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Ich saß im Bus fest – und die Angst explodierte

Tim berichtet von seinen Panikattacken, die er bereits als Jugendlicher auf dem Schulweg erlebte

In unserer Rubrik “Erfahrungsberichte” erzählen Betroffene aus ihrem Leben mit Angst und Panik. Es sind persönliche Geschichten – von Menschen und ihrem Weg durch die Angst.  

Autor: Tim

Plötzlich bekam ich keine Luft mehr

Meine erste Panikattacke hatte ich wohl im Alter von 13 oder 14 Jahren. Ich bin nach der Schule, wie immer, mit dem Bus nach Hause gefahren, von der Stadt zurück in mein Heimatdorf. Mit meinen Freunden saß ich auf einem der coolen Vierersitze und es war eigentlich alles wie immer. Bis wir auf die Autobahn kamen. Ich weiß gar nicht, ob die Autobahn der Auslöser war oder was plötzlich mit mir los war. Ich saß ganz normal auf meinem Sitz und habe mich mit meinen Freunden unterhalten und Kaugummi gekaut. Dann auf einmal hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und dachte, jetzt ist es aus mit mir. Ich habe schnell meine Flasche herausgeholt und etwas getrunken. Nach diesem lebensbejahenden Schluck ging es wieder einigermaßen, und mitbekommen hat wohl auch keiner was.

So ist das noch heute: Eigentlich merkt nie jemand, wie ich mich gerade in angstauslösenden Situationen fühle. Höchstens mir ganz nahestehende Personen können die Zeichen deuten. Leider ist das etwas, was man ganz schnell lernt: Sich bloß nichts anmerken lassen. Aber das ist ein großer Fehler. Gefühle zu unterdrücken ist wie verzweifelt die Hand auf ein Loch in der Wasserleitung zu pressen. Irgendwann kommt doch alles raus, und dann viel kraftvoller.

Erzählt habe ich zu Hause nichts von der Situation, sondern mich erst mal aufs Bett gelegt und mich erholt. Gefühlt bin ich einen Marathon gelaufen, praktisch waren es aber nur wenige Minuten Angst. Also verdrängen, abhaken und dankbar sein dafür, dass man die Fahrt überlebt hat. Und in dem Alter ist man wohl sowieso zu jung dafür, das alles richtig zu verstehen. Heute würde ich das wohl anders lösen: „Mutti, hör mal, ich hatte da diese furchtbare Angst und wir müssen was dagegen tun!“ Hab ich aber nicht gemacht, und deshalb kam alles, wie es kommen musste.

Mein neuer Begleiter war also in mein Leben getreten. Und getreten meine ich wortwörtlich, er hatte im Bus mal eben die Tür eingetreten, sich eingenistet und abgewartet. Ein sehr cleverer Begleiter: mit einem Knall auf sich aufmerksam machen, dann abwarten und mich in Sicherheit wiegen. Aber heimlich in immer mehr Situationen Ansprüche erheben. Wirklich clever.

Nach diesem ersten Vorfall war das Leben erst mal wieder normal. Dass das eine Panikattacke war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich in dem Alter überhaupt wusste, dass es so etwas gibt. Etwa zwei Jahre später dachte sich mein Begleiter dann aber, dass man ja mal wieder anklopfen könnte.

Ich war schon von klein auf ein großer Fußballfan, hatte eine Dauerkarte und war auch auf vielen Auswärtsspielen meiner Mannschaft dabei. Fußball ist das, was man getrost als meine Leidenschaft bezeichnen kann. Bei einem Abendspiel waren ich und meine Freunde wie immer schon eine Stunde vor Anpfiff auf unseren angestammten Plätzen. Der Stehblock war rappelvoll, die Stimmung war gut und die Flutlichtatmosphäre hatte ihren ganz eigenen Charme. Es war alles wie immer. Ich saß auf der Treppe, mit dem Stadionheft in der Hand. Irgendwie habe ich dann ein Knie an den Kopf bekommen, überhaupt nicht schlimm, weil ich nur leicht berührt wurde. Denkste! Begleiterchen hat die Situation schamlos (und charmelos) ausgenutzt und mir mitgeteilt, dass Stadion von nun an uncool ist. Schwindel, Atemnot und Zittern. Einfach so. An dieser Stelle habe ich – mangels Aufklärung – den nächsten Fehler gemacht und den Block verlassen. Meine Eltern haben mich abgeholt. Zu Hause habe ich mich dann auf die Couch gelegt, Decke drüber, Tee anbei und die zweite Halbzeit meiner Mannschaft geschaut. Aber ins Stadion habe ich mich seitdem bis auf eine einzige Ausnahme nie mehr getraut, obwohl mir die Stimmung, die Fans und das Einheitsgefühl wirklich fehlen.

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Alles war schlimm, wo man nicht sofort - wirklich sofort - aussteigen konnte.

Tim

Die Fahrt zur Schule wurde immer mehr zum Alptraum

Die Schulzeit war für mich eine ziemliche Tortur. Nachdem das Stadion schon als No-Go-Area deklariert war, kam irgendwann wieder der Bus ins Spiel. Erst habe ich keinen Bus mehr genommen, der über die Autobahn gefahren ist – da kann man schließlich im Notfall nicht mal so eben aussteigen. Und dann habe ich nur noch eine Linie genommen, die oft ausfällt, damit ich mich von meinen Eltern abholen lassen konnte. 

