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Yoga bei Angst und Panik

Hilfe durch Mental-, Atem- und Faszientraining 

Psychotherapie und Psychopharmaka helfen bei Angst- und Panikstörung zwar oft gut. Aber bewiesenermaßen erzielt auch eine ganzheitliche Yogapraxis mit Mental-, Atem- und Faszientraining kurzfristig Verbesserung – und mitunter langfristig auch Genesung.

27.10.2023 – Autorin: Anna Kramer

PAPIERSTAU UND PANIK

Wir kennen es: ein normaler Tag. Man ist eh schon gestresst, Händezittern, Atem flach, Unwohlsein. Dann Papierstau im Kopierer – und zack, ist die Panik da: hochgezogene Schultern, Herzrasen, Schwindel, Kloß im Hals. Die Gedanken: Nun wird’s ewig dauern, der Tagesplan scheitert, der Chef sauer, zu spät zur Verabredung, Schatzis enttäuschte Blicke, vielleicht Streit. Angst- und Panikattacken sind logische, aber eindeutig überproportional starke emotionale, mentale und körperliche Reaktionen auf kleine, sogar nichtige Auslöser. Natürlich nervt Papierstau, ist aber kein Grund zur Panik. Gelassen bleiben, durchatmen – alles wäre easy. Sagt sich so leicht! Doch von Angststörung Betroffene sind oft bei Kleinigkeiten überforderter als andere Menschen in Vollkrisen, da in Körper und Geist bereits extreme Spannungen existieren. Akuter Stress raubt dann den Atem, verkrampft den Körper, überfrachtet den Geist mit Horrorkonsequenzen und Mentalmüll – sofort und völlig. Glücklicherweise gibt es Auswege. Einer davon ist Yoga.

YOGA SCHAFFT VERBESSERUNG – AUCH OHNE LEGGINS

Ausdauer- und Kraftsport, Atemübungen und -kontrolle, Massage bzw. Tiefengewebs- oder Faszientraining, Tanzen, Meditation, Singen, Visualisieren und Tagebuchführen: Dies sind nur ein kleiner Teil der wissenschaftlich belegt wirksamen Verfahren gegen Angst und Panik. Je nach Stil kombiniert Yoga viele oder alle diese Elemente. Nicht umsonst gilt Yoga seit einigen Jahren als echte Ergänzung oder gar Alternative zu Psychotherapie und Psychopharmaka. Yoga ist nämlich keine reine Dehngymnastik für „om“-singende Vegetarier:innen in Leggins. Ansonsten wären ja auch alle Turner:innen oder Balletttänzer:innen sorglos und angstfrei.

Ursprünglich waren die heute bekannten Körperübungen nichts als eine Leibesertüchtigung von Selbsterkenntnis und Gott suchenden Heiligen, die ihren Körper warm, fit und schmerzfrei hielten, um in zugigen Himalaya-Höhlen tagelange Meditationen auszuhalten. Pranayama, die Atemübungen, und Asana, die statischen, wippenden oder bewegten Körperübungen für Muskelaufbau- und Faszienmobilität, waren bloß die untergeordneten Yoga-Elemente. Wichtiger waren zu innerem Frieden, Klarheit und Erkenntnis führende mentale Praktiken: Meditations- und Visualisierungsverfahren, z.T. mit Gesang, Konzentrations- und Geistestraining, ein ausgeklügeltes Ethik- und Wertesystem für anwendbare Selbsterkenntnis und Auflösung von negativen Selbstpostulaten, Denk- und Verhaltensmustern, welche den Weg zum wahren Selbst und Lebensglück überschatten. So ist Yoga nach wie vor zeitgemäß. Und weltweit durch neue Studien zu Yoga bei Depression, bei Angst- und Panikstörung, Posttraumatischer Belastungsstörung oder Bipolarität als wirksam belegt.

