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Phänomenologie der Angst

Angsterleben und Angsterfahrung (Teil 3)

Die Angst hat in der Philosophie eine reichhaltige Tradition. Schon seit der Antike haben Menschen über ihr Seelenleben und ihre Emotionen nachgedacht. Die Angst spielte dabei immer eine besondere Rolle als eines der stärksten Gefühle, das großen Einfluss auf unser Denken und Handeln hat. In einer kleinen dreiteiligen Artikelreihe wollen wir euch verschiedene Facetten der Angst aus philosophischer Perspektive näherbringen.

Im dritten Teil geht es um das subjektive Angsterleben. Angst gibt es bei allen Menschen und sie wird weltweit ähnlich erlebt: als Engegefühl, als Hemmung und Ohnmacht. In der modernen Philosophie kommt der Angst eine Schlüsselposition für das Selbst zu. Speziell in der philosophischen und psychiatrischen Phänomenologie wird untersucht, wie der Mensch Angst erlebt und was sie mit ihm macht. 

18.08.2023 – Autorin: Tamara Niebler

Die Enge der Angst

Einige halten Angst für ein Grundgefühl, andere für eine allgemeine Stimmung. Wie auch immer man sie definieren will, bereits der Wortlaut gibt Hinweise auf das leib-seelische Erleben von Angst beim Menschen. Etymologisch ist der Begriff Angst verwandt mit:

  • Indogermanisch: *anghu = beengen, würgen
  • Altgriechisch: angchein = drosseln, die Kehle zuschnüren, Not
  • Lateinisch: angustus = Enge, Beklemmung, Schwierigkeiten

Egal ob altgriechisch, germanisch oder altindisch – alle Begriffe, die mit Angst in Zusammenhang stehen, drücken lautmalerisch mit dem gutturalen “ang” ein Abschnüren der Kehle aus. Es geht immer um ein Enge-Erlebnis, das sich in körperlichen Regungen ausdrückt.

Die leibliche Facette der Angst

Neben Heidegger, Sartre oder Kierkegaard (siehe Teil 1) werden auch neuere Philosophie-Konzepte herangezogen, um das Angsterleben zu verstehen. Meist ist das die “Neue Phänomenologie” von Hermann Schmitz. Dieser beschreibt Gefühle leiblich als Engung oder Weitung, als Spannung oder Schwellung.

Die Angst interpretiert Schmitz dementsprechend als gehemmten Fluchtdrang. Das Enge-Erlebnis in der Angst ist sozusagen die Enge des Leibes, in welchem die aufgestaute Energie um Weite ringt, die sie nicht erhält. Es geht um ein Nicht-loskommen von dem, was einschränkt (Körper, Katastrophengedanken).

Die Angst wird hier vor allem räumlich und leiblich verstanden. Doch an dieser Definition üben andere Phänomenologien Kritik – zu Recht: Angst zeigt sich nicht nur in körperlichen Regungen, sondern breitet sich auch atmosphärisch aus und verändert den Umraum. Darüber hinaus greift sie auch in den zeitlichen und zwischenmenschlichen Bezug ein und trifft damit das ganze Selbst- und Weltverhältnis des Menschen. Das soll im folgenden näher erläutert werden.

Komponenten der Angsterfahrung

Innerhalb der Phänomenologie finden sich verschiedene Ansätze, die nützlich sind, das subjektive Angsterleben besser zu verstehen. Existenzielle Aspekte der menschlichen Erfahrung werden dazu beleuchtet wie Affektivität, Lebenswirklichkeit, Leiblichkeit, Intersubjektivität, Zeitlichkeit – all diese Komponenten sind Gegenstand von phänomenologischen Untersuchungen und ergeben zusammengenommen ein Bild, das vielfältige Einblicke in die Verfassung von Menschen mit Angststörungen gewährt.

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Egal ob altgriechisch, germanisch oder altindisch – alle Begriffe, die mit Angst in Zusammenhang stehen, drücken lautmalerisch mit dem gutturalen “ang” ein Abschnüren der Kehle aus. Es geht immer um ein Enge-Erlebnis, das sich in körperlichen Regungen ausdrückt.

Lebenswelt und Raum – Verfremdung des Umraums

Als Lebenswelt wird diejenige Welt verstanden, die ein Mensch durch seine direkte Erfahrung wahrnimmt. Es ist die Welt, in der wir uns bewegen, handeln und existieren. Sie besteht jedoch nicht einfach aus einer Ansammlung von Objekten, sondern umfasst daneben auch unsere sozialen Beziehungen, unsere Kultur, unser Weltbild sowie die Bedeutungen, die wir all diesen Aspekten zuschreiben.

Die Veränderung der Lebenswelt ist ein zentraler Aspekt in vielen Selbstberichten von Angstpatienten. In der Angst erscheint uns die “Welt” bedrohlich und fremd. Der umliegende Raum wandelt sich im Selbsterleben zu einer bedrohlichen Kulisse voller Gefahren. Diese Veränderung der Welt- und Raumwahrnehmung wird erlebt als eine Trennung von Selbst und Umwelt.

Auffällig ist dies vor allem bei “räumlichen” Angststörungen. So zum Beispiel bei der Agoraphobie: Die gesamte Umgebung rückt in die Ferne und hinterlässt eine gähnende Weite, in welcher der Blick keinen Fixpunkt und der Körper keinen Halt findet. Anders bei der Klaustrophobie: Hier drängt der Umraum unmittelbar auf Betroffene ein, beengt den Körper und hemmt den Geist.

Körper haben, Leib sein

Eines der wichtigsten Konzepte in der Phänomenologie stellt das Verhältnis von Leib und Körper nach Maurice Merleau-Ponty dar. Menschen sind die einzigen Wesen, die ihren eigenen belebten Leib als ein Objekt, einen materiellen Körper, beobachten können. Gleichzeitig ist der Leib das Medium, über welches Menschen die Welt erfahren.

