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Emetophobie – die Angst vor dem Erbrechen

Eine bislang wenig beachtete Erkrankung mit weitreichenden Folgen

Jeder weiß, dass es übertriebene Ängste vor Höhe, Spritzen oder etwa Spinnen gibt. Aber wie sieht es aus mit der Angst vor dem Erbrechen? Tatsächlich leiden nicht wenige Menschen unter einer panischen Angst vor dieser an sich normalen und biologisch sinnvollen Schutzreaktion des Körpers. Und das oft schon seit ihrer Kindheit.

Januar 2022- Autor: Michael Metzner

Symptome und Beeinträchtigungen

Die meisten von Emetophobie Betroffenen haben Angst davor, sich übergeben zu müssen – ein für sie schreckliches Ereignis. Doch manche schreckt es genauso oder sogar noch mehr, dass andere in ihrer Anwesenheit erbrechen könnten – kranke Menschen, Betrunkene oder kleine Kinder. Diese Befürchtungen können so stark werden, dass Betroffene ihr ganzes Leben umorganisieren. Nicht selten beginnen sie damit, ihren Speiseplan zunehmend einzuschränken: Nahrungsmittel, die sie nicht kennen oder als “suspekt” einstufen (z.B. fremd zubereitetes Essen, Meeresfrüchte, Eier etc.), werden vermieden und Lebensmittel ausgespart, deren Mindesthaltbarkeitsdatum bald abläuft bzw. von denen ihnen selbst oder anderen vielleicht schon einmal übel wurde. Auch die Menge an Lebensmitteln wird reduziert. Aus Angst vor Völlegefühlen und Übelkeit essen viele der Betroffenen so wenig, dass sie schließlich ins Untergewicht rutschen.

Darüber hinaus meiden diese Menschen Feierlichkeiten, auf denen Alkohol getrunken wird, Reisen mit dem Auto oder Schiff, weil ihnen da übel werden könnte, sowie wichtige medizinische Untersuchungen und Eingriffe. Jeder gewöhnliche Infekt versetzt sie in Angst und Schrecken. Und manche Frauen mit dieser Erkrankung verabschieden sich von ihrem Kinderwunsch oder beenden sogar eine Schwangerschaft, da ihnen die Angst vor Übelkeit und Erbrechen in den ersten Schwangerschaftsmonaten unüberwindbar scheint.

Diagnose – Eine noch kaum beachtete Angststörung

Trotz der massiven Einschränkungen weiß die Mehrheit der Betroffenen lange Zeit nicht, dass ihr Problem einen Namen hat und gut zu behandeln ist. Tatsächlich plagen sich diese armen Seelen oft jahrelang ohne richtige Unterstützung herum, suchen hier ein Hausmittelchen gegen quälende Dauerübelkeit und konsultieren dort den Arzt oder Heilpraktiker zur Untersuchung ihres “komischen, irritablen Magens”. Sie leiden jedoch weder an einer ernsten körperlichen Erkrankung noch an einer Essstörung, sondern an der Emetophobie.

Die Emetophobie ist eine Angststörung, eine sogenannte spezifische Phobie, die im ICD-10 – dem Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – ein Außenseiterdasein in der Restkategorie der “anderen Typen” fristet. Aus diesem Grunde erhalten die Erkrankten auch von professionellen Helfern teilweise nicht gleich die richtige Diagnose und werden häufig auf Essstörung (v.a. Magersucht) hin behandelt. Kein Wunder, dass sie sich dabei unverstanden fühlen.

Der Leidensweg vieler Betroffener beginnt früh: Das Durchschnittsalter liegt bei zehn Jahren. Mädchen und Frauen sind mit 83% überproportional vertreten. Die Anzahl der an einer Emetophobie erkrankten Menschen entspricht mit ca. einer von 1000 Personen derjenigen, die 2009 mit HIV infiziert waren.

