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Achtsames Selbstmitgefühl
– was ist das?

Ein neues Konzept in der Behandlung von Angststörungen

Wie würdest du einen Freund/eine Freundin behandeln, der/die gerade eine schwierige Situation erlebt, z.B. sich unzulänglich fühlt? Und wie würdest du im Vergleich dir selber gegenüber auftreten? Wahrscheinlich anders.

Autorin: Elisabeth Reisenzein-Hirsch

Der innere Kritiker

In meiner klinischen Tätigkeit habe ich immer wieder mit Menschen zu tun, die eine stark selbstkritische Haltung aufweisen und sich schon für kleine Fehler und Unzulänglichkeiten selbst beschimpfen, abwerten und mit sich hadern. Bei Menschen mit sozialer Angststörung geht es meistens darum, dass ihre selbstkritische innere Stimme ihnen sagt, „etwas falsch gemacht zu haben“, „nicht zu genügen“, „sich zu blamieren“, von anderen für dieses angebliche „Fehlverhalten“ kritisiert, ausgelacht und abgelehnt zu werden. Dies führt zu starker Angst vor sozialen Situationen, Vermeidungsverhalten, Minderwertigkeitsgefühlen und nicht selten Gefühlen der Scham („Ich bin dumm, uninteressant, ich nerve die anderen“). Studien zeigen, dass Menschen mit sozialer Angststörung ein besonders hohes Ausmaß an Selbstkritik und Angst vor negativer (aber auch positiver) Bewertung aufweisen. Und sie haben ein geringeres Ausmaß an Selbstmitgefühl.

„Selbstmitgefühl ist ein Gegenmittel zu Scham“, sagt Christopher Germer, klinischer Psychologe und Lehrbeauftragter an der Harvard Medical School. Er hat sich intensiv mit dem Thema Selbstmitgefühl beschäftigt und gemeinsam mit Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der Universität von Texas in Austin und Pionierin bei der wissenschaftlichen Erforschung von Selbstmitgefühl, den achtwöchigen Kurs „MSC“ entwickelt. MSC steht für „Mindful self compassion“, übersetzt „Achtsames Selbstmitgefühl.“ Germer sagt, er habe seine eigene Redeangst mit Hilfe von Achtsamem Selbstmitgefühl in den Griff bekommen.

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SELBSTMITGEFÜHL

EIN MITTEL GEGEN ÜBERTRIEBENE SCHAM

Sei freundlich zu dir selbst

Was mit achtsamem Selbstmitgefühl gemeint ist, kann man sich gut vor Augen führen, wenn man sich vorstellt, wie man einen Freund oder eine Freundin behandeln würde, der/die gerade eine schwierige Situation erlebt (z.B. eine leidvolle Erfahrung macht, sich unzulänglich fühlt). Dabei stellt man sich nicht nur vor, was man zu dieser Person sagen würde, sondern auch in welchem Ton, mit welcher Haltung man dies machen würde. Anschließend stellt man sich zum Vergleich vor, wie man sich selbst gegenüber auftreten würde, wenn man dieselbe schwierige Situation erlebt (leidvolle Erfahrung, Gefühl der Unzulänglichkeit).

Die meisten Menschen (in einer Studie von Kristin Neff fast 80%) gehen mit ihren Freunden in dieser Übung wesentlich mitfühlender um als mit sich selbst (16% behandeln sich selbst gleich wie andere, 6% gehen mit sich selbst mitfühlender als mit anderen um). Mit sich selbst kritisch umzugehen, scheint eine Volkskrankheit zu sein, wie der Psychologe und Psychotherapeut Andreas Knuf in seinem Buch „Sei nicht so hart zu Dir selbst“ treffend beschreibt. Einfach könnte man Selbstmitgefühl also wie folgt beschreiben: Ich gehe mit mir so freundlich und wohlwollend um wie mit anderen mir wichtigen Personen.

