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Daily Fights

Mein 40jähriger Kampf gegen Angst und Depression

Ich heiße Martina und versuche seit über 40 Jahren, meine Ängste und Depressionen zu verstehen und zu überwinden. Ich habe mich schon öfter mit anderen Menschen über meine Ängste unterhalten und es hat mir immer sehr gut geholfen, jemanden zu kennen, der annähernd die gleichen Probleme mit der Materie hat wie ich. Nun habe ich mal in meiner Gedächtnishalle gekramt und so einige Momente meines Lebens gefunden, von denen ich annehme, dass es dir vielleicht weiterhelfen könnte, wenn ich sie mit dir teile.

15.09.2023 – Autorin: Martina

Plötzlich war die Panik da

Ich habe bewusst etwas lockerer geschrieben, denn ich finde, dass Panikattacken und Angststörungen schon genug negative Energie besitzen, um uns den Tag zu verderben. Unser Leben mit der Angst ist hart genug. Ständig müssen wir Kompromisse eingehen unseren Partnern gegenüber und um einigermaßen mit dem Rotz klarzukommen. Warum dann nicht auch mal darüber lachen? Ich finde, das entkräftet das Ganze ein wenig und das ist auch gut so. Ich hatte viel Spaß beim Schreiben und hoffe, dass es auch dir ein Grinsen entlocken wird, wenn du es liest.

Nun will ich hier nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen prahlen, denn die habe ich nicht, aber sehr viel Erfahrung mit dem Thema und dem dazugehörigen Umfeld. Wenn man erst mal soweit ist, zu erkennen, dass diese Erkrankung ein Teil von einem selbst ist und der erste Schock deswegen abgeklungen ist, hat man alle Zeit der Welt, sich selbst zu erforschen und auszuprobieren, was einem guttut und wo man noch dran feilen muss.

Ich war noch sehr jung, Anfang 20, als ich erkannte, dass meine Brustenge und Schwindelgefühle nichts mit einem Herzfehler zu tun hatten. Mir war nur noch nicht bewusst, dass alles nur reine Kopfsache war. Bei meiner Familie stieß ich damit allerdings auf Unverständnis und fortan erfand ich Gründe, um sie so wenig wie möglich zu sehen. Ich hatte dann eben keine Zeit oder verabschiedete mich recht schnell wieder mit irgendeiner Ausrede.

Der Gedanke, dass etwas mit mir nicht stimmte aber blieb. Ich war fest davon überzeugt, dass ich ein schweres schleichendes Leiden hatte, das irgendwann mein Herz zum Platzen brachte und ich dann tot wäre. Allerdings gab es auch Tage und Wochen, an denen mir rein gar nichts fehlte und ich mir sicher war, die mysteriöse Krankheit überwunden zu haben. Und dann…peng…war sie wieder da! Mitten beim Einkaufen oder auch im Bus. Jetzt war mir klar, dass es ohne professionelle Hilfe nicht mehr ginge. 

Andrea Piacquadio/pexels.de

Mein Therapeut war ein entzückender kleiner Mann mit Brille und silbernem Haarkranz. Er hatte eine warme Stimme und sehr gütige Augen. Ich fühlte mich sehr wohl in den Sitzungen und lebte etwas auf. Ich wollte meiner Familie davon berichten, denn öffentlich darüber reden war Anfang der 80er Jahre durchaus noch nicht empfehlenswert. Kam aber nicht so gut an. Die Älteren von uns kennen diese Einstellung bestimmt noch. Zu dem Zeitpunkt war ich leider das einzige Familienmitglied mit ‘ner Macke.

Einen Therapeuten aufsuchen und eventuell mit Medikamenten unterstützt werden, ist auf jeden Fall eine große Hilfe. Der Therapeut kann den Knoten im Kopf durch gezielte Gespräche etwas entwirren. Er strukturiert die Gedanken und versucht, mit unserer Hilfe, die Ängste zu entschärfen. Das eröffnet einem ungeahnte Einblicke. Ihr wäret überrascht! Doch ein Therapeut kann nur die Richtung angeben, den Weg muss jeder selber gehen. Das kann dir keiner abnehmen.

