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Wenn ich mein Leben selbst in die Hand nehmen wollte, bekam ich Panikzustände

Sabine erzählt von ihrer Angst vor dem Leben

In unserer Rubrik “Erfahrungsberichte” erzählen Betroffene aus ihrem Leben mit Angst und Panik. Es sind persönliche Geschichten – von Menschen und ihrem Weg durch die Angst

23.01.2023 – Autorin: Sabine

Nicht gewollt

Gefühle der Angst gehen bei mir sehr weit zurück. Zum ersten mal bewusst geworden sind sie mir, als ich aufs Gymnasium kam. Ich war dort der totale Außenseiter. Denn ich war auf einem Bauernhof aufgewachsen, ziemlich abgeschieden, als siebtes von neun Kindern, aber das erste, das aufs Gymnasium ging. Doch hier erlebte ich eine gänzlich andere Welt als was ich bisher kannte. Die anderen Mädchen kamen mit kurzen Röcken in die Schule und ich hatte noch Röcke bis übers Knie und Zöpfe den ganzen Rücken herunter und vor der Schule ging ich in den Stall und habe die Hasen gefüttert. „Du stinkst nach Stall!“, hat man mir hinterhergerufen. Ich hatte Alpträume, jeden Tag bin ich mit Panik in die Schule gegangen. Ich hatte solche Angst, mich zu blamieren, nicht anerkannt zu sein, ich hatte Angst, aufgerufen zu werden und etwas sagen zu müssen. Immer stärker wurde das Gefühl, das mit mir etwas nicht stimmte. 

Dabei war dieses Gefühl nichts ganz Neues, ich kannte es von zuhause und es hatte mit meiner Mutter zu tun. Sie wollte keine Kinder mehr und hat die ganze Schwangerschaft mit mir über nur geweint. Und bei der Geburt wäre sie fast gestorben. Das alles führte zu einer inneren Ablehnung, ich war ein ungewolltes Kind. Ich habe das zwar erst als Erwachsener erfahren, aber ich denke, als Kind spürt man, dass etwas nicht stimmt. Es gab immer eine Distanz zu meiner Mutter, ich hatte schon früh das Gefühl von Fremdheit. Und auf dem Gymnasium hat sich dieses Gefühl wiederholt: Weder gehörte ich zuhause in die Reihe meiner Geschwister hinein, noch gehörte ich zu den Mädels, die auf die höhere Töchterschule gingen. Ich fühlte mich entwurzelt, nirgends zugehörig. Als meine Mitschülerinnen Bravo lasen und für Schlagersänger schwärmten, habe ich mich in Kafka vertieft und fühlte mich wie Gregor Samsa in der „Verwandlung“.

Gefangen in der Beziehung

Im letzten Schuljahr habe ich dann meinen späteren Mann kennengelernt. Wir hatten eine unglaublich enge, fast schon symbiotische Beziehung und sind ziemlich schnell zusammengezogen. Heute denke ich, ich habe bei ihm etwas gesucht, was ich bei meiner Mutter nicht bekommen habe. Doch ging es ihm umgekehrt genauso. Wir waren wohl beide nicht richtig erwachsen und haben uns viel zu überhastet in eine Beziehung gestürzt, jeder hat Halt beim anderen gesucht, weil er allein nicht klar kam. So ist es kein Wunder, dass bald die ersten Beziehungsprobleme auftauchten. Ich hatte jemanden anderen kennengelernt und überlegte mir, mich von ihm zu trennen. Aber in dem Moment, als diese Idee konkrete Gestalt annahm, erlebte ich einen regelrechten Panikanfall: Mir wurde völlig klar, eine Trennung halte ich nicht aus, eine Trennung überlebe ich nicht. Der Gedanke allein zu sein, hat mir unglaublich Angst gemacht. Ich habe mich darum nicht aus der Beziehung heraus getraut, sie hat mir ja auch andererseits Sicherheit gegeben.

In den folgenden Jahren wiederholte sich dieses Muster immer wieder: Wenn ich unzufrieden war, wenn ich versuchte, mein Leben ein wenig selbst zu gestalten, z.B. eine Arbeit anzufangen – sofort hatte ich wieder Angstzustände: mal waren es soziale Ängste, mal Panikattacken. Als ich mit meinem Studium fertig war, habe ich mich zwar beworben, zugleich aber hatte ich gar nicht das Selbstvertrauen, eine Berufskarriere zu starten. Ich hatte Angst, zu versagen, Angst, überfordert zu sein. Und als Ausweg bin ich dann schwanger geworden. Es ist wirklich so: Ich habe mich mit der Schwangerschaft davor gedrückt, eine Stelle anzunehmen. Und ich war zunächst ziemlich glücklich mit dieser Entscheidung, die erste Zeit mit dem Kind ging es mir sehr gut. Wir haben geheiratet und ein Haus gebaut, es war eine schöne Zeit. Bis sich mit den Jahren der Gedanke an einen eigenen Beruf wieder einschlich. Und sogleich waren auch die Angstzustände wieder da, diesmal schlimmer als vorher: Ich hatte Panikattacken, ich habe gezittert, wusste nicht mehr, wie ich mich auf den Beinen halten sollte. Es war teilweise so schlimm, dass ich nicht mehr aus dem Haus gegangen bin vor lauter Angst. Mein Mann musste sich um alles kümmern, den Einkauf, den Haushalt. Ich denke, die Panikattacken, die Agoraphobie waren eine Reaktion meines Unbewussten. Sie haben mich handlungsunfähig gemacht, haben mich an meinen Mann gebunden, haben mich sozusagen davon abgehalten auszubrechen und selbstständig zu werden.

