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Vor lauter Angst habe ich auf der Toilette zu Mittag gegessen

Martin erzählt aus seinem Leben mit Sozialer Phobie 

In unserer Rubrik “Erfahrungsberichte” erzählen Betroffene aus ihrem Leben mit Angst und Panik. Es sind persönliche Geschichten  – von Menschen und ihrem Weg durch die Angst. 

Autor: Martin, 36

Man sieht mir die Angst nicht an

Ich bin ein sportlicher und trainierter Typ, wofür ich auch etwas tue, eher überdurchschnittlich groß, und so sieht man es mir von außen gar nicht an. Doch es ist so: Ich habe Angst vor Menschen. Und zwar vor Menschen, mit denen ich immer wieder zu tun habe, z.B. in der Arbeit. Fremde in der U-Bahn machen mir weniger zu schaffen, damit kann ich umgehen. Aber Leute, die ich immer wieder sehe, Kollegen und Chefs, die machen mich nervös. Besonders wenn am Vortag schlechte Stimmung war oder jemand eine blöde Bemerkung zu mir machte. Dann möchte ich am liebsten gar nicht mehr hingehen. Ich muss mich dann echt zusammennehmen. Und dabei ist es heute schon viel besser als in früheren Zeiten.

Besonders schlimm war es während meiner Ausbildung als Einzelhandelskaufmann. Es gab dort  in der Firma eine Kantine, aber ich hatte solche Angst mit meinem Tablett an den anderen Menschen vorbeizugehen, mich alleine hinzusetzen und zu wissen, die anderen sehen mich, dass ich an manchen Tagen runter ins Lager gegangen bin oder in die Toilette und dort zu Mittag gegessen habe. Natürlich haben die Leute das nicht böse gemeint, man schaut einfach automatisch hin, wenn jemand vorbeigeht, aber obwohl mir das schon klar war, habe ich es einfach nicht ausgehalten.

Nach der Ausbildung war es mir nicht möglich, als Einzelhandelskaufmann zu arbeiten – zu viel Angst. Ich habe dann alle möglichen Jobs gemacht, mal dies, mal das. Manche Jobs habe ich aus Angst gekündigt. Nicht weil ich die Anforderungen nicht erfüllt hätte. Das war nie ein Problem für mich. Sondern wegen der sozialen Angst. Und mit der Zeit wurde es immer schlimmer statt besser und ich habe mich immer mehr zurückgezogen. Mit Anfang Dreißig war die Angst dann so massiv, dass ich mich nicht mehr aus dem Haus traute. Damals hatte ich keine Arbeit, kam nicht unter Leute. Ich hörte die Nachbarn auf dem Balkon reden oder im Hof herumgehen, aber ich habe mich nicht mal auf meinen eigenen Balkon getraut. Den Müll habe ich nur hinuntergetragen, wenn es dunkel war. Beim Einkaufen war ich schon nervös beim bloßen Gedanken, an die Kasse zu gehen und zu bezahlen, besonders wenn viele Leute anstanden, die mir dabei zuschauen konnten. 

Die Therapie hat mich stabilisiert

Nach jedem solchen Vorfall  habe ich mich maßlos über mich selbst geärgert, dass ich so ein Feigling bin. Mir war klar: So geht’s nicht weiter! Ich musste eine Therapie machen. In der ersten Stunde hat der Therapeut zu mir gesagt, jetzt sind Sie bei mir, da sind Sie erst mal sicher. Dieser Satz hat mir gleich große Erleichterung verschafft. Und er sagte auch, ein solches Problem mit anderen Menschen haben viele Leute, was mich total überrascht hat, denn ich dachte immer, so verrückt ist sonst niemand auf der Welt. Mein Therapeut hat mich langsam wieder aufgebaut. Wenn ich Probleme hatte im Job, hat er auf mich eingewirkt, trotzdem weiterzumachen, nicht aufzugeben, denn Vermeiden ist das schlechteste, was man tun könne, sagte er.

Alexander Cash/pexels.de

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Einmal jedoch war die Situation so schlimm, dass ich gekündigt habe, ohne ihm vorher etwas zu sagen, denn ich wusste ja, dass er das nicht gutheißen würde. Er meinte darauf, wenn ich das nochmal mache, müsse er mich in eine Tagesklinik schicken. Mir war schon klar, dass er das nicht so einfach machen kann, aber ich dachte mir, wenn es schon so schlimm um mich steht, dass mein Therapeut mich in die Klinik schicken will, dann muss ich mich jetzt zusammenreißen. Man kann ja nicht immer davon laufen, da hat er Recht, irgendwann steht man auf der Straße ohne Arbeit, ohne Wohnung. Vor der Angst davonzurennen, hat Konsequenzen, das ist mir da klar geworden. Seine zunächst überraschende Reaktion hat bei mir bewirkt, mich wirklich mit der Angst auseinanderzusetzen und sie in den Griff zu kriegen.

Schon als Kind ängstlich und nervös

Wo meine Angst eigentlich herkommt, kann ich selbst nicht sagen. In der Schule hatte ich schon immer diese Nervosität, z.B. wenn der Lehrer mich aufgerufen hat oder wenn ich etwas vortragen sollte. Aber ansonsten habe ich ohne Probleme mit den anderen Kindern gespielt und bin auch gut angekommen. Auch zuhause war ich ganz normal. Erst mit ca. 14 Jahren hat es angefangen, dass ich mich zurückgezogen habe. Ich bin wohl einfach ein eher zurückhaltender, introvertierter Typ. Ein wichtiger Punkt ist wohl auch, dass meine Mutter ziemlich überbehütend war, überfürsorglich. Das hat dem Aufbau von Selbstvertrauen eher geschadet. Und als ich ihr von meiner Angst erzählte, hat sie das nicht ernst genommen, hat nur gemeint, das wird schon.

Im Moment geht es mir ganz gut. Auch wenn ich meine Tage allein verbringe. Ich hätte schon gerne eine Beziehung, eine nette Frau, mit der es passt, mit der man sich versteht. Aber eine solche zu finden ist schwierig. Ich habe es im Internet versucht, aber ohne Erfolg. Andererseits bin ich jetzt schon so lange allein, dass es auch nicht unbedingt sein muss. Bei schönem Wetter gehe ich Rad fahren oder fahre mit dem Auto für einen Tag in eine andere Stadt, mache ein Video und stelle das dann in Facebook. Aber ein Tag genügt mir vollauf, länger wegfahren brauche ich nicht. Mein Leben ist zwar nicht so aufregend, aber zur Zeit habe ich meine Ängste im Griff. Wenn ich Hilfe brauche, gehe ich zu meinem Therapeuten, das gibt mir einen Schub, der für die nächsten Wochen reicht. Unterstützung gibt mir auch meine Selbsthilfegruppe, in der man über Probleme des Alltags sprechen kann. Ich beherrsche meine Ängste heute so weit, dass sie mein Leben nicht mehr bestimmen.