Im Yoga geht es neben Muskelkräftigung und Entspannung viel um Akzeptanz und Gelassenheit. „Na toll, danke für nix“, denken wir nun, „hätte ich Gelassenheit, hätte ich ja keine Panik. Und wie soll ich kräftigen, wenn ich ausgelaugt bin? Wie soll ich Panik akzeptieren und gleichzeitig dran arbeiten? Ist das nicht ein Widerspruch?“ Nein. Es geht um eine strategische, individuelle Schulung von Geist und Körper.

Wir sind verantwortlich für unsere emotionale und körperliche Balance. Vieles hat mit Haltung zu tun, psychisch wie physisch. Wenn wir manchmal leere Portemonnaies oder Papierstaus ohne Panik akzeptieren können, könnten wir es auch immer. Wenn wir manchmal weiteratmen und in den Schultern locker bleiben, könnten wir es auch immer. Oder zumindest meistens. Das erfordert konsequente Arbeit und Geduld. Aber es lohnt sich laut Murali Doraiswami, Professor für Psychiatrie und Verhaltensforschung an der Duke University, USA: „Wenn es einen Wirkstoff gäbe, der ähnlich positiv und nebenwirkungsfrei wirken würde wie Yoga, wäre es ein Bestseller weltweit.“

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Yoga kann als spirituell-philosophisches System der Akzeptanz über Krisen hinweghelfen und Ursachen lösen, als vitalenergetisches Training die Lebenskraft ankurbeln und auf biologischer Ebene hormonelle und nerviale Belastungen ausgleichen.

FASZIEN UND PSYCHOSOMATIK

Da Yoga die Faszien und Muskeln schult, hat es beeindruckende Ergebnisse. Muskeln kennen wir, aber Faszien? Lange wurden sie als unwichtiger Bestandteil abgetan, heute wissen wir, es ist exakt andersherum: Körperliche Vitalität, Schmerzfreiheit, Mobilität, Selbstwahrnehmung und Lebensqualität, dieses runde Gesamtgefühl also, in sich selbst zu Hause zu sein, hängt neben dem Darm zum Großteil von gesundem Fasziensystem ab. Ein keiner Exkurs.

Faszien sind ein faseriges Bindegewebe-Netzwerk aus kreuz und quer verlaufenden Eiweißfasern, das den gesamten Körper durchzieht. Sie umhüllen Muskeln, Sehnen und Knochen, aber auch Organe, Gefäße und Nerven – ähnlich wie ein Orangennetz die Orangen. Das Fasziengewebe füllt sogar Zwischenräume von Organen, um sie zu schützen, zu polstern und zu stabilisieren. Faszien sind mit zahlreichen Nervenendigungen des autonomen Nervensystems aus Sympathikus und Parasympathikus durchsetzt. So sind sie neben ihrer Stütz- und Bewegungsfunktion auch ein Kommunikations- und Wahrnehmungssystem.

In den Faszien liegen auch Propriorezeptoren, also Sensoren für Bewegung und Lage des Körpers im Raum – ein Kopfstand ist etwas anderes als eine Hocke oder aufrecht stehen. Das Gewebe sendet Rückmeldungen über Bewegung, Haltung, Koordination ans Gehirn, welches mitunter deswegen die Lage als gemütlich, harmlos, gefährlich, unbequem oder schmerzhaft beurteilt.

Sie ahnen schon, was das mit Angst zu tun haben kann: Faszien speichern Energie – also auch emotionale und physische Spannungen. Die feinen Eiweißnetze, die viel Wasser enthalten, um geschmeidig zu bleiben, ziehen sich durch Adrenalin und Cortisol zusammen wie ein heiß gewaschener Wollpulli. Akute oder chronische Situationen mit Blockaden, negativen Denkmustern und Ängsten schütten diese Hormone aus – und backen quasi in den Faszien fest. „Wenn man mit den Faszien arbeitet, behandelt man die Zweigstellen des Gehirns; und nach den allgemeinen Geschäftsregeln haben die Zweigstellen gewöhnlich die gleichen Eigenschaften wie die Zentrale. Also warum sollte man die Faszien nicht mit dem gleichen Maß mit Respekt behandeln wie das Gehirn selbst?“, sagte bereits Andrew Still, der Begründer der Osteopathie.