Gedanken und Gefühle – eine “erfolgreiche” Partnerschaft

Ab jetzt wird es schwierig. Ängste sind Gefühle und Gefühle sind sehr hartnäckig. Gefühle lösen Gedanken aus. Die beiden gehen eine Partnerschaft ein. Sehr dominant und ausgesprochen erfolgreich. Wenn man das erst mal verinnerlicht hat, dürfte es doch eigentlich ein Leichtes sein, seinen Gefühlen und Gedanken Herr zu werden, oder? Weit gefehlt

Es macht Sinn, körperliche Symptome, von Gefühlen und Gedanken ausgelöst, so früh wie möglich im Keim zu ersticken. Ich habe für mich eine besondere Atemtechnik gefunden, die mein Herzrasen runter bringt. Ich atme sehr tief ein, halte die Luft ein paar Sekunden an und atme dann ganz langsam wieder aus. Dabei kontrolliere ich meinen Puls. Er wird langsamer. Das Atmen fällt mir wieder leichter. Und da die Technik wunderbar funktioniert, denkt man ja schnell: “Hurra…..es wirkt! Ich kann es bekämpfen!” Leider ein Irrtum!

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gedanken und Gefühle ihre eigene Kampfstrategie haben. Solange man artig in den Seilen hängt und die Symptome erträgt, halten sich die körperlichen Belastungen in Grenzen. Will man aber dagegen angehen und somit selber wieder frei über seinen eigenen Kopf und Körper verfügen, wird der Hahn erst richtig aufgedreht. Die Gefühle verstärken sich drastisch. Das Herz beginnt zu rasen, der Schweiß steht dir auf der Stirn, aber deine Hände sind eiskalt. Dein Bauch verkrampft sich und du musst, so kurz vorm Infarkt, auch noch zum Klo!

Nun ist die Panikattacke komplett. Wenn dann noch der Mann kommt und fragt, was es heute zu Essen gibt, möchte man spontan vom Balkon springen. Dein Inneres brennt, der Druck im Kopf würde jedem Kompressor Konkurrenz machen. Natürlich gibt man schnell alle seine Bemühungen auf und fügt sich in sein Schicksal. Man kann es einfach nicht aushalten. Nach geraumer Zeit legen sich alle Symptome wieder und es geht besser. Doch fortan hast du Angst vor der Angst. Und erträgst alles. Gedanken und Gefühle haben gewonnen.

Bei mir war’s auch so. Ich konnte ohne Bauchkrämpfe und Herzrasen das Haus nicht mehr verlassen. Das Risiko war mir einfach zu groß. Also bin ich im Haus geblieben und war so vorsichtig wie möglich. Bloß nicht schlafende Hunde wecken. Aber dummerweise schadet dieses Verhalten ganz arg den Beziehungen zu Familie und Freunden. Ich sah nur Unverständnis und Genervtsein.

Niemand will Freundschaft oder Ehe gefährden. Also zwingt man sich, so zu sein, wie die anderen einen haben wollen. Glaubt mir, das geht nicht gut aus. Je stärker du gegen sie ankämpfst, umso hartnäckiger wüten die Gefühle in dir. Im Kopf, im Bauch oder in der Herzgegend. Es ist ein Kreislauf. Kämpfst du, zwingt das Gefühl dich in die Knie, kämpfst du nicht, bleibt es dein ständiger Begleiter.

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Der nächste Dauergast: Die Depression

Uns schon haben wir den nächsten Dauergast. Die Depression setzt sich ins vorgewärmte Nest und wartet geduldig auf ihren Auftritt. Wenn du also frustriert den Kampf aufgegeben hast, springt die Depression in die Bresche und sorgt dafür, dass deine schlechten Gedanken auch ja nicht verkümmern. Du sitzt tief im Loch und man hat die Leiter geklaut!

Es gibt aber auch Zeiten, da nimmst du weder das eine noch das andere wahr. Bei mir war für Jahre Pause. Ich habe geheiratet, war schwanger und erzog meinen Sohn, und in diesen Jahren war ich gedanklich so beschäftigt und abgelenkt, dass für schlechte Gefühle und deren Kumpel einfach kein Platz in meinem Kopf war. Ich hab einfach nicht mehr dran gedacht. Je mehr man sich mit anderen Sachen auseinander setzt, umso kleinlauter werden die Gefühle und Gedanken.
Nur unsere Freundin die Depression nutzt jeder Gelegenheit, um sich ins Spiel zu bringen. Allerdings nicht zu sehr und auch nicht so aufdringlich, aber immer bereit, zuzuschlagen.

