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Wann bin ich endlich genug?

Die To-Do-Listen immer voller, das Lächeln immer noch etwas breiter, immer wieder „Ja“ sagen – kommt dir das bekannt vor? Jeden Tag kämpfen Menschen mit psychischen Erkrankungen darum, sich normal und zugehörig zu fühlen. Ihre Leistung zu erbringen, nicht aufzufallen und in der Gesellschaft ihren Platz zu finden. Doch wie kann das gelingen? Ein Appell, dir selbst genug zu sein. 

01.06.2023 – Autorin: Sarah

Normal sein wollen

Meine Ängste haben mir in meiner Jugend und Kindheit viel genommen. Nicht nur Erfahrungen wie der erste Kuss, die erste Klassenfahrt oder das Übernachten bei Freundinnen wurden mir genommen, sondern auch mein Gefühl für mich selbst. Mein Selbstbewusstsein hat gelitten, wollte ich doch immer nur eins – dazugehören, nicht auffallen und mich normal fühlen.

Inzwischen bin ich 24 Jahre alt und habe es mit weit über 100 Therapiesitzungen geschafft, meinen Ängsten zu begegnen. Das hat mir ein großes Stück Freiheit gegeben, wofür ich unendlich dankbar bin. Gleichzeitig bin ich aber auch auf dem harten Boden der Realität aufgeschlagen und musste lernen, dass nicht automatisch Leichtigkeit in mein Leben kommt, wenn ich die Ängste in Angriff nehme.

Als ich im Juni 2022 die Diagnose einer mittelschweren depressiven Episode bekam, brach für mich eine Welt zusammen. Meine Ängste waren mir über viele Jahre so vertraut gewesen, dass ich nicht erschüttert war, als auf meiner Überweisung zur Psychotherapie die Worte „Angststörung“ und „Panikattacken“ auftauchten. Bei der Depression ist dies anders. Ich schäme mich vor mir selbst und drücke mir täglich die Stempel „Versager“ und „Schwächling“ auf. Auch wenn ich mich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen einsetze und mir sehr wohl bewusst darüber bin, dass ich mir meinen Zustand nicht ausgesucht habe und mich deshalb auch nicht schämen muss, fühle ich mich doch immer wieder so, als würde ich mich einfach nicht genug zusammenreißen. Und dabei vergesse ich oft, wie viel Kraft ich die letzten Jahre aufgewandt habe, um die Angsterkrankung nicht mehr mein ganzes Leben bestimmen zu lassen.

Vermutlich kommt das einigen Personen mit einer Angsterkrankung bekannt vor. Oft fallen Sätze wie „Das ist doch gar nicht so schlimm“ oder „Du musst da einfach durch“. Und ich habe mir dabei immer die eine Frage gestellt: Warum habe ich nicht genug Mut, um die Themen anzugehen?

Geringere Belastungsgrenzen als andere

Der Mut ist inzwischen gewachsen, aber was nicht genug ist, ist die Selbstliebe. Die Akzeptanz meiner Erkrankung. Im Alltag vergesse ich schnell, dass ich chronisch krank bin und eben nicht die Belastungsgrenzen habe, welche andere Menschen aufweisen. Denn in unserer Gesellschaft zählt heutzutage oft nur eins – weitermachen, Leistung erbringen, Lächeln ins Gesicht kleistern und sich nicht beschweren.

Also schluckte ich die letzten Tage die Sorge herunter, wieder arbeiten zu müssen. Durch mehrere Probleme sowohl auf der Arbeit als auch privat, fühle ich mich ab dem Moment gestresst, in dem der Wecker morgens klingelt und komme erst zur Ruhe, wenn ich abends erschöpft und ausgebrannt die Augen schließe. Ich spürte, wie sich mein Hals zuschnürte, sobald ich an die Arbeit dachte, ich verzweifelt ein Ventil für die innere Anspannung suchte. Dabei war ich doch schon zwei Tage krankgeschrieben. Das schlechte Gewissen, die Scham und auch die Angst vor Verurteilung, die Angst, meinen Job zu verlieren, brachen immer wieder über mich herein wie eine Flutwelle.

Aneta Lusina/pexels.de

 

Vielleicht ist es an der Zeit, mit mir selbst Frieden zu schließen. Zu mir zu stehen. Eben mir selbst endlich genug zu sein.

Aber ich spürte auch eins – nämlich, dass ich endlich genauer hinschauen muss. So, wie ich meine Ängste jahrelang versucht habe zu unterdrücken, nur damit sie im Anschluss mit noch mehr Wucht an die Oberfläche schossen, kann ich mit Problemen nicht mehr umgehen. So kann ich den Kampf um meine psychische Gesundheit nicht kämpfen, geschweige denn gewinnen.

Mit sich selbst Frieden schließen

Also bin ich heute Morgen aufgestanden und zum Arzt gefahren. Mal wieder. Das schlechte Gewissen nagt, aber auch die Müdigkeit, der Schmerz, die Erschöpfung. Und habe um eine Krankschreibung gebeten. Ich habe mich dabei nicht wohl gefühlt, doch gleichzeitig hatte ich eine wichtige Erkenntnis. In den vergangenen Jahren war ich tagtäglich darauf konzentriert, mit der Angst einen Umgang zu finden und mit ihr Frieden, vielleicht sogar Freundschaft zu schließen, damit ich sie besser verstehen kann. Und nun ist es vielleicht an der Zeit, mit mir selbst Frieden zu schließen. Zu mir zu stehen. Eben mir selbst endlich genug zu sein.

Natürlich löst dieser Schritt keines meiner Probleme. Aber ich war es mir endlich selbst genug wert, mir einzugestehen, dass ich mehr Hilfe benötige, als ich bisher dachte. Deshalb stehe ich nun auf einer Warteliste für eine teilstationäre Therapie.

Sicherlich trifft meine Situation nicht auf jeden von euch zu. Aber was sicher viele von euch kennen, ist dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, es nicht wert zu sein, Hilfe zu bekommen. Sich schwach zu fühlen und sich selbst nicht an die erste Stelle zu setzen. Immer für die anderen da zu sein, aber eben nicht für sich selbst.

Den eigenen Wert zu erkennen, das wünsche ich jedem von euch. Denn jeder ist großartig und wir sind so viel mehr als unsere Ängste und Erkrankungen.