PSYCHOSOMATIK UND HALTUNG: GEGENSEITIGE BEEINFLUSSUNG VON KÖRPER UND GEIST

„Der größte Fehler bei der Behandlung von Krankheiten ist, dass es Ärzte für den Körper und Ärzte für die Seele gibt, wo beides doch nicht getrennt werden kann”, sagte schon Platon. Gedanken, Gefühle und Körper bilden eine untrennbare Einheit. Da Faszien eng mit dem Nervensystem verknüpft sind, beeinflussen Stresshormone auch die Faszien, lassen sie zusammenschnurren und verfilzen. Umgekehrt können verspannte Faszien das Stresslevel erhöhen, weil Nervenenden eingeklemmt werden und Durchblutung und Bewegungsradius eingeschränkt sind. Wenn wir Angst haben, verändert sich unsere Körperhaltung, unsere Mimik, Gestik und Atmung und wir bewegen uns anders als ein Mensch, der gerade intensive Freude erlebt.

Schlaffe, eingerollte, hängende oder auch übergerade, verkrampfte Körperhaltung, hochgezogene Schultern, gerunzelte Stirn: Wir sind selbst dann nicht gut gelaunt und entspannt, wenn wir diese Posen nur nachahmen. So kann eine jahrelang falsche Sitzhaltung oder Schildkrötenhals durch Smartphone-Dauereinsatz die Faszien so verkleben, dass es zu Schmerzen, Verhärtungen und chronischen Haltungsschäden kommt und durch die eingeklemmten Nervenenden durch Hormonausschüttung sogar zu Angst und Panik – völlig ohne psychischen Auslöser. Doch dieser Weg vom Körper zu den Gefühlen geht auch andersherum: In den USA gibt es eine Klinik, in der an schwerster Depression Erkrankte die ersten zwei Tage eine Halskrause tragen müssen, um Zusammensacken und schlechte Haltung des Halses und Kopfes zu verhindern. Das ist zwar unbequem, baut aber die Körperstatik auf, sendet dadurch den Propriorezeptoren in den Faszien die Botschaft, dass die Haltung gut ist, was ungemein aufmuntert – viele Erkrankte bemerken allein dadurch eine Stimmungsaufhellung wie seit Jahren nicht.

Bestimmte Körperhaltungen beeinflussen also das innerliche Erleben. Eine bewusste Körperhaltung, auch wenn sie nicht zu dem passt, was man eigentlich fühlt, hat also einen messbaren Effekt – und ist ein Bestandteil von Yoga.

Das Buch der Autorin

Anna Kramer/Karo Wagner: 
Yoga bei Angst und Panikattacken (2019)

Ein einzigartig komplexes, humorvoll geschriebenes Yoga-Erklär- und Selbsthilfebuch, das Betroffenen von Angststörungen neue Chancen eröffnet. Neben den Grundlagen von Angst und Panik, einem nicht esoterischen Überblick über Yogaphilosophie und einer knappen Darstellung von Psychosomatik auf körperlicher, energetischer und mentaler Ebene finden Sie ein effektives Trainingsprogramm, das den Umgang mit der Panik im Alltag erleichtert, ein breites, sofort anwendbares Spektrum an Übungen aus Atemtechniken, Asanas, Affirmationen und Meditationen und einer Sammlung aus belegt wirksamen Notfallübungen.