Ich möchte hier niemandem zusätzlich Angst machen. Das sind nur meine Erfahrungen in all den Jahren. Jeder empfindet das natürlich anders.

So. Jetzt wollen wir mal eine Strategie entwickeln. Das muss sein. Mit der Angst leben zu müssen, ist schon Bestrafung genug. Um ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen, mit all seinen Höhen und Tiefen, braucht man viel Kraft und Energie. Im Laufe des Lebens werden Depots angelegt, aus denen wir Energie und Kraft schöpfen, wann immer wir sie brauchen. Wenn man nun aber ständig mit seinen Ängsten auf Kriegsfuß steht, verbraucht man zu viel aus den Depots und es ist nicht mehr viel übrig, wenn man es dann wirklich mal braucht. Also müssen wir mit Tricks arbeiten.

Angstzustände wollen konkurrenzlos beachtet werden. Man soll sie für ihre Ausdauer und facettenreiche Durchführung bewundern. Ängste haben grundsätzlich oberste Priorität. Ihrer Meinung nach. Um sie ein klein wenig zu hintergehen, müssen wir trickreich und unauffällig vorgehen. Mir hat das in all den Jahren sehr geholfen und teilweise sogar Spaß gemacht.

Meine Lieblingsangst: Magen-Darm

Nehmen wir als Beispiel mal meine Lieblingsangst: Magen-Darm. Es erschien mir stellenweise unmöglich, mit ständigen Bauchkrämpfen und drohendem Durchfall zur Arbeit zu fahren. Und das auch noch mit Bus und Bahn. Ein Horrorszenario nach dem anderen lief an meinem inneren Auge vorbei. Von Brechdurchfall im Bus bis tödliche Ohnmacht auf dem Bahnsteig war alles vertreten. Es war furchtbar. Dummerweise lässt sich so ein Gedankengut nicht zwingend dem Chef verkaufen. Also musste ich mir was einfallen lassen.

Wenn der Bauch krampft, wenn ich zuhause bin, nehme ich es zur Kenntnis und warte erst mal ab. Ich laufe nicht gleich zum Klo. Nicht ganz einfach, denn die Angst will dich zwingen, sofort zu gehorchen. Wo gibt es denn so was? Als Opfer auch noch aufmucken? Wenn ich dann doch wegen der ekeligen Folgen, die meine Ignoranz haben könnte, zu unruhig werde, schlendere ich eben bewusst langsam zum Klo. Alles geht gut. Es geht immer gut. Ich habe mich zwar zum Klo zwingen lassen, aber dann, wenn ich das wollte! Die paar Minuten, die ich der Angst verzögert Folge geleistet habe, sind ein großer Erfolg für mich. Die Angst bestimmt, dass ich zum Klo zu gehen habe, aber ich bestimme, wann ich das tue.

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Wenn ich unterwegs das Problem verspüre, ist ja leider selten eine Toilette zur Hand, die man auch reinen Gewissens benutzen möchte. Für solche Fälle habe ich immer ein Buch dabei oder heutzutage wahlweise ein Handy zum Spielen, Lesen, Musik hören etc. Eben alles, was man machen kann, was einen von dem Klogang ablenkt. Das klappt ganz prima.

Man könnte nun meinem, “Ist ja ganz simpel“. Nein, ist es nicht! Du sollst ganz bewusst gegen die Angst agieren, obwohl du fast sicher bist, dass entweder etwas Peinliches passiert oder du tot umfällst. Wage den Schritt! Trau dich! Es lohnt sich! Fange mit Minischritten an. Du allein bestimmst das Tempo. Diese kleinen Schritte bringen uns das Vertrauen in uns selbst zurück und lassen uns mutiger werden. Das Beste daran ist allerdings, dass die Angstzustände nicht so schnell dahinter kommen, dass man sie gelinkt hat. Nur die schweigsame, aber mächtige Depression, ein Schmarotzer der Ängste, kriegt dein Glücksgefühl bei jeder erfolgreichen Mutprobe mit und ist erst mal beleidigt. Allerdings kann sie ohne ihre Kumpel, die Ängste, nichts ausrichten. Glücksgefühle sind um ein Vielfaches mächtiger als eine Depression.

