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Angst als conditio humana

Das Thema Angst in der Existenzphilosophie (Teil 1)

Die Angst hat in der Philosophie eine reichhaltige Tradition. Schon seit der Antike haben Menschen über ihr Seelenleben und ihre Emotionen nachgedacht. Die Angst spielte dabei immer eine besondere Rolle als eines der stärksten Gefühle, das großen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. In einer kleinen dreiteiligen Artikelreihe wollen wir euch verschiedene Facetten der Angst aus philosophischer Perspektive näherbringen. 

Im ersten Teil geht es um die Angst in der Existenzphilosophie. Diese Richtung der Philosophie sieht die Angst geradezu als conditio humana – als unabdingbarer Teil der menschlichen Natur. Sie gilt als Basisgefühl des Menschen, so mächtig und tiefgreifend, dass sie explizit zum Thema gemacht wird. Dabei fasst die Existenzphilosophie Angst anders auf als die Naturwissenschaften.

04.05.2023 – Autorin: Tamara Niebler

Von der Sinnhaftigkeit der Angst

Dass Angst nützlich sein kann, klingt eingängig. Richtig ist, dass Angst zu körperlichen Reaktionen wie schnellerer Atmung, Schwitzen, erweiterten Pupillen u.v.m. führt, während sie sich psychisch in Erschrecken und Hilflosigkeit zeigt. Angst kann lähmen, aber auch einen richtigen Energieschub freisetzen.

Angst wird meist evolutionsbiologisch erklärt. Aber weil uns heute die Natur nicht mehr bedroht, haben sich unsere Ängste sublimiert und auf andere Objekte verlegt. Allerdings: In Industrienationen nehmen Ängste und Angstkrankheiten weiter zu.

Doch von den üblichen naturwissenschaftlichen Theorien einmal abgesehen: Was kann Angst für uns als Mensch bedeuten?

Ängste haben Ursachen, sie entstehen nicht aus dem Nichts

Da wir als Menschen Teil unserer Umwelt sind, entwickeln sich Ängste zusammen mit den sozialen Strukturen und natürlichen Gegebenheiten, die unserem Dasein zugrunde liegen. Ängste sind also abhängig von unserer Lebensform, gesellschaftlichen Normen, politischen Rahmenbedingungen etc. Fürchten wir als Frau, schwanger zu werden, dann ist diese Furcht nicht allein aus uns heraus entstanden, sondern hängt mit dem Verhalten des Umfelds zusammen, der wirtschaftlichen Lage, Beruf u.v.m.

Fürchten wir uns, Homosexualität zu zeigen, hängt auch das mit unserem sozialen Milieu, Umwelt, Beziehungen, gesellschaftlichen Normen, Status, politischer Lebenswelt, Selbstverständnis u.v.m. zusammen.

Angst in der Philosophie

In der Antike galt die Angst als reine Körperreaktion, die auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Aristoteles zum Beispiel schrieb über die Furcht als „gewisse Art von Kummer und Beunruhigung aufgrund der Vorstellung eines bevorstehenden schmerzhaften Übels“.

Im Zeitalter der Aufklärung wurden Affekte, Leidenschaften und Irrationales als hinderlich für den Verstand angesehen. Angst galt als Schwäche so wie viele andere Emotionen auch.

Kierkegaard und der Begriff der Angst

Erst mit dem dänischen Theologen und Philosophen Sören Kierkegaard tritt die Angst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er fasste Angst erstmals nicht als Defizit auf, wie die Philosophen der Aufklärung und des Rationalismus. Für ihn galt Angst als das Wesensmerkmal von Willensfreiheit und menschlicher Existenz schlechthin.

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Gleich wie der Arzt wohl sagen muss, es lebe vielleicht kein einziger Mensch, der ganz gesund sei, ebenso müsste man (...) sagen, es lebe da kein einziger Mensch, ohne dass er denn doch ein bisschen verzweifelt sei, ohne dass da doch tief im Innersten eine Unruhe wohne, ein Unfriede, eine Disharmonie, eine Angst vor einem unbekannten Etwas, eine Angst vor einer Daseinsmöglichkeit oder eine Angst vor sich selber.
(Kierkegaard)

Angst entsteht durch Selbstreflexivität

Der Mensch ist sich über sich selbst bewusst, er weiß um seine Freiheit, so aber auch anders existieren zu können. Freiheit heißt, unbegrenzt viele Möglichkeiten zu haben. Aber diese Freiheit ist nichts Angenehmes. Angstgefühle kommen auf, weil wir uns im Bewusstsein unserer Freiheit gleichzeitig der Zukunft bewusst sind. Weil wir die Folgen unserer Wahl nicht absehen können, fehlt uns die Sicherheit. Was aufgrund unseres Verhaltens oder unserer Entscheidungen passiert, können wir nicht vollständig vorausplanen.

Interessant ist vor allem Kierkegaards Wortwahl. Er nutzt Metaphern für die Angst wie „Blick in den Abgrund“ oder „schwindelnde Tiefe des Nichts“, was ziemlich genau die Gefühlswelt von Menschen mit Angststörungen beschreibt. Aber er erkennt auch die Kraft der Angst. Ihre Energie freizusetzen und zu kanalisieren, ist nach Kierkegaard ein wichtiger Faktor für Selbstwirksamkeit und Handlungsspielraum.