TYPISCH YOGA: ASANA

Die meisten Sportarten verändern oder beheben verklebte Faszien nicht stark, weil sie, wie z.B. Joggen oder Krafttraining, nur die Muskelkraft und -ausdauer oder das Herz-Kreislauf-System beanspruchen und Faszien sekundär einbeziehen. Mobilität und Dehnung als eigene, dritte Säule wird oft vergessen. Beim Yoga gehört sie immer dazu. Halten, Federn und Wippen, gerade im Endradius einer Bewegung, baut Muskelkraft auf und erhöht die elastische Speicherkapazität der Faszie. Das Schwitzen (ja, Yoga ist anstrengend) und dreidimensionale Durchwringen mit Drehungen, Beugungen, Streckungen und isometrischer Anspannung in allen Bewegungsebenen transportiert Schlacken und Giftstoffe ab. Es regeneriert durch erhöhte Durchblutung und verstärkten Flüssigkeitsaustausch. Das längere Halten einer Asana aktiviert den Parasympathikus, der Stress und Angst lindert. Die Haltedauer sollte bei Angst 30 Sekunden nicht unterschreiten. Längere geben uns die Kontrolle über unsere Emotionen zurück.

Eingeklemmte Nervenenden werden befreit, Gefäße wieder erweitert. Dazu schafft die konzentrierte, tiefe und gleichmäßige Atmung Raum und Lungenvolumen. Die Serotonin-, Dopamin- und Endorphinkonzentration steigt deutlich. Diese sogenannten Glückshormone helfen wiederum bei Entspannung, Schlaf, Geweberegeneration und natürlich positiven Emotionen. Da die Übungen alle rechts- und linksseitig ausgeführt werden, findet eine bilaterale Stimulation des Gehirns statt, was zusätzlich balanciert, Informationsverarbeitung und klares Denkvermögen steigert. Das führt zu einem Gefühl innerer Ausgeglichenheit und Stabilität. Gezielte Asanas wie Rückbeugen oder Hüftöffner lösen durch Angst und Panik nach vorn verkrampfte Schonhaltungen auf und schaffen Gegenbewegungen zu Fehlhaltungen.

PRANAYAMA UND ZWEI ATEMÜBUNGEN

„Die stetige Praxis von Pranayama verringert Blockaden im Geist, die uns an einer klaren Wahrnehmung hindern“ (Yoga-Sutra 2.52), sagt Patanjali, der oft als Vater des Yoga bezeichnet wird. Der Atem nimmt Sauerstoff auf und gibt Gift- und Abbaustoffe ab. Wer keinen Sauerstoff hat, denkt schlecht, wer darin schwimmt, strahlt. Andersherum, wer gut drauf ist, atmet frei, wer mies drauf ist, atmet wenig bis nicht. Ist der Geist unruhig, so der Atem; ist der Geist ruhig, so der Atem. Geist und Atem gehören also unmittelbar zusammen. Gedanken auf Kommando beruhigen ist schwer, den Atem anhalten kinderleicht. Fangen wir also unten an: regulieren wir den Atem, so beruhigen wir Gedanken und Geist direkt. Eine konzentrierte, gleichförmige Beobachtung und Kultivierung eines ruhigen Atems senkt Adrenalin- und Cortisolwerte und erhöht die Serotonin-, Dopamin und Endorphinkonzentration. Je mehr Sie davon produzieren, desto gesunder und vitaler sind Sie. Diese Hormone aktivieren das parasympathische Nervensystem, lindern Schmerz, erlauben Erholung, tiefen Schlaf und Geweberegeneration.

Mit bewussten Atemübungen können Sie zusätzlich Faszienspannung reduzieren. Die Grundidee ist, tief in die Lungen hinein zu atmen, sodass sich die Faszien in der gesamten Brust- und Bauchregion dehnen, dann die Luft anzuhalten und ein wenig zu pressen, sich ggf. dabei vorzubeugen, sodass der innere Luftdruck sanft das Gewebe aufdehnt. Dann gleichmäßig ausatmen, also nicht aus der Puste kommen und ohne Schmerzen. Diese Übung ist leicht als tägliche Routine aufzubauen: Beim Zähneputzen z.B. fünf Mal, in der Mittagspause vor dem Essen zehn Mal, abends noch ein paar mal. Nicht nach Anzahl der Atemzüge, sondern bis wir eine kleine Verbesserung spüren. Diese bewusste Verlangsamung und Dehnung schafft tiefe Entspannung und effektive Stressbewältigung. Denn immerhin geschieht so tiefe Atmung normalerweise nur, wenn‘s einem sehr gut geht. Also eine List, die aber klappt: Fake it till you make it.

