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Die ständige Angst vor der “Katastrophe”

Dagmar erzählt von ihrer Angst, dass irgendetwas Schlimmes passieren könnte

In unserer Rubrik “Erfahrungsberichte” erzählen Betroffene aus ihrem Leben mit Angst und Panik. Es sind persönliche Geschichten  – von Menschen und ihrem Weg durch die Angst. 

Autorin: Dagmar

Angst vor Ärzten und Krankheiten

Eine Angst, die bei mir besonders stark ausgeprägt ist, ist die Angst vor Ärzten. Es geht schon damit los, dass ich versuche, Unregelmäßigkeiten des Körpers möglichst gar nicht wahrzunehmen. Ich hoffe, dass sie von selbst wieder verschwinden, was oft auch gelingt. Andererseits mache ich mir schnell große Sorgen, wenn ich irgendetwas an mir bemerke, was ich nicht gleich einordnen kann. Ist schließlich ein Arztbesuch nicht länger hinauszuschieben, habe ich schon Tage davor ein Gefühl der Unruhe und Angst.

Was ich dabei wirklich befürchte? Da ist einmal die Angst vor den Schmerzen – aber das allein ist es nicht. Es ist die Angst vor einer Krankheitsdiagnose, die Angst, dass irgendetwas Schlimmes sein könnte. Mir ist vom Kopf her zwar klar, dass nichts für eine Erkrankung spricht, dass es auch in der Familie keine erblichen Vorbelastungen gibt. Real besteht natürlich immer und für jeden das Risiko, eine negative Diagnose zu erhalten. Aber im Unterschied zu anderen Leuten habe ich dieses „Restrisiko“ nicht im Griff. Es setzt sich eine Gedankenspirale in Gang, die ich nicht mehr abstellen kann, die eine Eigendynamik entwickelt und sich bis zu Panikattacken und Todesängste steigert. Ich kann dann nicht mehr klar denken und habe nur noch den „worst case“ vor Augen.

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Im Unterschied zu anderen Menschen habe ich das "Restrisiko" nicht im Griff. Es setzt eine Gedankenspirale in Gang, die ich nicht mehr abstellen kann. 

Von den Ängsten meiner Mutter geprägt

Dabei bin ich mir durchaus bewusst, wo diese übertriebenen Ängste herkommen: nämlich von meiner Mutter. Sie war selbst ein überängstlicher Mensch, jedes Aufschürfen der Haut war gleich eine Katastrophe, hatte das Potenzial für schlimmste Infektionen wie Wundstarrkrampf oder gar Tollwut. Es gab da besonders ein Ereignis, das sich mir stark eingeprägt hat, eine Krankheit, die für mich traumatisch verlaufen ist, weil meine Mutter so überreagiert hat. Sie hat mich nicht etwa beruhigt, hat mir nicht zu verstehen gegeben, dass Kranksein normal ist und ich schon wieder gesund werde, sondern im Gegenteil hat sie alles noch dramatisiert. Und als Einzelkind ohne Geschwister habe ich ihre Ängstlichkeit mit voller Wucht abbekommen.

Bis heute konnte ich diese von meiner Mutter übernommenen Ängste nie ganz abstellen. Einmal hatte ich eine Operation am Knie und obwohl der Eingriff erfolgreich verlief, obwohl von den Röntgenbildern her alles in Ordnung war und ich eigentlich schmerzfrei hätte sein müssen, schmerzte das Knie noch lange Zeit danach. Das lag vermutlich an meiner inneren Anspannung und Angst, es könnten doch noch Komplikationen auftreten, die den Heilungsprozess dreimal so lange hinzogen wie normal.

Die Angst tritt aber nicht nur in dieser konkreten Form auf, als Angst vor Schmerzen und Krankheit. Sie durchzieht eigentlich mein ganzes Leben. Es ist eine Art Grundangst, dass jeden Moment irgendetwas Schreckliches passieren könnte. Etwas, das sich nicht nur auf den Körper bezieht, sondern eine seelische Verletzung, also eine Angst davor, dass mich jemand ablehnt, verurteilt, mich nicht so akzeptiert, wie ich bin.

Auch diese Angst kommt von meiner Mutter. Sie hat sich immer völlig unberechenbar verhalten, als Kind wusste ich nie, in welcher Stimmung sie im nächsten Moment sein wird, ob sie freundlich ist und mir etwas Gutes tut oder ob sie mich anschreit. Sie hat auch damit gedroht, wegzugehen und mich zurückzulassen. Immer hat sie mir das Gefühl gegeben, dass ich nicht richtig bin, hat mir ständig Vorwürfe gemacht: Ich hätte zu wenig Zeit für sie, ich würde mich nicht genug in das Leben in unserem Ort integrieren, mich zu wenig bei der Arbeit engagieren. Egal, um was es ging, ich habe in ihren Augen alles falsch gemacht.