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Ich denke, die Panikattacken, die Agoraphobie waren eine Reaktion meines Unbewussten. Sie haben mich handlungsunfähig gemacht, haben mich an meinen Mann gebunden, haben mich sozusagen davon abgehalten auszubrechen und selbstständig zu werden.

Ich verbot mir, ich selbst zu sein

Einmal bin ich tatsächlich so weit gekommen, einen Teilzeitjob anzufangen. Es lief auch ganz gut, ich hatte eine richtige Aufbruchsstimmung. Aber dann hat mein Mann Depressionen bekommen. Immer wenn es mir gut ging, ging es ihm schlecht, er kam mit meinem Erfolg nicht zurecht. Er hat sich damals sogar krankschreiben lassen, woraufhin ich ein richtig schlechtes Gewissen bekam: Meinem Mann geht’s schlecht, weil ich arbeiten muss! Und so habe ich wieder gekündigt. Und bin ich in tiefes Loch gefallen, hatte Ängste und Depressionen. Ich war dann sechs Wochen in einer psychosomatischen Klinik, konnte aber die Hilfe überhaupt nicht annehmen. Statt dessen habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich nicht fähig bin, jemanden richtig zu lieben, dass ich kein Recht habe, egoistisch auf meinem eigenen Leben zu bestehen. Ich verbot mir, ich selbst zu sein.

Dieses „Verbot“ war mir damals noch keineswegs bewusst. Es verkleidete sich unter den Ängsten: den Panikattacken, der Agoraphobie, den sozialen Ängsten, dem Gefühl, ich bin lebensunfähig, psychisch krank, nicht normal. Ich dachte immer, bei meinem Mann läuft alles richtig, nur ich bin völlig neben der Spur. Das, von dem ich annahm, es fehlt mir, habe ich bei ihm gesehen. Ich habe mir eingeredet, ich bin lebensuntauglich mit allen meinen Ängsten. Heute ist mir klar, am Grunde aller dieser verschiedenen Ängste stand eine große Angst: die Angst vor dem Leben, oder andres gesagt, die Angst, für sein Leben selbst die Verantwortung zu übernehmen. Bei mir hat diese Angst sicher damit zu tun, dass ich seit meiner Kindheit gespürt hatte: Ich bin nicht erwünscht, ich habe eigentlich gar kein Recht, ein eigenes Leben zu leben. So habe ich mir dieses Recht selbst verboten. Ob irgendwann der Leidensdruck so unerträglich geworden wäre, dass ich aus eigenem Antrieb etwas geändert hätte und gegangen wäre, kann ich nicht sagen. Doch dann kam alles ganz anders.

Mein Mann hat sich nämlich in eine Kollegin verliebt und ist ausgezogen. Zunächst hatte ich noch gedacht, wir könnten eine Paartherapie machen und uns irgendwie zusammenraufen. Ich wollte mit der Beziehung nochmal neu anfangen, aber bei ihm war es endgültig vorbei. Doch nachdem er dann ausgezogen war, ging es mir gar nicht so schlecht. Ich bin erst wirklich erwachsen geworden, als es mit meiner Ehe aus war. Ich hätte in der Beziehung nie ich selber sein können. Ab dem Zeitpunkt, wo mir klar war, ich muss mein Geld selber verdienen, war es auch kein Problem mehr, sich zu bewerben und zum arbeiten zu gehen. Was während der Ehe nicht möglich war, ging jetzt. Denn jetzt hatte ich die „Erlaubnis“ dazu.

Heute stehe ich an einem Punkt, wo die Angst gar kein so großes Problem mehr ist. Ich denke, man muss starke Ängste als Hinweis sehen. Was will mir die Angst sagen? Mir wollte sie sagen, dass ich mir beinahe selbst mein Leben verbaut hätte. Man sollte die Angst nicht nur als Symptom bekämpfen, sondern nach dem tieferliegenden Grund fragen. Dann erwächst daraus auch die Kraft, etwas zu ändern. Denn letztlich ist die Angst eine Kraft.