Entstehung der Emetophobie

Meistens entsteht die krankhafte Angst vor dem Erbrechen durch das Zusammenwirken mehrerer unterschiedlicher Faktoren. Das folgende Modell (Metzner 2020, S. 50) integriert verschiedene Erklärungsansätze zur Entstehung der Emetophobie. Dabei zeigt die horizontale Achse von links nach rechts den Aufschaukelungsprozess der Angst in einer einzelnen gefürchteten Situation (horizontale Verhaltensanalyse auf der Mikroebene), die vertikale Achse beschreibt von oben nach unten die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Störung im Lebensverlauf (vertikale Verhaltensanalyse auf der Makroebene).

Störungsmodell der Emetophobie

Quelle: Metzner 2020, S.50

Der Aufschaukelungsprozess

Trigger für einen typischen Angstkreislauf können Situationen sein, die mit eigenem oder fremdem Erbrechen zu tun haben (z.B. Erbrochenes auf einem Gehweg), aber auch Signale aus dem Körperinneren (z.B. ein flauer Magen) oder einfach nur Gedanken (z.B. Erinnerung an Übelkeit beim Besuch eines Restaurants). Ist der Kreislauf einmal in Gang gesetzt, kommt es zu gastrointestinalen Körperreaktionen wie Übelkeit oder Enge im Hals, welche im Sinne des emotionsgeleiteten Katastrophendenkens (“Mir wird übel – bestimmt muss ich mich gleich übergeben!”) als Zeichen bevorstehenden Erbrechens gedeutet werden. Erbrechen aber wird als extrem bedrohlich und schrecklich bewertet, was wiederum Angst auslöst und zur Verstärkung der Übelkeit und weiteren Magen-Darm-Reaktionen führt. So schaukelt sich der Teufelskreis immer weiter auf, bis er schließlich durch Flucht oder Vermeidung beendet wird und Erleichterung einsetzt. Die Reduktion von Angst wirkt als negative Verstärkung (Belohnung durch Wegfallen eines unangenehmen Zustandes) zum einen aufrechterhaltend für das Vermeidungs- und Fluchtverhalten, zum anderen dient sie als indirekte Bestätigung, dass es zu einer Katastrophe gekommen wäre, hätte man die Situation nicht verlassen.

Buch des Autors

Michael Stefan Metzner:
Mein Köpfchen sagt: "Ich muss erbrechen!"
Mit Achtsamkeit aus der Emetophobie

Rhombos Verlag Berlin 2020

Das Buch ist als Leitfaden für Betroffene wie für Therapeuten gedacht, als ermutigendes "Mitlese- und Arbeitsbuch", das über die Symptomatik der Emetophobie aufklärt und Wege vermittelt, die Angst zu überwinden. Die Methodik basiert auf einer zeitgemäßen kognitiven Verhaltenstherapie gepaart mit einer Geisteshaltung von Achtsamkeit.

 

Entstehung im Lebensverlauf

In der lebensgeschichtlichen, vertikalen Betrachtung kann festgehalten werden, dass Personen mit hoher Ängstlichkeit und Ekelsensitivität sowie einer ausgeprägten Neigung, Angst zu somatisieren (mit Übelkeit, Bauchweh, Halsenge etc.), eine erhöhte Vulnerabilität für die Emetophobie aufweisen. Insbesondere dann, wenn sie in ihrer Vergangenheit negative Erlebnisse mit eigenem oder fremdem Erbrechen gemacht haben. Kommen zu diesen prädisponierenden Faktoren noch allgemeine Lebensbelastungen (Schulwechsel, Umzug, Trennung etc.) sowie spezifische, mit Erbrechen verbundene Auslöser hinzu (Magen-Darm-Grippe mit heftigem Erbrechen), kann ein emetophobisches Reaktionsmuster losgetreten werden.

Aufrechterhalten und verfestigt wird das emetophobische Reaktionsmuster durch Vermeidungs- und Fluchtverhalten. Weil neue, korrigierende Erfahrungen ausbleiben, wird die Gewöhnung (Habituation) an äußere (situative) und innere (gastrointestinale) Angst-Trigger konsequent verhindert und das um jeden Preis vermiedene Erbrechen somit niemals zu einer gewöhnlichen (wenn auch unangenehmen) Alltagserfahrung. Ferner können Fehlannahmen bzgl. möglicher Auslöser für Übelkeit und Erbrechen aus Mangel an Gegenbeweisen nicht widerlegt werden. Nach akuten Episoden der Angstentgleisung verbleibt die dauerhafte Sorge bzgl. möglichen Erbrechens in der Zukunft – ähnlich wie bei einer Panikstörung im Anschluss an die erste Panikattacke. Das hat zur Folge, dass die Betroffenen übermäßig mit eigenen Körperreaktionen befasst sind, um zu überprüfen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist oder nicht. Zusammen begünstigen diese aufrechterhaltenden Bedingungen die Tendenz, mehr und mehr “Gefahrensituationen” zu vermeiden.

Therapie: Unterstützende Methoden

Um solche Ängste zu überwinden, beschreitet man in der Therapie nun den gegenteiligen Weg und setzt sich schrittweise den gefürchteten Situationen aus. Das nennt sich Exposition. Expositionstherapie wird heute mit einer ganzen Reihe weiterer Methoden ergänzt wie MBSR, ACT oder Biofeedback.

MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction)
Während einer Exposition ist eine innere Haltung von Achtsamkeit besonders wichtig, um die Angst nicht nur stumpf auszuhalten im Sinne von “Augen zu und durch!”, sondern ganz offen alle Sinneseindrücke, Gefühle, Gedanken und Empfindungen wahrzunehmen und zuzulassen, die sich im gegenwärtigen Moment zeigen. Diese Geisteshaltung kann durch altbewährte Meditationsübungen (z.B. Sitzmeditation, Bodyscan, Gehmeditation und Yoga) eingeübt werden, die mittlerweile Bestandteil gut erforschter und etablierter Achtsamkeitsprogramme sind, wie etwa der Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) von Kabat-Zinn.

ACT (Akzeptanz- und Commitment-Therapie)
Auch wenn es aus wissenschaftlicher Sicht weder nötig noch unbedingt sinnvoll ist, das eigene Erbrechen im Rahmen der Expositionsbehandlung willentlich herbeizuführen, so kann der Weg zur Genesung bisweilen noch immer sehr herausfordernd und kräftezehrend sein. Deshalb ist es besonders wichtig, sich an den eigenen Werten zu orientieren, d.h. bewusst zu machen, was einem wichtig ist im Leben und wofür es sich lohnt, diese Ängste in Kauf zu nehmen: um etwa Verbundenheit mit Freundinnen beim gemeinsamen Kochen oder Essengehen zu erleben; die Welt auf Reisen – auch mit Fähre oder Flugzeug – zu erobern oder für die Gründung einer Familie etwaige Schwangerschaftsbeschwerden wie Übelkeit in Kauf zu nehmen. Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist ein zeitgemäßer psychotherapeutischer Ansatz, der seelisches Wohlergehen mit einer solchen Ausrichtung auf persönliche Werte in Verbindung bringt.

Ergänzende Methoden zur Reduktion von Symptomen

MBSR

Methode der Achtsamkeit: bewusste Wahrnehmung aller Körperempfindungen und Gefühle ohne negative Bewertung 

ACT

Ausrichtung des eigenen Handelns auf selbstgesetzte Werte statt auf Krankheitssymptome 

Biofeedback

computergestützte Rückmeldung von Atmung und Puls zur besseren Eigenregulierung dieser Körpervorgänge