Bei psychischen Krankheiten führt dieses doppeldeutige Verhältnis zum eigenen Leib allerdings zu einer Fixierung auf den objektiven Körpers. Der Leib ist nicht mehr selbstverständliches Erlebnismedium, sondern erscheint als fremde Macht, die kontrolliert oder manipuliert werden muss.

In der Angst erstarrt der gelebte Leib zum Körper, der sich durch Missempfindungen und Symptome (Herzrasen, Schwitzen, Schwindel) bemerkbar macht. Typisch ist das für hypochondrische Ängste, aber auch andere, bei denen die Selbstbeobachtung eine große Rolle spielt.

Verlust der Zwischenmenschlichkeit

Phänomenologisch ist die Zwischenmenschlichkeit ein entscheidender Aspekt im Welt- und Selbstverhältnis des Menschen. Die prä-reflexive und empathische Verbindung zu den Mitmenschen ist untrennbar mit dem Realitätssinn einer Person verbunden. Menschen haben für andere Menschen eine Bedeutung.

In der Angst spüren jedoch viele Betroffene eine tiefgreifende Verunsicherung und Abgeschiedenheit von den Mitmenschen. Die natürliche Vertrautheit zu den anderen geht verloren. Und damit eine grundlegende Konstante von menschlichen Sinnbezügen.

Exemplarisch dafür ist die Soziale Phobie. Hier scheint das Beziehungsgefüge zu anderen Menschen auf das Äußerste bedroht. Betroffene verspüren die ständige Gefahr, isoliert oder verlassen, beschämt oder ausgestoßen zu werden. 

Vera Emilie a Bomstad/pexels.de

 

Ängste sind immer durch eine Entfremdung des Selbst- und Welterlebens gekennzeichnet. Etwas in uns ist plötzlich unserem Selbsterleben entzogen und tritt uns als Anderes gegenüber. 

Störung des Zeitsinns

Den Menschen zeichnet aus, dass sich sein Zeitgefühl in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft teilt. Phänomenologisch kann zwischen impliziter Zeit und expliziter Zeit unterschieden werden.

Die implizierte Zeit ist prä-reflexiv, wir leben sie selbstvergessen, sind im Moment. Anders als die explizite Zeit: sie wird erlebt. Das Zeitgefühl hat aber auch eine intersubjektive und räumliche Komponente: Menschen synchronisieren sich zeitlich – einerseits mit anderen Menschen (Bsp. Gespräche, Verabredungen), andererseits mit der Umwelt (Bsp. Wach-Schlaf-Rhythmus, Jahreszeiten).

Das Zeitgefühl ist also eine Dimension, die den Menschen mit den Mitmenschen und der Welt verbindet. Aber auch viele Risiken bereithält, wenn die Synchronisierung misslingt. Angst befällt oder packt plötzlich. Sie unterbricht damit jäh das Zeitgefühl und wirft den Menschen brutal auf die Gegenwart zurück. Ein Zukunftsbezug ist nur eingeschränkt möglich und extrem negativ.

Störungen des Zeitgefühls sind ein Merkmal von krankhaften Zukunftsängste und der Generalisierten Angststörung (GAS). Betroffene werden von imaginären Katastrophenszenarien und einem diffusen Angstgefühl geplagt.

Willens- und Handlungsfreiheit – Verlust an Möglichkeiten

Willens- und Handlungsfreiheit sind die Grundlage unserer existenziellen Freiheit. Sie sind unweigerlich mit uns als Subjekt verknüpft, mit unserer zeitlichen und emotionalen Verfassung sowie unserer Lebenswelt.

Sich entscheiden und handeln zu können, setzt aber auch voraus, einen Möglichkeitsraum wahrzunehmen, auf sich selbst zu vertrauen, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen und vieles mehr. Wie stark die Willens- und Handlungsfreiheit bei psychischen Krankheiten beeinflusst wird, zeigt sich u.a. in der Angst.

Viele Angstpatienten fühlen sich nicht frei und sind in ihrer Lebensführung stark beeinträchtigt. Vermeidungsverhalten ist ein typisches Beispiel für den Verlust an Möglichkeiten, den Betroffene erfahren. Auch Zwangsstörungen (als vermeintlicher  Bewältigungs- oder Schutzmechanismus) schränken Handlungsmöglichkeiten ein. 

Ausblick

Das Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst ist sehr empfindlich. Wie empfindlich, zeigt sich im sozialen Zusammenleben oder eben bei psychischen Krankheiten. Ängste sind immer durch eine Entfremdung des Selbst- und Welterlebens gekennzeichnet.

Etwas in uns selbst ist plötzlich unserem Selbsterleben entzogen und tritt uns als Anderes gegenüber. Doch egal, was wir auch versuchen, dieses Andere kann die Kontrolle an sich reißen oder Teile von uns beherrschen.

Gleichzeitig gibt uns die Phänomenologie nicht nur ein prägnantes Bild davon, was es für Menschen bedeutet, mit pathologischen Ängsten zu leben – sie zeigt auch Wege der Behandlung auf, die gezielt auf die veränderte Erlebniswelt eingehen. Insbesondere humanistisch-existenzielle Methoden sind hier zu nennen, etwa Logotherapie und Existenzanalyse (Viktor Frankl), Daseinsanalyse (Ludwig Binswanger), gestalttheoretische Ansätze, multimodale Methoden uvm.

Quellen:
C. Demmerling/H. Ladweer: Angst. In: Philosophie der Gefühle. Metzler 2007
Metzler Lexikon der Philosophie: Angst. Metzler 2008
Duden Herkunftswörterbuch, Brockhaus 2006