Heideggers Philosophie über Angst

Auch der Existenzphilosoph Heidegger sieht in der Angst eine Grundbefindlichkeit. In der Angst erkennt der Mensch seine Endlichkeit und Bedeutungslosigkeit. Angst ist daher das vorherrschende Grundgefühl des Menschen. Wohlgemerkt: Der Grundzustand von jedem Menschen – nicht ein paar Handvoll Kranker. “Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das heißt Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens” (Heidegger).

Laut Heidegger erkennen wir in der Angst unmittelbar das eigene In-der-Welt-sein, werden auf unser Selbst verwiesen und erfahren die eigene Endlichkeit. Das Dasein des Einzelnen offenbart sich im Menschen als Sein zum Tode – die äußerste Möglichkeit des Seins.

Das Vorausdenken in diese Möglichkeit sorgt dafür, dass sich der Mensch in seiner Ganzheit versteht. Angesichts der vielen potenziellen und realen Möglichkeiten muss der Mensch also Sorge um sich tragen. Dieser Zustand des Sorgens bzw. Um-sich-Sorgens wird uns erst in der Angst bewusst – also genau in dem Moment, in dem uns die Welt entrückt, unvertraut und unheimlich wird.

Die Angst und das Nichts

Aber warum macht die Freiheit, die Fülle an Existenz-Möglichkeiten, dem Menschen Angst? Weil die Freiheit – existenziell gesehen – letztlich unbegrenzt ist.

Diese existenzielle Freiheit erfahren wir durch das Nichts. Das Nichts ist die Verneinung unseres ganzen bisherigen Lebens. Durch welches Ereignis auch immer dieser Prozess ausgelöst wird, plötzlich wird alles sinnlos und wertlos, zerfällt unser Leben, entgleitet uns, löst sich auf. Das macht Angst – existenzielle Angst. Alles wird unwichtig und wir werden uns unserer Haltlosigkeit und Ziellosigkeit bewusst. Wir erkennen die Nichtigkeit der eigenen Existenz, der einzig und allein wir selbst einen Sinn geben können. Heidegger sieht das Selbst als unbestimmt an, es muss sich immer wieder neu in der Welt entwerfen. Das ist die existenzielle Freiheit des Menschen, die Freiheit zum Selbstsein. In der Angst wird diese Freiheit der Wahl bewusst.

Sartres Philosophie über Angst

Sartre formuliert das etwas anders: Angst ist für ihn das Bewusstsein unserer eigenen Freiheit, unserer Selbstverantwortung und unseres Auf-uns-Allein-Gestellt-Seins. In seinem großen Werk „Das Sein und das Nichts“ (1944) verfolgt er ähnliche Gedanken wie Kierkegaard und Heidegger, doch mit anderem Fokus.

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Das Nicht-Festgelegt Sein, Nicht-Determiniert-Sein, die Ungewissheit der eigenen Existenz, die Unmöglichkeit, bei Autoritäten oder der Natur Halt zu finden, vermittelt das Gefühl der Verlassenheit und Angst.

Sartre sieht den Mensch als radikal offen und frei an. Freiheit treibt zu Entscheidungen und Verantwortung. Das ist unumgänglich für jeden Einzelnen: wir haben keine Wahl, das sind die Bedingungen unserer Existenz. Da der Mensch aber die Dimensionen an Möglichkeiten nicht überblicken kann, bekommt er Angst.

„Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-Seins zu sein, ist genau das, was wir Angst nennen“ (Sartre).

Der Mensch ist existenzielle Angst

Die Frage lautet für Sartre daher, wie wir mit der Angst umgehen? Eine Reaktionsweise sind Selbstbetrug und Unehrlichkeit, die den Anschein erwecken, alles sei unter Kontrolle. Angst lässt sich allerdings nicht verdrängen, „denn wir sind Angst“.

Das Nicht-Festgelegt Sein, Nicht-Determiniert-Sein, die Ungewissheit der eigenen Existenz, die Unmöglichkeit, bei Autoritäten oder der Natur Halt zu finden, vermittelt das Gefühl der Verlassenheit und Angst.

Auch bei Sartre ist Angst ein Grundzustand des Menschen, der aufkommt, weil keine Religionen und sozialen Normen uns mehr sagen, was sinnvoll und erstrebenswert ist. Der Mensch ist auf sich allein gestellt, gewinnt dadurch aber auch Freiheit – zu wählen, zu entscheiden, sein Leben nach seinem Willen zu gestalten.

Ausblick: Die Angst in der Existenzphilosophie

Ob Kierkegaard, Heidegger, Sartre oder Camus – alle Existenzphilosophen deuten die Angst positiv und essenziell. Die Angst ist ein Zeichen, dass der Mensch seinem Wesen nach frei ist, sein Schicksal selbst zu gestalten. Die Besonderheit der Angst liegt im Sensibilisieren. Sie sensibilisiert uns dafür, dass unser Leben offen und formbar ist. Dass wir selbst unser Selbst gestalten können.

Angst eröffnet dem Menschen einen Blick auf sich als Ganzes. Und sie kann die Kraft verleihen, eine der Möglichkeiten, die sich in diesem Blick eröffnen, in Angriff zu nehmen. Für einen Angstpatienten kann dies z.B. heißen, sich nicht mehr von der Angst bestimmen zu lassen, sondern sein Leben selbstbestimmt zu leben. Gleichzeitig hat die Angst etwas zutiefst Sorgenvolles an sich: Sie ermahnt uns, auf unsere Entscheidungen zu achten.

Quellen:
1) Sören Kierkegaard: Der Begriff der Angst (1844)
2) Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927)
3) Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts (1944)