Es geht darum, die verloren gegangene Funktionalität der Angst wiederherzustellen mit dem Ziel, die Angst wieder sinnvoll für sich nutzen zu können, um objektive Risiken gut einzuschätzen.
Das Online-Magazin der Deutschen Angst-Hilfe e.V. für Betroffene von Angststörungen
Foto: Christian Zottl
Wenn wir in die steilen Berge gehen, dann ist Angst unsere stete Begleiterin. „Am Berg ist Angst unsere wichtigste Überlebensversicherung,“ sagt Extremkletterer und -bergsteiger Alexander Huber (siehe Interview im aktuellen Schwerpunkt). Wie bei allen Ängsten gibt es auch bei der Höhenangst ein breites Spektrum: von einer der Situation angemessenen, gesunden und funktionalen, im Idealfall sogar leistungsfördernden Angst, bis hin zu einer einschränkenden und dauerhaft belastenden Angststörung, deren unverhältnismäßige Angstreaktion mit einer objektiven Gefahrenlage überhaupt nicht mehr korreliert und eventuell sogar behandlungsbedürftig ist. Man könnte also sagen, auch in diesem Fall macht die Dosis – eines ursprünglichen Heilmittels – das Gift!
01.01.2023 – Autor: Christian Zottl
Angst gehört zur Grundausstattung des Menschen, wie die Alarmanlage zur Tegernseer Villa. Die Sensorik nimmt eine potenzielle Gefahrenquelle war (ungewöhnliche Bewegung im Garten), die Alarmglocke schrillt und das rote Licht leuchtet grell. Ist es tatsächlich ein Einbrecher auf dem Weg zur Terrassentür, so können die Hausbesitzer entweder rechtzeitig die Polizei rufen, die Diebe selbst verjagen, fliehen oder sich verstecken. Hätte die Anlage nicht Alarm geschlagen, wären sie vermutlich überrascht worden, hätten den Einbruch nicht verhindern können und/oder hätten sich in noch größere Gefahr gebracht. Schlägt die Alarmanlage jedoch jeden Tag mehrmals an (z.B. wegen jedem Insekt, das durch den Garten schwirrt), dann verliert sie nicht nur ihre sinnhafte Funktion (wer glaubt ihr dann noch?), sondern wird im Laufe der Zeit und mit steigender Intensität von einer nervigen Belastung zum blanken Psychoterror. Das schönste Leben (auch ohne Villa am Tegernsee) kann dann völlig aus den Fugen geraten.
Nun ist die „Angst“ keine technische Anlage, die man einfach reparieren lassen könnte, um die Normalfunktion wiederherzustellen, sondern sie ist ein sehr individuelles, komplexes, multifaktorielles und – allen voran – zutiefst menschliches Geschehen. Trotzdem lässt sich die Funktionalität der Alarmanlage auf die menschliche Höhenangst übertragen. Auch sie gehört zu unserer Gefahrenabwehr-Grundausstattung. Und das aus gutem Grund.
Bei der Höhenangst (in der Fachsprache Akrophobie genannt) am Berg haben wir es – im Unterschied zu manch anderer Phobie – mit realen Gefahren für Leib und Leben zu tun. Schon ein Sturz über einen kleinen Felsabsatz oder einen steilen Hang hinunter kann zu Verletzungen, im schlimmsten Fall bis zum tödlichen Unglück führen. Die Angst aktiviert – etwas technisch formuliert – also zu Recht unser integriertes Risikomanagement-Programm. Die Alarmglocke läutet, bewusst unangenehm, damit sie unsere Aufmerksamkeit erregt. Ich muss mich unmittelbar damit beschäftigen, ob ich will oder nicht. Liegt hier eine reelle Bedrohungslage vor? Welche Fähigkeiten und Erfahrungen bringe ich mit, um mit der Gefahr umzugehen? Welche Faktoren begünstigen oder verschlechtern die aktuelle Lage? Was ist nun zu tun? Flight, fight oder freeze? Am Berg: Umdrehen, durchziehen oder erstmal abwarten?
Vor- und Nachteil zugleich ist die extreme Geschwindigkeit, mit der die Angst-Reaktion uns zu flight, fight oder freeze drängelt. Der Körper wird durch die massive Ausschüttung von Stresshormonen sowie die Aktivierung von oftmals unbewussten, dafür schnellen Denk-, Empfindungs- und Verhaltensmustern in eine unmittelbare Handlungsposition gebracht, um sofort unser Leben zu retten bzw. zu bewahren. Einerseits also gut, wenn es da schnell zugeht. Andererseits aber problematisch, wenn die Angstreaktion nicht der Situation angemessen ist, weil es das schwieriger macht, die Reaktion aktiv zu beeinflussen und einzugrenzen.