Die Vermeidungstaktik

Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, um stressfreier mit den Ängsten zu leben. Die Vermeidungstaktik! Sie ist sehr wirkungsvoll und bringt dein Angstlevel von 100 auf 0 in 5 Sekunden. Wenn man also, so wie ich, Magen-Darm als Angstauslöser hat, liegt es nahe, zu kneifen, wenn beim Verlassen des Hauses der Bauch krampft und die Klotür schon von selbst  aufschwingt. Kein Mensch geht mit Krämpfen und Durchfall noch entspannt shoppen oder auf den Fußballplatz.
Man erfindet Ausreden wie Kopfschmerzen, zu müde, keine Lust usw. Kaum hat der Rest der Familie das Haus verlassen, legt sich sofort der Stresspegel, der Bauch entkrampft sich und du fühlst dich körperlich wohl, als wenn nichts gewesen wäre. Das baut dich auf, gibt dir wieder Zuversicht. Doch es ist Vermeidung und du nimmst dir fest vor, diese Taktik so selten wie möglich anzuwenden.

Von wegen!! Da es so gut funktioniert, wirst du es immer wieder machen. Dein Körper dankt es dir, er fühlt sich gut. Aber das schlechte Gewissen deiner Familie gegenüber wird immer größer. Und das ist noch nicht alles! Das normale Leben, wie man es gewohnt war, kann nicht mehr stattfinden.

Das Leben beschert dir immer wieder Situationen, in denen du deine Komfortzone verlassen musst. Dir bleibt keine Wahl. Wenn man sich aus Angst vor der Angst aber immer weiter eingeigelt hat, trifft einen ein Verlassen seiner schützenden Burg besonders hart. Wochen- oder monatelang ihres Wirkungskreises beraubt, schlägt die Angst zur Strafe nun richtig hart zu. Es werden alle Register gezogen: Schwindelattacken, Bauchkrämpfe, Durchfall, Schweißausbrüche – das volle Programm. Und trotzdem musst du das Haus verlassen. Es geht eben mal nicht anders. Und obwohl alles gut geht und dir nichts passiert, nimmst du dir vor, so was nie wieder erleben zu wollen. Fazit: Du verkriechst dich noch mehr..

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Das ist die Stunde der Depression! Nicht genug, dass du wegen der Ängste nicht mehr raus kannst, nein, sie zwingt dich, wie ein Scheuerlappen in der Ecke zu liegen und und die Teppichfasern zu bewundern. Die Depression saugt dir den letzten Rest Energie aus und macht dich zu einer leeren Hülle. Die schlechten Gedanken haben nun freie Bahn und stürzen sich auf dein Gehirn wie die Fliegen auf einen frischen Haufen. Wie oft habe ich in dieser Phase gedacht: “Ich bin zu nichts zu gebrauchen“, “so was wie mich kann man doch nicht lieben”, “alle anderen sind ohne mich besser dran” – und Ähnliches.

Für einen emotional sehr schwachen Menschen sind solche Gedanken sehr gefährlich. Es gibt Betroffene, die sich in solchen Situationen das Leben nehmen. Ich habe auch schon mal sehr intensiv darüber nachgedacht. Aber dann kam mir mein Sohn in den Sinn und ich habe mich dagegen entschieden. Das konnte ich ihm nicht antun. Er würde ja nicht verstehen, warum ich es getan hätte. Es ist ja nicht so, dass man wirklich tot sein will, man möchte nur den eigenen gegenwärtigen Zustand nicht mehr ertragen müssen! Als jahrelang erprobte Betroffene erlaube ich mir euch zu raten: Achtet auf eure Gedanken. Sie sind machtvoll und können sehr gefährlich werden.

Ich habe für mich die Entscheidung getroffen, die Vermeidungstaktik nur noch in einzelnen Fällen zu benutzen. Ansonsten kämpfe ich Tag für Tag mit meinen Ängsten und freue mich über jeden noch so kleinen Minierfolg. Auf lange Sicht gesehen ist das wirklich der glücklichere Weg. Ein Weg, der einen stolz macht.

Hier liest du die Fortsetzung von Martinas Geschichte: