Mir war übel, um mich vor der Schule und anderen unangenehmen Situationen drücken zu können. Die Übelkeit war ein Ausweg, sich der Angst nicht stellen zu müssen.
Das Online-Magazin der Deutschen Angst-Hilfe e.V. für Betroffene von Angststörungen
Marx Ilagan/pexels.de
In unserer Rubrik “Erfahrungsberichte” erzählen Betroffene aus ihrem Leben mit Angst und Panik. Es sind persönliche Geschichten – von Menschen und ihrem Weg durch die Angst
04.11.2002 – Autorin: Elke
Lange Zeit war mir nicht klar, dass ich unter Ängsten leide. Zwar war ich schon als Kind unsicher, es war mir immer unangenehm, von anderen beobachtet zu werden, die vielleicht irgendetwas an mir komisch finden könnten. Und im Gymnasium hat sich diese Unsicherheit, das unangenehme Gefühl im Beisein anderer Menschen noch immens verstärkt. Aber mir war dies gar nicht als Angst bewusst. Vielmehr litt ich die ganze Zeit unter Übelkeit.
Im Gymnasium war ich in den ersten Jahren ständig krank, oft konnte ich gar nicht in die Schule gehen, weil mir so übel war. Ich empfand die Schule mit all den fremden Leuten als unglaublich schrecklich. Nicht dass ich gemobbt worden wäre, ich habe mich einfach völlig allein gefühlt. Immer dachte ich mir, ich bin nicht wie meine Mitschüler, ich bin zu schlecht für die anderen. Ich stand ständig unter Anspannung. Keinesfalls wollte ich bei Klassenausflügen mitmachen, wo ich mit anderen zusammen essen musste. Allein der Gedanke hat schon zu Übelkeit geführt.
Mit etwa 14 Jahren hat sich in mir der Gedanke gefestigt, dass ich nicht normal bin, nicht so wie die anderen. Ich bin damals auf Vorschlag meiner Mutter zu einer Beratungsstelle gegangen und war einige Male dort bei einer Therapeutin, konnte mich aber noch nicht wirklich öffnen. Außerdem herrschte zuhause eine Atmosphäre, in der alle Probleme weggeschoben wurden statt sie genauer anzuschauen. Auf Hilfe von zuhause konnte ich also nicht rechnen. Ich habe selbstständig im Internet recherchiert, was denn mit mir sein könnte, und bin damals auf den Begriff Soziale Phobie gestoßen. Aber diese Entdeckung hatte keine Konsequenzen. Nach wie vor sah ich die Übelkeit als das zentrale Problem an.
Wirklich extrem wurde diese nach dem Abitur, als ich vor der Frage stand, wie es in meinem Leben weitergehen soll. In dieser Zeit fühlte ich mich ständig krank. Ich war bei verschiedenen Ärzten, aber diese sagten, körperlich sei nichts zu finden. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass die Übelkeit psychischer Natur ist. Auf Anraten der Ärzte habe ich eine Therapie begonnen, doch auch diese mit der Absicht, primär die Übelkeit loszuwerden. Die Therapie führte daher zu nichts, im Gegenteil wurde die Übelkeit immer schlimmer und als letzter Ausweg blieb nur eine stationäre Behandlung. Erst in der Klinik kam in aller Deutlichkeit heraus, dass die Angst die wahre Ursache der Übelkeit war. Heute denke ich, ich war krank, mir war übel, um mich so vor der Schule oder anderen unangenehmen Situationen drücken zu können. Die Übelkeit hat die Angst überdeckt, hat sie „unsichtbar“ gemacht. Sie war so ein Ausweg, aus der angstvollen Situation herauszukommen, ohne sich der Angst stellen zu müssen.
Polina Zimmermann/pexels.de
Mir war übel, um mich vor der Schule und anderen unangenehmen Situationen drücken zu können. Die Übelkeit war ein Ausweg, sich der Angst nicht stellen zu müssen.
Bis heute sehe ich mein Hauptproblem darin, dass ich mich ständig frage, was die anderen von mir denken, wie ich beurteilt werde. Ich habe Angst, Leute könnten mich ablehnen, mich komisch finden. Ich bin immer in Sorge, ob ich den Erwartungen der anderen entspreche. Daher passiert es mir immer wieder, je näher ich jemanden kennenlerne, je persönlicher die Bekanntschaft wird, desto mehr verschließe ich mich. Denn die Gefahr wird größer, abgelehnt zu werden, wenn der andere mich besser kennt, wenn er etwas Komisches an mir bemerkt. Ich kann mich dann nicht mehr verstellen und befürchte, „entdeckt“ zu werden. Es fällt mir schwer, jemandem wirklich zu vertrauen. Wahrscheinlich, weil ich mir selber zu wenig vertraue, mich immer klein mache. Nur wer sich selbst mag, kann auch Liebe annehmen.
Noch ein zweiter Punkt wurde mir in der Klinik klar: Es war meine Familie, die die Angst verursacht hat. Da ist zum einen meine Mutter, die sehr überfürsorglich und ängstlich ist. Von ihr habe ich mitbekommen, dass man den anderen gefallen muss, damit sie einen mögen. Noch schlimmer war jedoch der Einfluss meines Vaters. Er war sehr dominant und ist immer leicht ausgerastet. Wenn meine Mutter in der Arbeit war und mein Vater zuhause, konnte ich nicht da bleiben, sondern bin zur Oma gegangen. Wegen seines unberechenbaren Verhaltens habe ich verinnerlicht, ständig aufzupassen, was man tut und sagt und ja alles richtig zu machen. Ich wollte es ihm immer recht machen und er hat das ausgenutzt. Es ging nie um mich, immer nur um ihn, nur das, was er wollte, nicht das, was ich wollte. Als Kind habe ich mich immer auf die anderen eingestellt, ich wollte so sein, wie man mich haben möchte. Das hat es mir schwer gemacht, mich auch mal auf mich zu konzentrieren, weil ich mich ständig auf andere konzentriert habe. Genau genommen hatte ich nie eine Jugend.
Nach der Klinik habe ich eine Verhaltenstherapie begonnen und bald darauf bei einer Selbsthilfegruppe angefangen. Beide sind sehr hilfreich. In der Therapie habe ich gelernt, besser mit den körperlichen Symptomen umzugehen und die Angst als Teil von mir zu akzeptieren. Was nicht heißt, dass mir das im alltäglichen Leben ständig gelingt. An manchen Tagen schaffe ich es nicht, in die Uni zu gehen mit den vielen fremden Leuten, es ist mir einfach zu viel, es überfordert mich. Oder die Angst überkommt mich, wie ausgerechnet ich nach dem Studium andere Leute managen soll. Wäre es nicht am besten, sich ein stilles Kämmerlein zu suchen, wo man mit anderen Menschen möglichst nichts zu tun hat? Doch dann sage ich mir: Ich will nicht die Angst bestimmen lassen, was ich beruflich mache. Die Angst wird immer Bestandteil von mir bleiben, aber sie darf keine so große Rolle in meinem Leben spielen.
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Angst zieht immer mehr Angst an, wenn man ihr nicht entgegen tritt.
In der Selbsthilfegruppe war ich anfangs ziemlich nervös und aufgewühlt, es fiel mir schwer zu reden, aber mit der Zeit habe ich mich richtig zugehörig gefühlt. Heute freue ich mich hierherzukommen, weil ich die anderen wirklich als Freunde sehe, wo ich so sein kann, wie ich bin, wo die Leute mich verstehen, mich nicht ablehnen, bei denen ich nichts vertuschen muss. Im sonstigen Leben muss man fast ständig auf der Hut sein. Auch wenn wahrscheinlich viel mehr Leute Probleme haben, als man eigentlich meint, ist es trotzdem schwierig, offen zu sein, weil nie klar ist, wie die anderen reagieren. Dabei ist Angst eine Krankheit wie andere auch.
Mein Ratschlag an die Leser: Man darf die Angst nicht als etwas Schlimmes sehen, sie gar verteufeln, vielmehr ist sie eine Charaktereigenschaft wie andere auch. Wichtig ist, sich klar zu machen, dass man sich der Angst stellen kann, an ihr arbeiten kann und dass es dann auch leichter wird. Der Angst aus dem Weg zu gehen, führt zu nichts. Durch Vermeiden wird die Angst nur größer, man sieht dann nicht mehr die reale Situation, sondern steigert sich selbst in übertriebene Befürchtungen und Phantasievorstellungen hinein und verstärkt so noch die Angst. Angst zieht immer mehr Angst an, wenn man ihr nicht entgegentritt. Ohne eigene Arbeit geht es nicht.