Bei akuter oder aufkommender Panik hilft tiefes Luftanhalten und Pressen manchen Menschen beim Fokussieren und bei sich bleiben. Andere empfinden es erst recht beklemmend. Da hilft, den Ein- und Ausatem sowie die Atempause dazwischen (Kumbhaka) auf den Puls abzuzählen. Zum Beispiel auf vier Herzschläge durch die Nase stoßweise ein und ausschnaufen: ein-zwei-drei-vier, halten-zwei-drei-vier, aus-zwei-drei-vier, halten-zwei-drei-vier. Oder, wenn‘s ganz schlimm ist, ohne Halten: Nase ein, Mund aus wie durch einen Strohhalm. Natürlich gehen auch drei Pulsschläge oder sechs oder zehn – ganz individuell. Die Übung dauert so lange, bis wir uns besser fühlen. Nicht unbedingt gut, aber besser – das entscheidet. Und es klappt WIRKLICH! Nur müssen wir es machen. So lange, bis eine Wirkung einsetzt. Mal 30 Sekunden, mal zehn Minuten. Aber lieber zehn Minuten ohne echte Überzeugung schnaufen und denken, man spinnt, als es nicht machen und dazu noch 30 Minuten Panikattacke. Es geht nicht um Leistung, sondern um den individuellen Wohlfühlpunkt.

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 Ist der Geist unruhig, so der Atem; ist der Geist ruhig, so der Atem. Geist und Atem gehören unmittelbar zusammen. Gedanken auf Kommando beruhigen, ist schwer, den Atem anhalten kinderleicht. Fangen wir also unten an: Regulieren wir den Atem, so beruhigen wir Gedanken und Geist direkt.

DHARANA: POSITIVE GEISTIGE AUSRICHTUNG

Durch Asana und Pranayama gestärkt und beruhigt, können wir nun mit Dharana weitermachen. Ängstliche Menschen verwenden einen Großteil Ihrer Energie darauf, Symptome wie Herzrasen, Muskelspannung und Stresshormone zur Abwehr grässlicher Zukunftsszenarien aufzubauen. Angenommen, wir machen Diät, weil wir uns zu dick fühlen und gern wieder in die Lieblingsjeans passen würden, sitzen aber vor einer Torte und wiederholen ständig „Ich will keine Torte, ich will nicht dick werden.“ Damit ist unsere Aufmerksamkeit trotzdem sowohl auf „Torte“ als auch auf „dick“ gerichtet – wir vergeuden Kraft in Abwehr. Wenn wir lernen und konsequent üben, unsere Wahrnehmung umzulenken auf jetzt sofort machbares Positives, nutzen wir unsere Energie für unser Ziel, zum Beispiel die Lieblingsjeans. Also: „Ich mache einen Spaziergang um das Haus, nehme die Treppe und esse eine einzelne Praline“. So wird Spannung abgebaut, Versteifungen entstehen nicht, wir haben kleine Erfolge. Das erfordert Übung, bis es regelmäßig klappt, aber dann können wir auch bei aufkeimender Angst handlungsfähig bleiben und rechtzeitig aktiv Perspektivwechsel anstreben: Statt „gegen die Angst (Torte)“ sagen Sie „für die Zufriedenheit (Spaziergang und Jeans)“.