Festzuhalten gilt: „Die Angst soll unser Leben beschützen, aber es nicht bestimmen!“ Wenn letzteres der Fall ist, dann nimm dir Zeit und schau mal hin, was es mit der Angst auf sich hat! Sprich mit jemanden, der Erfahrung und Ahnung vom Thema hat.
Foto: Christian Zottl
Es geht darum, die verloren gegangene Funktionalität der Angst wiederherzustellen mit dem Ziel, die Angst wieder sinnvoll für sich nutzen zu können, um objektive Risiken gut einzuschätzen.
In der Regel wird bei Höhenangst, wie bei allen „Spezifischen Phobien“, ein gestuftes Expositionsprogramm empfohlen. Bei schwerer Beeinträchtigung ist eine psychotherapeutische oder vergleichbar kompetente, professionelle Begleitung empfehlenswert. In der Exposition stellt man sich ganz bewusst, mit langsam steigender Intensität, den angstbesetzten Situationen. Man hält die Angst aus. Die Angstreaktion flacht von selbst wieder ab. Im Idealfall beobachtet man, dass nichts Schlimmes passiert ist, außer Angst gehabt zu haben. So sammelt man kleine, aber ganz wichtige Erfolge und gewöhnt sich zunehmend daran, die Situationen auch mit Angst bewältigen zu können. Je öfter wir das tun, desto weniger wird die Angst und ihre Symptomatik. Soweit jedenfalls die Theorie. In der Praxis läuft das nicht ganz so linear, funktioniert aber tatsächlich in aller Regel.
Wichtig dabei am Berg: Bleibe möglichst immer im Rahmen deiner technischen und konditionellen Möglichkeiten, wenn du dich angstbesetzen Situationen stellst. Außerdem solltest du deine eigenen Grenzen nicht dauerhaft durch stoische oder auch überambitionierte Exposition übergehen. Natürlich muss man seine Grenzen auch ein Stück weit überschreiten, sich herausfordern, um den eigenen Radius zu erweitern. Gleichzeitig dürfen aber dabei das Augenmaß und die innere Balance, die Achtsamkeit der eigenen Bedürfnisse und – insbesondere am Berg – das reale Risiko nicht leichtsinnig übergangen werden. Es klingt ein wenig paradox, aber auch beim „zwanghaften“ sich der Angst aussetzen hat die Angst einen wieder im Griff und – noch schlimmer – man riskiert ggf. tatsächlich sein Leben. Diesmal regiert uns die Angst nicht, weil wir vermeiden, sondern weil wir uns zu verbissen in alles hineinquälen, wo Angst uns eventuell einschränken könnte.
Wieder zu lernen gilt es also, wann es genau richtig ist, auf die Angst zu hören und wann nicht! Dieses Gleichgewicht herzustellen, sollte das Ziel jedes Selbsttrainings oder Höhenangst-Kurses sein.
Anmerkung: Leider – muss man sagen – ist das Internet voll von wunderbar klingenden Heilsversprechen, insbesondere beim Thema Angst. Keine Angst mehr zu haben, wird von vielen als selbstverständliches Ziel definiert und der Weg dort hin mit verschiedensten Methoden/Formeln angepriesen. Wer einem allerdings ein gänzlich angstfreies Leben (egal ob am Berg oder im restlichen Leben) verspricht, dem/r sollte man lieber erstmal mit einem gesunden Misstrauen entgegen. Denn der/die würde einem ja, wie Alexander Huber sagt, die „Überlebensversicherung“ am Berg und eine wichtige Ratgeberin im Leben nehmen wollen.