Das einschneidende Erlebnis geschah im Winter, als so viel Schnee lag, dass der Bus den Berg zu meinem Wohnort nicht mehr hochkam. Ich saß also fest und habe den Busfahrer gebeten, die verdammte Tür aufzumachen, was er aber partout nicht wollte. Also immer energischer drum gebeten, bis ich mich im Angstrausch so aufgeregt habe, dass ich rauskonnte. Dann den ganzen Weg nach Hause gesprintet, alle paar Meter tief einatmend. Das Atmen wurde immer schwerer, es fühlte sich an als würde die Luft nicht mehr ankommen – klassische Hyperventilation durch falsches Atmen. In solchen Situationen lebt man nur noch die Angst, alles andere wird ausgeblendet. Von diesem Zeitpunkt an versuchte ich, den Bus wenn irgend möglich zu vermeiden. 

In der Oberstufe wurde der Bus noch drei Mal zum richtig großen Problem. Beim ersten Mal wurde der Sportunterricht zeitweilig in eine Halle außerhalb der Stadt verlegt. Und wie genau sollten wir da hinkommen? Genau, mit dem Schulbus. Von da an hatte ich im Zeugnis „nicht feststellbar“ in Sport. Das zweite Problem war die Klassenfahrt nach Frankreich. Mit dem Bus natürlich. Während der Fahrt habe ich so oft tief eingeatmet, dass ich abends mit Muskelkater in der Brust im Hochbett der französischen Jugendherberge lag. Die Klassenfahrt ging gerade mal drei Tage, mir kam es aber vor wie ein ganzer Monat. Dennoch bin ich jeden Tag mitgefahren und bin heute noch stolz darauf. Mein Begleiter hat sich in diesem Moment aber wohl übergangen gefühlt, sodass er mal wieder meinte, er müsse intervenieren: Du fährst Bus, obwohl ich das nicht leiden kann? Gut, wie du willst, dann bleibt die Angst jetzt auch noch nach dem Aussteigen. Und das Schlimmste kam noch: in einem gläsernen Tourischiffchen auf dem Fluss durch die Stadt zu schippern. Bus fahren war schlimm, aber von da an war alles schlimm, wo man nicht sofort (und ich meine tatsächlich sofort) rauskommt.

Das dritte Busproblem bin ich schließlich gar nicht mehr angegangen. Zum Schulabschluss sollte es nach London gehen, erst Bus, dann Flugzeug. Ich habe so lange gegoogelt, bis ich eine Krankheit gefunden hatte, mit der man nicht mitfahren kann, die aber auch glaubwürdig erschien: Mittelohrentzündung. Wegen des Drucks im Flugzeug darf man da nicht fliegen. Nach Bussen waren damit auch Flugzeuge gestrichen. 

Wer schweigt und seine Ängste versteckt, wird nichts ändern können.

Tim

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Es hat lange – viel zu lange – gedauert, bis ich erstens begriffen habe, was überhaupt mit mir los ist, und zweitens, bis ich mir Hilfe geholt habe. Erst nach mehreren Anläufen habe ich einen Therapeuten gefunden, der mich weiterbrachte, auch wenn ich noch einen langen Weg vor mir habe. Aber aufgeben ist nicht drin, und das wünsche ich mir von allen, die in so einer Situation stecken: weitermachen! Ich stehe trotz Angst kurz vor meinem Studienabschluss, möchte ausziehen (und traue mir dementsprechend das Alleinesein mittlerweile auch zu), habe einen Hund mit dem ich täglich meine Runden drehe und mache regelmäßig Sport. Es ist ein schwerer Weg und es gibt immer Rückschläge, aber man kann lernen, mit der Angst umzugehen.

Mut zur Offenheit lohnt sich

Vor allem habe ich gelernt, dass es wichtig ist, zu seinen persönlichen Problemen zu stehen. Mut zur Offenheit lohnt sich, das habe ich selbst erlebt. Zu Beginn meines Studiums hatte ich die schlimmste Angstphase und stand kurz vor dem Studienabbruch. Doch meine Ausbildung aufgrund meiner Ängste aufzugeben, habe ich nicht eingesehen. Also habe ich mir ein Herz gefasst, mich an verschiedene Universitäten gewandt und offen meine Situation geschildert. Nicht jede Universität hat Hilfe angeboten, aber schlussendlich habe ich meine jetzige Hochschule gefunden, die nicht nur Verständnis, sondern auch praktische Unterstützung liefert, sodass ich bisher alle Prüfungen trotz meiner Ängste ablegen konnte. Das offene Ansprechen von psychischen Thematiken stößt sicherlich nicht ausschließlich auf Verständnis, aber das betrifft alle Themen und es gibt in jeder Lebenssituation Menschen, die kein Mitgefühl aufbringen können oder wollen. Allerdings kann man sich keine verständnisvolle Gesellschaft wünschen, wenn man Themen nicht anspricht, für die sie Verständnis aufbringen soll. Unterstützung und Empathie bekommt man nur, wenn man Dinge offen thematisiert. Wer schweigt und seine Ängste versteckt, der wird in der Gesellschaft nichts ändern können.