dabei zusehen, wie sie sich von Mal zu Mal mehr zurückzieht – vielleicht sogar, um den Urlaub selbst ein bisschen zu genießen. Wer trotz Angst reist, wird Wege finden, sich auch an Orten, die weit weg von zu Hause sind, Sicherheitsnetze zu schaffen und sie immer wieder ignorieren, wenn die Lage es erlaubt. Der erste Schritt, die große Hürde des Losfahrens, fühlt sich von unterwegs aus immer kleiner an als zu Hause und auch wenn Rückschläge, Enttäuschungen und Angstmomente unterwegs wohl nie ganz zu vermeiden sind, wird es selten eine Reise geben, für die sich der Schritt nicht gelohnt hat.

Das Wichtigste, was es dann zu lernen gibt, ist das Genießen: die Momente unterwegs mit allen Sinnen auszukosten und negative Erfahrungen so aktiv es geht mit positiven zu überschreiben. Das flaue Gefühl im Magen vorm Abflug mit dem Kribbeln auf der Zunge beim ersten Löffel Curry, die Angst die Kontrolle zu verlieren mit dem Ausblick vom Ziel der Wanderung an der irischen Küste, wo Dutzende Meter unterhalb das Meer an schroffe Felsen donnert.

Fest steht: Wen das Reisefieber einmal gepackt hat, der hat gute Chancen, endlich eine “Krankheit” gefunden zu haben, die stärker ist als jede Angst. Eine, die immer wieder daran erinnert, warum es sich lohnt, Grenzen zu verschieben, und wenn man noch so klein anfangen muss. Wer das erste Mal reist mit Angst im Gepäck, für den kann sich die Ostsee anfühlen wie das Ende der Welt, der Schwarzwald wie der Kilimandscharo – das Wichtigste ist, dass der Anfang gemacht ist. Egal ob mit Tricks, Hilfe von Anderen, oder ganz aus eigener Kraft.