Mir fehlt das Grundvertrauen ins Leben

Da ihre Reaktionen so völlig willkürlich waren, ich ihr Verhalten durch eigene Handlungen nicht beeinflussen konnte, entwickelte sich bei mir keine Grundsicherheit, kein Grundvertrauen in Beziehungen zu anderen Menschen, sondern im Gegenteil eine dauernde Anspannung gegenüber der Umwelt. Bis heute kann ich nicht damit umgehen, wenn jemand laut wird, seinen Ärger zeigt. Ich kann mich gegen solche Emotionen nicht zur Wehr setzen, sondern verfalle in eine Art Erstarrung und breche den Kontakt ab. So wie in der Kindheit die einzige Reaktion auf die unberechenbaren Ausbrüche meiner Mutter eine innere Erstarrung war, ein über sich ergehen lassen. Was soll man als Kind auch anderes machen?

Die ständige Grundangst vor der „Katastrophe“ zeigt sich so einmal als andauernde Anspannung, die im Körper gespeichert ist. Manchmal wache ich am Morgen mit völlig verkrampften Händen auf, ohne dass es einen speziellen Anlass geben würde. Gelegentlich steigert sich die Anspannung zu panischer Angst mit wildem Herzschlag.

Und zum anderen drückt sich die Grundangst als soziale Ängstlichkeit aus. Aber nicht in dem Sinne, dass ich mich frage, ob der andere mich mag, so wie ich bin – denn ich verhalte mich gar nicht so, wie ich bin. Statt dessen verhalte ich mich so, wie ich denke, dass ich sein muss, damit der andere mich mag. Ich versuchte ständig zu erspüren, was mein Gegenüber von mir erwartet. Erwartet er eine lustige Frau, bin ich lustig, erwartet er eine nachdenkliche, bin ich nachdenklich. Ich vermeide von Anfang an bestimmte Themen oder Vorschläge, von denen ich vermute, sie kommen nicht an. Ich passe mich also vollständig dem anderen an, nehme mich komplett zurück. 

Ich traue mich nicht, meine Gefühle nach außen zu zeigen

Es fällt mir unglaublich schwer, mich zu zeigen, etwas von mir zu erzählen, obwohl ich zugleich nur darauf warte, dass jemand danach fragt. Ich kann auch ganz schwer negative Gefühle äußern wie Wut oder Traurigkeit. Gerade Menschen gegenüber, die mir besonders nahe stehen, spiele ich immer die starke und leistungsfähige Frau, die alles schafft.

Als meine Ehe geschieden wurde oder als mein Vater starb, habe ich mir nichts anmerken lassen. Ich traue mich nicht, solche Gefühle nach außen zu zeigen, aus Angst, die anderen damit zu belasten. Ja nicht mal vor mir selber kann ich diese Gefühle zeigen, ich gestehe sie mir nicht ein, dränge sie weg. Aber vielleicht spürt man die Gefühle selber nicht, weil man sich nicht traut, sie zu zeigen. Spüre ich sie nicht, weil ich sie nicht zeigen darf? Weil ich sie mir unbewusst selbst verbiete? So wie ich als Kind Gefühle nicht zeigen durfte aus Angst davor, wie die Mutter darauf reagiert?

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HEUTE WEIß ICH,

ANGST IST ZWAR EIN

STARKES GEFÜHL,

ABER EBEN NUR EIN GEFÜHL

UND ES GEHÖRT

EIGENTLICH IN MEINE KINDHEIT.

Das sind Fragen, an denen ich im Moment arbeite und dabei auch durchaus Fortschritte mache. Es handelt sich bei dieser Arbeit an mir selbst nicht um eine Psychotherapie im herkömmlichen Sinne. Nicht dass ich diese ablehne – ich habe jahrelang Verhaltenstherapie gemacht und sie hat auch durchaus geholfen. Zur Zeit jedoch mache ich eine Gewahrsamkeitsmeditation, die ich in Meditationskursen gelernt habe und die ich seit einiger Zeit jeden Tag morgens für mich allein eine halbe Stunde lang praktiziere. Dabei versucht man, seine Gedanken zu beobachten und alle Gedanken, die auftauchen, anzunehmen. Durch diese Meditation habe ich inzwischen gelernt, dass Angst zwar ein starkes Gefühl ist, aber eben nur ein Gefühl. Mir ist klar geworden, dass die Angst etwas mit meiner Vergangenheit zu tun hat, dass also die Angst, die ich heute spüre, in die Vergangenheit gehört, in die Kindheit.

Wenn ich heute Angst habe, dann ist es das mein inneres Kind, das Angst hat. Hat man das einmal erkannt, dann entdeckt man neben dem Kind auch den Erwachsenen, der dagegen redet, der beruhigt, der eine realistische Einschätzung abgibt. Dieser Erwachsene ist wie eine zweite Stimme, die sagt, alles wird gut. Die Angst ist das kleine Kind, das angstvolle Situationen erleben musste, aber das Ich ist mehr als nur dieses hilflos ausgelieferte Kind.

Diese Arbeit an sich selbst ist ungeheuer schwierig, sie erfordert ständiges Üben, besonders in Situationen, wenn es einem schlecht geht, wenn man sich selbst beschimpft, sich selbst für nicht gut genug hält. Diese Arbeit ist aber auch ungeheuer spannend. Und derzeit ist mir die innere Entwicklung wichtiger als alles andere, wichtiger als jede „äußere“ Entwicklung im Beruf und sogar in der  Partnerschaft.