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Wie ich meine Agoraphobie mit App und Achtsamkeit bewältige

Simone erzählt, wie sie nach langer Zeit den Weg aus Panikattacken und der Agoraphobie fand  

In unserer Rubrik “Erfahrungsberichte” erzählen Betroffene aus ihrem Leben mit Angst und Panik. Es sind persönliche Geschichten  – von Menschen und ihrem Weg durch die Angst. 

24.06.22 – Autorin: Simone Hausen

Seit 25 Jahre Agoraphobie

Meine Agoraphobie begleitet mich nun schon seit etwa 25 Jahren und ich weiß, dass diese Zahl Menschen erschrecken kann, die vielleicht erst seit kurzem damit zu tun haben, und es manchen Angst macht, das zu lesen. Aber ich will euch damit keine Angst machen, eher im Gegenteil. Ich schreibe das hier, weil ich euch zeigen will, dass man nicht so lange damit zu tun haben muss, dass es Wege gibt, sich zu helfen und sich auch helfen zu lassen.

Bei mir hat die Angst in einer Zeit angefangen, in der es noch ganz wenige Informationen zum Thema Ängste gab und ich auch nie aktiv im Außen nach Hilfe gesucht habe, weil ich mich geschämt habe und nicht als Schwächling oder Versager gesehen werden wollte. Ich hatte Angst davor, wie mich meine Mitmenschen beurteilen, wenn sie von meiner Symptomatik erfahren. Deshalb habe ich so gut wie niemandem davon erzählt. Außerdem hatte ich jahrelang, wenn nicht sogar ein Jahrzehnt lang, damit zu kämpfen, es selbst nicht als das sehen zu können, was es ist, nämlich eine psychische Erkrankung. Statt dessen habe ich immer weiter nach körperlichen Ursachen gesucht. Aber ich will euch auch gar nicht mit Symptomen und Gedanken aus dieser Zeit triggern. Ich will euch vielmehr erzählen, wie sich auf einmal etwas in Bewegung gesetzt hat und mir in kurzer Zeit ganz viel klar geworden ist. Und wie mich das auf einen Weg gebracht hat, der mir zum ersten Mal die Hoffnung gibt, meine Zukunft könnte anders aussehen als meine Vergangenheit.

Der Lockdown machte alles schlimmer

Durch den Lockdown und die schwierige Coronazeit häuften sich meine Panikattacken wieder. Es waren so viele Situationen weggefallen, in denen ich mich hätte konfrontieren und dadurch üben können. Statt dessen war ich immer nur Zuhause und musste mich nirgends mehr hinzwingen. Irgendwie hatte ich mich auch ganz gemütlich eingerichtet und wenn ich ehrlich bin, war es zu Beginn der Pandemie auch sehr schön, mal nicht an sich arbeiten zu müssen und keine Konfrontation suchen zu müssen. Doch ich spürte bei jedem Mal rausgehen, dass sich das “Draussen sein“ immer gefährlicher anfühlte, und am Ende schon der Gedanke, wieder raus zu müssen, leichte Panikwellen samt Symptomen bei mir auslöste. 

Vor etwa vier Monaten hatte ich dann in der Nacht eine richtig schwere Panikattacke, die mich mit solcher Wucht traf, dass mir am nächsten Morgen klar war, so kann und will ich nicht mehr weitermachen. Ich war an einem Punkt, an dem ich die Schnauze voll hatte! So war ich zum ersten Mal bereit, das Thema grundlegend anzugehen und mir Hilfe zu suchen. Mein Leidensdruck war enorm, an diesem Tag hatte ich sogar Angst, alleine zu Hause zu bleiben. Das war eine Verschlechterung meiner Lage, die mich wirklich grundlegend ängstigte.

Dann kamen mir Gedanken wie: “Warum darf niemand davon wissen? Ich kann nichts für meine Erkrankung! Ich bin mehr als nur meine Angst! Ich will mich nicht mehr verstecken oder etwas verheimlichen vor Menschen, die mir etwas bedeuten! Ich will mich nicht mehr für mich schämen! Ich ertrage diesen Druck des Verheimlichens nicht mehr!“ Das alles waren Gedanken, die mir an diesem Morgen durch den Kopf gingen. Ich war nie wegen meiner Ängste beim Arzt und dachte immer, dass ich mein Leben mit den Vermeidungsstrategien schon irgendwie bis zum Ende durchhalten würde. Ein kleiner Bewegungsradius war mir ja geblieben und den hatte ich für mich jahrelang akzeptiert. Aber auch der drohte nun noch viel kleiner zu werden und das war inakzeptabel.

Außerdem hatte ich eine zusätzliche Erkenntnis für mich gewonnen. Als ich mich morgens fragte, wie diese Panikattacke wohl entstanden war, wurde mir plötzlich bewusst: Ich habe diese durch negative Gedanken selbst produziert! Ich konnte reflektieren, dass ich zuerst etwas gedacht hatte und daraufhin die Panik ausbrach aufgrund der Bewertung meiner Gedanken. Das war für mich ein kleiner Meilenstein. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass die Panik aus dem Nichts kommt, ich ihr nichts entgegensetzen kann und völlig hilflos bin, weil sie zuschlägt, wann immer sie möchte.

Mart Production/pexels.de

 

Keiner von uns ist schuld an seiner Erkrankung und bei jeder körperlichen Erkrankung holt man sich auch Hilfe, ohne sich dafür schämen zu müssen.

