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Sport als Superpower gegen die Angst?

Empfehlungen aus Wissenschaft und Praxis

In einer Welt, die von Unsicherheit und Stress geprägt ist, in der viele Menschen mit Ängsten zu kämpfen haben, stellt sich die Frage, ob Sport als niedrigschwelliges, aber wirksames Mittel dagegen wirklich funktionieren kann. Die Erkenntnisse der Wissenschaft sprechen eindeutig dafür. Doch welcher Sport ist für welche Situation am besten geeignet und wie finde ich die für mich passende Sportart heraus?

13.10.2023 – Autor: Matthias Rißmayer

Vielversprechnde Wissenschaftliche Ergebnisse

Die Wissenschaft hat sich in den letzten Jahren immer mehr mit dem Thema Sport und Bewegung als Mittel gegen Angsterkrankungen auseinandergesetzt. Lassen Sie mich zunächst von einigen recht vielversprechenden Ergebnissen berichten:

  • Erstens gibt es eine umgekehrte Korrelation zwischen körperlicher Aktivität und der Häufigkeit von Angstsymptomen (1). Dies besagt, je mehr man sich bewegt, desto unwahrscheinlicher sind Ängste.
  • Zweitens ergab eine WHO-Studie, dass das Nichterreichen der empfohlenen 150 Minuten moderater bis intensiver körperlicher Aktivität pro Woche die Wahrscheinlichkeit einer Angststörung um 32% erhöht (2).
  • Drittens haben umgekehrt Menschen mit Angststörungen ein um bis zu 52% erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (3).

Diese Ergebnisse legen nahe, dass ganz generell ein hohes Level an körperlicher Aktivität einen schützenden Effekt gegenüber Angststörungen hat, während niedrige Aktivitätslevels einen Risikofaktor darstellen. Zudem wurde im Rahmen zahlreicher klinischer Studien festgestellt, dass bewegungsbasierte Interventionen Angstsymptome sowohl bei Menschen mit Angststörungen als auch bei Personen ohne diagnostizierte Angststörung verringern können (1). Dabei kann Bewegung im Gegensatz zu anderen Behandlungsformen wie Medikamenten oder Psychotherapie gleichzeitig die „körperlichen“ Gesundheitsrisiken reduzieren. Außerdem hat Bewegung sich auch bei anderen psychischen Gesundheitszuständen, die zusammen mit Angst auftreten können, wie Depressionen und Substanzstörungen, als wirkungsvoll erwiesen (4).

Körperliche Stressresistenz sorgt auch für psychische Stressresistenz

Aber gut. „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ – das wussten schon die Römer. Wir wollen einen genaueren Blick auf die Wirkungsweise von Bewegung werfen. Allerdings sind die Anpassungen, die durch körperliche Aktivität im Körper und im Gehirn ausgelöst werden, extrem vielfältig, sodass es eine Herausforderung darstellt, herauszufinden, welche Mechanismen tatsächlich die angstlösende Wirkung haben. Bei der Entstehung von Angst scheint ein physiologisches System eine besonders wichtige Rolle zu spielen: Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) oder, einfacher ausgedrückt, die Stressachse, ist die Bezeichnung für das System unserer Stressaktivierung. Es handelt sich dabei um ein komplexes Aktivierungs- und Hemmungsmuster, das die Basis unserer Anpassungsfähigkeit bei Stress legt.

Schon früh fand man heraus, dass gezielte Bewegungseinheiten eine physiologische Stressreaktion in der Stressachse auslösen, an die sich diese mit der Zeit anpasst. Neuere Ergebnisse zeigen zusätzlich, dass diese Reaktion der Stressachse mit steigender Übungsintensität größer ausfällt (5). Ist die Übungsintensität richtig gewählt, entsteht im Laufe der Zeit eine erhöhte Widerstandfähigkeit des Körpers. Die in diesem Zusammenhang entwickelte Hypothese der stressübergreifenden Anpassung besagt, dass die durch regelmäßige körperliche Aktivität erlangte Fitness (=körperliche Stressresistenz) auch auf die psychologische Stressresistenz übergreift (6). So kann ein widerstandsfähiger Körper einen breiten Schutz vor vielerlei Stressoren bieten, unter anderem auch vor psychosozialem Stress oder Stressoren im Zusammenhang mit Angststörungen. Studien, die daraufhin den direkten Zusammenhang zwischen Bewegung und psychischem Stress erforschten, konnten zeigen, dass zum Beispiel der Blutdruck und Angstsymptome während psychologischem Stress sinken, wenn man sich vorher bewegt hat (7,8). Diese Kurzzeiteffekte konnten auch in längeren Studien bestätigt werden. So verringerten über mehrere Monate angelegte Bewegungsprogramme zum Beispiel die Bildung von Stresshormonen und psychologischer Belastung (9) oder die Stressreaktion des Nervensystems bei Studenten in der Prüfungsphase (10).