Foto: Unsplash.com / Laurenz Kleinheider

Biofeedback
Eine Besonderheit der Emetophobie ist die Dauerübelkeit, unter der die meisten Betroffenen leiden, und die entsprechend dem oben ausgeführten Erklärungsmodell selbst wiederum zum Auslöser von Befürchtungen wird. Damit umzugehen ist wirklich nicht einfach. Helfen kann hier zum einen ein klares Verständnis für körperliche Vorgänge, da Angst durch Fehlvorstellungen geschürt wird. Wissen wir, dass unser Verdauungssystem bei Aufregung herunterfährt und dementsprechend einen flauen Magen und ggf. Durchfall hervorrufen kann, können wir solche Symptome besser einordnen und akzeptieren, ohne gleich auf Habachtstellung zu gehen. Darüber hinaus fördert eine frei fließende Zwerchfellatmung die Tätigkeit unseres Verdauungssystems und trägt somit zu einem guten Bauchgefühl bei. Viele unter Emetophobie leidende Patient*innen zeigen in der Tat ein sehr schnelles, flaches Atemmuster, welches Anspannung nährt und viszerale Beschwerden wie Bauchschmerzen und Übelkeit begünstigt. Als besonders hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang das Biofeedback: Durch computergestützte Messung und Rückmeldung von Atmung und Puls können Patient*innen lernen, mehr Gespür für Körperreaktionen zu bekommen und ihre oftmals flache Brustatmung mit angespanntem Bauch in eine tiefe Zwerchfellatmung zu verwandeln, was letztlich zu einer Linderung von gastrointestinalen Beschwerden führt.

Therapie: Bearbeitung von Einstellungen und Persönlichkeitszügen

Um wirklich nachhaltigen Erfolg bei der Überwindung einer Angststörung wie der Emetophobie zu erzielen, ist die Bearbeitung wichtiger Hintergrundthemen (z.B. Einstellungen, Persönlichkeitszüge etc.), die aus der Lebensgeschichte des einzelnen Menschen entstanden sind, neben der Symptomarbeit unerlässlich. Sonst bleibt die Therapie oberflächlich und neu erarbeitete Freiheiten gehen bald wieder verloren. Immerhin betrifft die Erkrankung den ganzen Menschen in seinem jeweiligen sozialen Kontext und übernimmt damit unbemerkt und ungewollt auch immer zwischenmenschliche Funktionen.

Eine plötzlich auftretende Übelkeit samt der daraus resultierenden Panikattacke kann z.B. die Wut einer jungen Frau überdecken, die vielleicht nie gelernt hat, sich abzugrenzen und ihre Bedürfnisse offensiv einzufordern, wenn ihr Partner mal wieder zu spät zum Rendezvous kommt. Oder einen Ausweg eröffnen, um der nervigen Studentenparty mit ein paar sehr aufdringlichen Kommilitonen zu entgehen. Diese Funktionen sind angesichts des augenfälligen Leidensdrucks, den eine Angststörung erzeugt, nicht immer leicht zu erkennen, und es bedarf der gemeinsamen Detektivarbeit von Patient*in und Therapeut*in, um sie herauszuarbeiten. Erst dann können hilfreichere Strategien zum Umgang mit eigenen Bedürfnissen als das Symptom gefunden und die Erkrankung dauerhaft verabschiedet werden.

Zunehmende Bekanntheit der Emetophobie

In den letzten ein bis zwei Jahren hat die Anzahl an Erfahrungsberichten von jungen Menschen, die auf Youtube.de oder vergleichbaren Plattformen über ihre Angst vor dem Erbrechen berichten, deutlich zugenommen. Darüber hinaus haben David Veale, Professor am Institut für Psychiatrie, Psychologie und Neurowissenschaft des King’s College in London, und seine Kolleg*innen die weltweit erste Wohltätigkeitsorganisation für Emetophobie gegründet, um über die Erkrankung aufzuklären, Betroffene zu unterstützen und Hoffnung zu vermitteln: EmetAction (http://www.emetaction.org). Diese Entwicklung lässt hoffen, dass junge Mädchen und Buben zukünftig schneller die Hilfe bekommen, die sie benötigen, um ein glückliches und erfülltes Leben ohne die enorm einschränkende Angst vor dem Erbrechen zu führen.