Was ist für Sie ein wiederkehrendes Angstbild? Machen Sie sich ganz genau klar, wie diese Szene besser aussehen würde, bis Sie es sehen und fühlen. Wir müssen uns so lange darauf konzentrieren, bis wir es jetzt und live plastisch erleben, wie wir ja auch Zukunftsangst plastisch und live erleben. Das geht leider nicht mal eben schnell. Dazu müssen wir uns konsequent hinsetzen und es konkret festhalten, ggf. mit Zettel und Stift. Dabei können Tränen und Ängste aufkeimen, da es unmachbar erscheint. Beharrlich bleiben! Ihre bessere Szene ist bestimmt in der realen Welt möglich.

SVADHYAYA: SELBSTERFORSCHUNG UND ZUKUNFTSPLANUNG

Auf diesen ganzen Grundlagen käme Svadhyaya, die Selbsterforschung zum guten Umgang mit uns selbst und unseren Mitmenschen als Weg zur Selbstverwirklichung. Das beinhaltet Abgrenzung gegenüber Alternativen, Normen, der Familie, der Gesellschaft durch verschiedene Grade an Selbstreflexion und Ausprobieren. Es geht nicht um ein konstantes Selbstüberwachen oder interpretierendes Totanalysieren. Es geht um strukturierte, planvolle Auseinandersetzung mit unserem Selbst. Und wir erreichen ein klares Ergebnis: ein funktionales, persönliches Wertesystem, eine Selbstgewissheit und Zukunftsplanung. Das geht nun wirklich nicht über Nacht, sondern braucht feste Termine und speziell ausgebildete Yogatherapeut:innen. In unseren Breitengraden auch ein Mentalcoach, eine Psychotherapeut:in oder eine mitfühlende, logisch mitdenkende Vertrauensperson.

WACHSTUMSSCHMERZ GEHÖRT DAZU

Körper und Geist sind richtige Gewohnheitstierchen. Wenn Stress, Angst oder gar Panik für Sie Normalität sind, kann es am Anfang ungewohnt, sogar unbequem sein, sich anders zu fühlen. Immerhin ist Adrenalin eine echte Droge. Nach einem ungewohnten, neuen Training in Asana oder Pranayama bekommen Sie vielleicht Muskelkater oder heftige emotionale Ausbrüche – immerhin verändern Sie Ihr bestehendes, wenn auch dysfunktionales System. Da geht’s nicht ohne Wachstumsschmerzen. Ihre Trennung ploppt in der Meditation hoch? In der Schulterdehnung kommt Ihnen die gemeine Turnübung im Kindergarten in den Sinn? Bei der Tiefenatmung kommen die Tränen? Gut so – gehen Sie mit! Nicht abwehren! Wer beim Yoga nie ordentlich weint und flucht, fordert sich nicht genug, um überhaupt zu wachsen. Zum Grenzen überwinden, zum Blockaden lösen gehört ja auch, sie aufzuspüren und den Mentalmüll durchzukneten. Nicht gewaltsam, aber stetig. Mit der Zeit gibt es einen neuen Wohlfühlpunkt und ein gesunderes System drum herum.

Planen Sie Ihre neuen Muster realistisch. Klein genug für tägliche oder mehrfach wöchentliche Praxis und unabhängig von Ihrer Stimmung: Sie putzen sich ja traurig wie fröhlich die Zähne. Klar nehmen Sie Rücksicht auf Ihre Kraft und Wohlbefinden. Motiviert und fit machen Sie mehr, müde und angeschlagen weniger. Aber Ergebnisse hängen nicht nur davon ab, was und wie Sie praktizieren, sondern dass und ob. Denken Sie bei aufkommendem Stress statt „Ich habe jetzt keine Panik“ besser: „Ich atme dreimal tief durch und bleibe eine halbe Minute lang mutig.“ Die ganze Minute kommt dann von allein. Planen Sie klare Ziele mit konkreter Belohnung statt schwammigen Allgemeinphrasen: „Nach dem Zähneputzen dreimal Fußzehen berühren und fünf Liegestütze am Badewannenrand, dann ein Cappuccino mit Tiefenatmung“ ist machbarer als „Jeden Tag Yoga und irgendwann glücklich werden“.