Therapie per App – auf meinen Alltag angepasst

Ich saß an diesem Morgen also da und überlegte, wie ich mir aktiv schnelle Hilfe suchen kann, denn ich wusste schon aus meinem Umfeld, dass Therapieplätze im Moment mit ewig langen Wartezeiten verbunden sind. Dann stieß ich auf die Invirto-App. Ich informierte mich und erfuhr auch direkt alles, was ich zu erledigen hatte, um an dieser Form der Therapie teilnehmen zu können. Daher habe ich mich gleich aufgemacht und bin zu meiner Hausärztin, habe mich “geoutet“ und um ein Rezept gebeten. Ihr erstauntes Gesicht zeigte mir, dass ich wohl bisher wirklich absoluter Profi im Vertuschen war. Nachdem ich das Rezept bei der Krankenkasse eingereicht hatte, ging die Therapie nach kurzer Bürokratie (2-3 Wochen) los.

Ich muss sagen, dass ich wirklich total begeistert von dieser Therapieform bin. Ich bekomme schnell Hilfe, bin nicht termingebunden und muss dadurch auch niemanden aus meinem Umfeld bitten, mich zu fahren oder in irgendeiner Form zu begleiten – das große Problem von Agoraphobikern. Ich kann die App so nutzen, wie es zu meinem Alltag passt. Ich kann schneller vorankommen, wenn ich möchte, oder mir auch mehr Zeit nehmen und mir Dinge mehrmals anhören und bearbeiten. Wichtige Aussagen der Psychotherapeutin können gespeichert werden. Das hat mir schon in mancher Situation seither geholfen. Es ist vom Gefühl her so, als würde man die Therapeutin anrufen und sie würde einem in der Situation gut zureden und einem Mut machen. Das hat mich gar nicht erst so tief in die Panik versinken lassen und mich schnell wieder herausgeholt. Zusätzlich hat man auch drei Telefonate mit echten Therapeut:innen und kann sich über die ganze Zeit auch Unterstützung direkt bei Psycholog:innen von Invirto holen. Vielleicht kann diese Information ja dem ein oder anderen weiterhelfen, denn die langen Wartezeiten auf Hilfe verstärken das Leiden nur.

Ich habe inzwischen schon vieles lernen dürfen, was mir wirklich Angst genommen und mir Kraft und Mut geschenkt hat. Ich habe mich wieder ein Stück aus meiner Komfortzone getraut und stehe jeden Tag mehr zu mir, weil ich denke, dass die Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen ein Ende haben muss. Keiner von uns ist schuld an seiner Erkrankung und bei jeder körperlichen Erkrankung holt man sich auch Hilfe, ohne sich dafür schämen zu müssen. Es ist natürlich mit sehr viel Arbeit verbunden, wenn man sich so mit sich selbst auseinandersetzen muss, aber ich kann jetzt schon erkennen, dass es sich lohnt zu verstehen, was mit einem los ist.

Lucas Pezeta/pexels.de

 

Ich denke an etwas Schlimmes und mein Körper stellt mir die Energie zur Verfügung, die ich benötige, um aus dieser Situation flüchten zu können. Er arbeitet für mich und nicht gegen mich. Er befolgt nur meine Gedanken und Bewertungen einer Situation und prüft nicht, ob diese Situation für mich wirklich gefährlich ist. 

Achtsamkeit und Meditation – zwei nützliche Tools

Weitere wichtige Tools wurden bei mir die Achtsamkeit und die Meditation. Damit habe ich auch direkt begonnen, als ich mich aktiv für Hilfe entschieden habe und ich kann nur sagen, dass es mir unglaublich hilft. Ich konnte durch das Meditieren immer häufiger in eine Art Beobachtermodus wechseln, wenn die Angst aufkam. Ich konnte genau sehen, was die Angst ausgelöst hat und wie sich dadurch die körperlichen Symptome in Gang gesetzt haben. Mir ist es auch zum ersten Mal gelungen, eine Panik einfach einmal kommen und sie über mich ergehen zu lassen ohne irgendwelche Hilfsmittel einzusetzen. Die Neugier  – oder auch der Leidensdruck –  waren größer und ich wollte endlich nach Jahrzehnten herauszufinden, ob einem wirklich nichts passieren kann. Und was soll ich sagen? Es stimmt! Keine Frage, es ist ein schlimmes Gefühl, aber es ist tatsächlich nur ein Gefühl. Ein Gefühl, das vorbei geht. Ich denke an etwas Schlimmes und mein Körper stellt mir die Energie zur Verfügung, die ich benötige, um aus dieser Situation flüchten zu können. Er arbeitet für mich und nicht gegen mich. Er befolgt nur meine Gedanken und Bewertungen einer Situation und prüft nicht, ob diese Situation für mich wirklich gefährlich ist. Ich sage ihm, dass sie gefährlich ist und er gibt mir die Energie, die ich brauche, um mich zu retten. Das war mir nie so klar.

Seitdem bin ich mit mir sehr achtsam, wenn ich merke, dass sich Symptome entwickeln. Ich frage mich dann, was ich davor gedacht habe, wie ich eine Situation eingeschätzt oder bewertet habe. Dadurch, dass ich es immer häufiger schaffe, achtsam zu sein, eskalieren meine Ängste viel seltener.  Ich habe das Gefühl, dass ich Stück für Stück wieder Selbstvertrauen entwickeln kann. Mir ist klar, dass ich noch ganz am Anfang stehe und viel Geduld und auch Kraft brauche, aber ich will diesen Weg gehen und bin auch wirklich neugierig, was ich noch alles entdecken werde. Es wird aber in Zukunft auf alle Fälle ein Weg sein, auf dem ich zu mir und allem, was zu mir gehört, stehen werde, das habe ich mir ganz fest vorgenommen.