Laut Kristin Neff besteht Selbstmitgefühl aus den folgenden drei Komponenten:

SELBSTFREUNDLICHKEIT:
Sich selbst mit Güte, Fürsorge, Verständnis, Unterstützung begegnen mit der Motivation, menschliches Leiden zu lindern (im Gegensatz zu Unfreundlichkeit und harscher Selbstkritik). Dies beinhaltet, uns selbst aktiv zu beruhigen und zu trösten, wenn wir Schmerz erleiden.

GEMEINSAMES MENSCHSEIN:
Die eigenen Erfahrungen als Teil der größeren menschlichen Erfahrung sehen. Das heißt, niemand ist perfekt, alle haben Unzulänglichkeiten und erleben schwierige Situationen (im Gegensatz zu Isolierung: „nur bei mir ist das so, nur ich kann das nicht …“)

ACHTSAMKEIT:
Die leidvollen Gedanken und Gefühle in achtsamem Gewahrsein halten. Achtsamkeit hilft uns, Situationen des Leidens bewusst wahrzunehmen und darauf mit Mitgefühl zu reagieren (anstatt Gefühle und Gedanken zu unterdrücken, zu vermeiden oder von ihnen mitgerissen zu werden).

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Studien zeigen die Wirksamkeit des Konzepts

Das Konzept des Selbstmitgefühls ist noch relativ neu. Seit sich Kristin Neff damit beschäftigt hat, ist die Zahl der Studien jedoch rasant angestiegen. In diesen hat sich gezeigt, dass Selbstmitgefühl positive Zustände von Glücklichsein, Lebenszufriedenheit und Optimismus erhöht, zu einer verbesserten körperlichen Gesundheit führt sowie Zustände von Depression, Angst, Stress und Scham verringert.

Der achtwöchige MSC-Kurs richtet sich vorwiegend an jedermann und betont, dass es sich um ein Trainingsprogramm und nicht um ein therapeutisches Verfahren handelt. Achtsamkeitsbasierte Verfahren haben sich aber auch bei klinischen Stichproben als hilfreich erwiesen, wobei Adaptierungen vorgenommen werden. Ein wichtiger Pionier mitgefühlsbasierter Ansätze in der Therapie ist Paul Gilbert von der Universität Derby. Sein Ansatz der “Compassion focused therapy” (CFT), übersetzt “Mitgefühlsfokussierter Therapie”, der eine von Mitgefühl getragene Beziehung zu sich selbst fördert, hat sich in einer Reihe von Studien als hilfreich erwiesen bei Störungsbildern wie Depression, Angststörungen, Essstörungen, Trauma u.a.

In meiner eigenen klinischen Erfahrung erlebe ich den Selbstmitgefühls-Ansatz als sehr unterstützend und bereichernd. Zum einen stärkt die eigene Praxis von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl den Therapeuten in seiner achtsamen und mitfühlenden Haltung gegenüber sich selbst und den Patienten. Zum anderen wird das Konzept von viele Patienten mit großem Interesse, Wertschätzung und viel Dankbarkeit angenommen. 

Und die gute Nachricht ist: Achtsames Selbstmitgefühl kann man trainieren. Tägliche kleine Meditationsübungen helfen dabei, mehr Selbstmitgefühl zu entwickeln. Die Schulung von Achtsamkeit (als Fähigkeit, mit dem gegenwärtigen Moment bewusst und ohne zu werten in Kontakt zu sein) ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Die Stärkung/Entwicklung von Selbstmitgefühl ist ein längerer Weg, der Geduld benötigt, da es um das Annehmen aller Gefühle geht, auch schwieriger, unangenehmer oder schmerzlicher. Die einzelnen Schritte und Meditationen aufzuzählen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Insgesamt gilt für den therapeutischen Kontext, dass man mitgefühlsorientierte Ansätze gut mit anderen Psychotherapien wie zum Beispiel der kognitiven Verhaltenstherapie verbinden kann.