Ihr allgemeines Angstniveau sinkt nachweislich nach sechs bis acht Wochen konstanter Asana- und Pranayama-Praxis. Dank gesünderer Faszien, befreiten Nervenenden, mehr Beweglichkeit und Kraft, balancierterer Hormone – aber vor allem dank Ihrer Geisteshaltung, Ihrer beharrlichen Ausrichtung auf etwas schaffbares Positives, durch die Steigerung Ihres Selbstvertrauens und Gefühls von zunehmender Kontrolle im Chaos.

FAZIT

Psychosomatische Verknüpfungen und negative Emotionen sind keine bedrohlichen Rätsel. Niemand muss allein verbleiben, nichts ist unheilbar. Es gibt dauerhafte Lösungen. Yoga kann als spirituell-philosophisches System der Akzeptanz über Krisen hinweghelfen und Ursachen lösen, als vitalenergetisches Training die Lebenskraft ankurbeln und auf biologischer Ebene hormonelle und nerviale Belastungen ausgleichen. Je nach Schwere der Angst- oder Panikstörung kann Yoga sogar ein Ausweg oder eine starke Unterstützung bei einer komplementären Therapie sein.

Um emotionale Balance mit Yoga zu gewinnen, müssen wir nicht flexibel oder stark sein, auch nicht jung, fröhlich, energiegeladen und schon gar nicht schlank. Wir brauchen keine Blumenleggings, keinen Handstand oder Lotossitz. Wir brauchen Herzschlag und Atem, Konsequenz und gute, spezifische Anleitung – je nachdem, was Sie erreichen wollen. Ein Yogakurs im Fitnesscenter mit ein paar Standardbewegungen ist kein schlechter Anfang. Für intensivere Ergebnisse brauchen Sie komplexere Ansätze und fortgeschrittene Yogalehrer:innen. Es reichen 15 bis 30 Minuten zwei- oder dreimal die Woche, ohne Verausgabung oder besondere Vorbereitung, um generell emotional ausgeglichener zu werden. Letzten Endes entscheidet die Qualität, nicht die Quantität. Ein gelassener Atemzug mit einem Lächeln und geschlossenen Augen wirkt besser als dreimal gehetztes Durchatmen. Und dafür ist wirklich immer Zeit. Zum Beispiel jetzt.

LITERATUR:

Azeez AM, Puri GD, Samra T, Singh M (2021) Effect of short-term yoga-based-breathing on peri-operative anxiety in patients undergoing cardiac surgery. Int J Yoga 14:163–167.
Trökes, Anna. Yoga bei Depression: Hilfreiche Übungen zur Selbsthilfe von der Yoga-Expertin Anna Trökes. Knaur MensSana eBook, 2023.
Sedlmeier, Peter. “Wirkungen von Meditation.” Handbuch der Religionen. Westarp Science Fachverlag, 2023.
Kieffer, Simon, and Hedda Lausberg. “Sportliche Aktivität bei Angststörungen.” Ärztliche Psychotherapie 18.1 (2023): 48-53.
García-Sesnich J., Flores M., Ríos M., Aravena J. (2017). Longitudinal and immediate effect of Kundalini Yoga on salivary levels of cortisol and activity of alpha-amylase and its effect on perceived stress. International Journal of Yoga, 10(2), Article 73
Hofmann L. (2013). The impact of Kundalini yoga on concepts and diagnostic practice in psychology and psychotherapy. In Hauser B. (Ed.), Yoga traveling (pp. 81–106). Springer International Publishing.
Juckel, Georg, Anne Berghöfer, and Knut Hoffmann. “Komplementärmedizinische Verfahren bei therapieresistenten Depressionen.” Therapieresistenz bei Depressionen und bipolaren Störungen. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, 2023. 373-403.