Wir haben also gelernt: Angst zu haben ist völlig in Ordnung, solange sie unser Leben beschützt und es nicht unverhältnismäßig bestimmt! Wie komme ich nun also von einer störenden Angst-Reaktion, hin zu einer Hilfreichen? Niemand hört es gerne, aber wir brauchen allen voran Geduld. „Gut Ding braucht Weil“. Zum Beispiel ein Mosaik zu kleben – das dauert. Es braucht viele kleine Steine, eine Vorstellung wie diese zusammenpassen, Übung – die sich erst mit der Zeit entwickelt – und als nachhaltige Motivation das Bild/Ziel vor Augen. Ganz ähnlich ist es auch mit dem Erlernen eines konstruktiven Umgangs mit der Höhenangst. Anders gesagt, kann es darum gehen aus einem Scherbenhaufen wieder ein ansehnliches Bild zu machen. Diese Analogie lässt sich auf die verloren gegangene Funktionalität der Angst und dem Ziel, diese wieder sinnvoll für sich nutzen zu können, um objektive Risiken gut einzuschätzen, übertragen.
Von heute auf morgen klappt das erfahrungsgemäß nicht. Es gibt wie beim Mosaikkleben ganz unterschiedliche Herangehensweisen. Die “Fleißigen”, die sich der Höhenangst sehr intensiv und ausdauernd widmen. Die “Strukturierten”, die sich einen genauen Plan machen und dann abarbeiten. Sowie die “Genießer”, denen der Spaß am Berg nicht durch lauter Arbeit am Thema Höhenangst verloren gehen darf. Die richtige Mischung davon macht sehr viel aus, ob wir am Thema dran bleiben und weiter kommen.
1. Steigere dein Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten am Berg.
2. Bilde dich z.B. in Orientierung, Wetterkunde, Erste Hilfe und Tourenplanung.
3. Übe Trittsicherheit und Körperhaltung im leichten Gelände.
4. Reduziere Stressfaktoren rund um die Wanderung und währenddessen.
5. Achte auf ein gutes Tempo und auf deine Atmung.
6. Iss und trink regelmäßig.
7. Plane großzügig, mit genügend Pausen und einem Plan B (am besten noch einem Plan C).
8. Lass dir gerade in Situationen der Angst bewusst Zeit und agiere langsam, bedacht.
9. Wäge das Risiko dann möglichst strukturiert und faktenbasiert ab. Vertraue im Zweifel aber auch auf dein Bauchgefühl. Triff eine bewusste Entscheidung.
10. Umkehren ist kein Zeichen von Schwäche oder Scheitern. Wenn du dir das heute nicht zutraust, dann zwinge dich nicht unnötig in Situationen. Sondern überlege dir, was beim nächsten Mal helfen könnte. Wichtig: es probiert zu haben, ist schon ein Erfolg!
11. Steigere dich behutsam. Du darfst dich ruhig fordern, aber nicht überfordern.
12. Wähle deine Tourenpartner mit Bedacht und/oder suche dir professionelle Begleitung.
Foto: Christian Zottl
Darüber hinaus gibt es unzählige weitere hilfreiche Möglichkeiten, die Teil des Mosaiks werden können, etwa über positive Psychologie, über Entspannungs-, Körper- und Atemübungen, über gezielte Fokussierung, Ablenkung, Rationalisierung, über Ursachenforschung, Übungsgruppen und Austausch mit anderen uvm.
Ziel bei meinen Höhen-Angst-Kursen oder -Coachings unter dem Motto “Berge deine Freiheit” ist nicht, dass meine Kunden danach keine Angst mehr haben, sondern dass sie einen funktionalen Umgang mit ihrer Angst erlernen, sicher unterwegs sind und Freude am Bergsteigen haben. Dass sie sich und ihrer Angst wieder vertrauen lernen. Dass sie gestärkt durch positive Erfahrungen und Erweiterung ihrer Fähigkeiten motiviert bleiben, an dem Thema dran zu bleiben. Auch wenn es manchmal Mühe und nicht immer nur Spaß macht. Dran bleiben, ist die Devise! Und wenn wir dann nach dem Kurs wieder stolz und froh unten im Tal stehen und auf Höhen und Tiefen und insbesondere die Erfolge zurückblicken, dann ist eines klar: Das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang!
Foto: privat
Christian Zottl (42) lebt mit seiner Familie in den Chiemgauer Alpen. Er hat Sozialpädagogik studiert und nach dem Studium in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der sozial-ökologischen Risikoforschung gearbeitet.
Seit 2012 ist er bei der Deutschen Angst-Hilfe e.V. angestellt und aktuell als Geschäftsführer tätig. Außerdem arbeitet er als selbstständiger Coach und Supervisor, sowie als UIMLA Bergwanderführer. In den letzten Jahren hat er sich auf das Thema Höhen-Angst spezialisiert und bietet u.a. für den DAV Summit Club Kurse an.