Es ist möglich, dass regelmäßige Bewegungseinheiten die physiologische Wirkung von Angst in einem weniger angstbehafteten Zustand nachahmen und so im Laufe der Zeit die Angstempfindlichkeit reduzieren. Trotzdem ist und bleibt es eine Nachahmung der Angstwirkung und Betroffene sollte vor allem in Phasen häufiger oder akuter Angstzustände die Übungsintensität so gering wählen, dass es nicht zu Überforderung oder gar Panikreaktionen kommt. Es mag Ihnen seltsam erscheinen, dass ich Ihnen als Sportwissenschaftler davon abrate, sich zu sehr anzustrengen. Doch im Kontext von Angststörungen ist dies oft die richtige Herangehensweise.

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Die Ergebnisse von Studien legen nahe, dass ein hohes Level an körperlicher Aktivität einen schützenden Effekt gegenüber Angststörungen hat, während niedrige Aktivitätslevels einen Risikofaktor darstellen.

In akuten Phasen Bewegung mit Achtsamkeit kombinieren

In besonders akuten Phasen, in denen nicht der Aufbau von Widerstandsfähigkeit, sondern zunächst Beruhigung und Stressabbau im Vordergrund stehen sollten, ist es demnach ein vielversprechenderer Ansatz, den Körper langsam in Verbindung mit bewusster Atmung zu bewegen oder zu dehnen. Diese Kombination aus Bewegung und Achtsamkeitstechniken (Mindfulness) findet sich in vielen asiatischen Ansätzen wie Yoga oder Tai-Chi. Durch sanfte Bewegungen wird das Nervensystem zusätzlich beruhigt und es kommt zu einer unmittelbaren Verringerung von Angstsymptomen (11). Es gibt jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Yoga-Stilen. Viele davon werden hier im westlichen Raum sehr sportlich interpretiert und können in unpassenden Momenten überfordernd sein. Ein gewisses Maß an Achtsamkeit ist jedoch immer Teil der Übungseinheiten und wenn man sich dazu bereit fühlt, kann diese Kombination aus körperlicher Anstrengung und Entspannung sehr heilsam sein. Für besonders akute Phasen empfehle ich Yin-Yoga, das sich besonders auf Entspannung und achtsames Arbeiten mit dem Körper konzentriert.

Gerne würde ich Ihnen nun Empfehlungen dazu geben, wie Sie die zuvor genannten Bewegungsformen bezüglich des Timings und der Intensität perfekt aufeinander abstimmen, um sie als wirksames Mittel gegen Angst zu nutzen. Doch was die konkrete Anwendung angeht, ist man sich in der Wissenschaft wie immer uneinig. Ein Ansatz nach dem Motto “Das hilft garantiert allen” lässt sich in der Praxis nicht umsetzen, da individuelle Vorlieben und Lebensumstände entscheidend dafür sind, ob jemand von Bewegung profitieren kann. Hier ein Beispiel, das ich so oder so ähnlich schon häufiger im klinischen Alltag erlebt habe: Anna, eine Managerin, arbeitet 70 Stunden pro Woche, trainiert regelmäßig und läuft Marathons, erlebt jedoch starke Ängste und Schlafprobleme. Melanie hingegen, Mutter von drei Kindern, findet keine Zeit für Sport und leidet unter zunehmenden Ängsten, besonders seit ihr Mittlerer in der Schule Schwierigkeiten hat. Im therapeutischen Gespräch ergaben sich folgende Maßnahmen: Anna findet eine entspannende Yoga-Form, die sie ohne Leistungsdruck ausüben kann. Die langsamen Dehnübungen beruhigen ihr Nervensystem und reduzieren ihre Ängste. Melanie nimmt an einer Lauftherapie teil und macht rasch körperliche Fortschritte. Sie genießt es, sich mal nur für sich selbst auszupowern. Bezüglich ihrer Ängste profitiert sie auch von der Verbesserung ihrer Fitness.

Die Wahl der richtigen Sportart ist nicht einfach

Ich möchte damit verdeutlichen, dass es keinen universellen Sport gibt, der für alle wirkt. Die Wahl der richtigen Sportart kann genauso individuell sein wie der Musikgeschmack oder das Lieblingsessen. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist groß: von Sportspielen bis zu achtsamer Bewegung wie Tai-Chi oder Yoga, vom intensiven Intervalllaufen bis zu Kampfsport oder einfach regelmäßigem Spazierengehen. Bei der Suche nach der passenden Sportart, die bei der Bewältigung von Ängsten helfen kann, empfehle ich, sich folgende Fragen zu stellen:

  • Möchte ich meine Fitness steigern oder lieber sanfter trainieren?
  • Möchte ich mich bewusst mit meinem Körper auseinandersetzen oder suche ich Ablenkung?
  • Möchte ich durch Bewegung Gefühle ausdrücken (z.B. beim Tanzen)?
  • Wie wichtig ist mir der soziale Aspekt des Sports?

Wenn man diese Fragen für sich beantwortet, kann man eine Bewegungsform finden, von der man profitiert und die als wirksames Mittel gegen Ängste dienen kann. Richtig ist, was zu Ihnen passt, ein gutes Gefühl gibt und sie motiviert, sich regelmäßig zu bewegen. Da kann auch die gute Erreichbarkeit ein Argument sein. Scheuen Sie nicht davor, Dinge auszuprobieren oder sich mit Fragen an BewegungexpertInnen zu wenden. Die richtige Bewegungsroutine für sich gefunden zu haben ist in vielerlei Hinsicht Gold wert. Let’s Move!

Quellen:

(1) Kandola A, Stubbs B. Exercise and Anxiety. In: Xiao J, ed. Physical Exercise for Human Health. Advances in Experimental Medicine and Biology. Springer; 2020:345-352. doi:10.1007/978-981-15-1792-1_23
(2) Stubbs B, Koyanagi A, Hallgren M, et al. Physical activity and anxiety: A perspective from the World Health Survey. J Affect Disord. 2017;208:545-552. doi:10.1016/j.jad.2016.10.028
(3) Batelaan NM, Seldenrijk A, Bot M, Balkom AJLM van, Penninx BWJH. Anxiety and new onset of cardiovascular disease: critical review and meta-analysis. Br J Psychiatry. 2016;208(3):223-231. doi:10.1192/bjp.bp.114.156554
(4) Schuch FB, Vancampfort D, Firth J, et al. Physical Activity and Incident Depression: A Meta-Analysis of Prospective Cohort Studies. Am J Psychiatry. 2018;175(7):631-648. doi:10.1176/appi.ajp.2018.17111194
(5) Hill EE, Zack E, Battaglini C, Viru M, Viru A, Hackney AC. Exercise and circulating Cortisol levels: The intensity threshold effect. J Endocrinol Invest. 2008;31(7):587-591. doi:10.1007/BF03345606
(6) Sothmann MS, Buckworth J, Claytor RP, Cox RH, White-Welkley JE, Dishman RK. Exercise Training and the Cross-Stressor Adaptation Hypothesis. Exerc Sport Sci Rev. 1996;24(1):267.
(7) Hamer M, Taylor A, Steptoe A. The effect of acute aerobic exercise on stress related blood pressure responses: A systematic review and meta-analysis. Biol Psychol. 2006;71(2):183-190. doi:10.1016/j.biopsycho.2005.04.004
(8) Smith JC. Effects of emotional exposure on state anxiety after acute exercise. Med Sci Sports Exerc. 2013;45(2):372-378. doi:10.1249/MSS.0b013e31826d5ce5
(9) Klaperski S, von Dawans B, Heinrichs M, Fuchs R. Effects of a 12-week endurance training program on the physiological response to psychosocial stress in men: a randomized controlled trial. J Behav Med. 2014;37(6):1118-1133. doi:10.1007/s10865-014-9562-9
(10) von Haaren B, Ottenbacher J, Muenz J, Neumann R, Boes K, Ebner-Priemer U. Does a 20-week aerobic exercise training programme increase our capabilities to buffer real-life stressors? A randomized, controlled trial using ambulatory assessment. Eur J Appl Physiol. 2016;116(2):383-394. doi:10.1007/s00421-015-3284-8
(11) Winroth D, Hassmén P, Stevens C. Acute Effects of Yin Yoga and Aerobic Exercise on Anxiety. Altern Integr Med. 2021;8:278.