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RISIKOFAKTOR STRESS

Was chronischer Stress für Körper und Psyche bedeutet – ein Überblick

Stress ist eine körperlich-seelisch-geistige Gesamtreaktion des Organismus auf Anforderungen, die unser alltägliches Gleichgewicht stören. Es werden kurzfristig alle Kräfte mobilisiert, um die Anforderung zu bewältigen und sich der neuen Situation anzupassen. Geschieht dies nicht, bleibt der Betroffene im Zustand einer andauernden Unausgeglichenheit, was früher oder später zu physischen und psychischen Störungen führen wird.

Autorin: Lotte Habermann-Horstmeier

WAS IST EIGENTLICH STRESS?

Der englische Begriff „Stress“ wurde ursprünglich im Bereich der Physik verwendet und bedeutet dort Druck oder Spannung, denen ein Material ausgesetzt ist. In den 1930er Jahren übertrug der Biochemiker und Hormonforscher Hans Selye (1907 – 1982) diese Bedeutung auf den Bereich der Biologie bzw. Psychologie. Hier versteht man darunter eine körperliche und psychische Reaktion bei einem Lebewesen, die durch einen oder mehrere spezifische Reize (Stressoren) hervorgerufen wird. Diese Stressoren stellen besondere Anforderungen dar, die bewältigt werden müssen, sie setzen das Lebewesen also unter Handlungsdruck. Alle Versuche zur Bewältigung der Situation werden Coping genannt (von engl. to cope = bewältigen, zurechtkommen).

Man unterscheidet zwischen positivem Stress (Eu-Stress) und negativem Stress (Dis-Stress). Auch bei Eu-Stress wird eine Anforderung an den Betroffenen gestellt, die jedoch nicht als unangenehm empfunden wird (z.B. bei einem Wettkampf, Verliebtsein). Bei Disstress dagegen wird die Anforderung als Belastung wahrgenommen. Disstress tritt dann auf, wenn es zu einem Missverhältnis kommt zwischen den Anforderungen, die an eine Person gestellt werden, und den Möglichkeiten und Fähigkeiten dieser Person, die Anforderungen zu kontrollieren bzw. zu bewältigen.

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STRESS TRITT AUF BEI EINEM

MISSVERHÄLTNIS ZWISCHEN

DEN ANFORDERUNGEN 

UND DEN MÖGLICHKEITEN

EINER PERSON.

Wie entsteht Stress?

Während der Mediziner Hans Selye sich besonders mit der biologischen Seite der Stressreaktion und deren Folgen befasste, untersuchten der Psychologe Richard Lazarus (1922 – 2002) und seine Schüler die psychosozialen Aspekte, die beim Stress eine Rolle spielen, sowie den Vorgang der Stressbewältigung (Coping). Sie interessierten sich also für die subjektive Seite der Stressreaktion.

Als Stressoren bezeichneten sie sowohl physische Reize (z.B. Lärm, Hitze, Infektionen, körperliche Anstrengungen), wie auch psychische, die von außen (Zeitdruck, Arbeitsbelastung, Konflikte, Reizüberflutung) wie von innen (Ungewissheit, Überforderung, negative Gefühle wie Angst, Einsamkeit, Trauer) kommen können. Sie wirken auf den Menschen ein und erfordern eine Anpassungsreaktion von ihm. Nach Lazarus verläuft die Reaktion auf einen Stressor wie folgt: In einem ersten Schritt werden die Stressoren von der Person auf ihre Bedeutung für die eigenen Ziele hin bewertet (primäre Bewertung) und entsprechend als gefährlich oder irrelevant eingestuft. Als nächstes werden die persönlichen Bewältigungsmöglichkeiten und die zur Verfügung stehenden Ressourcen eingeschätzt (sekundäre Bewertung). Unter Ressourcen sind alle materiellen (wie Geld), sozialen (Unterstützung durch andere) und personalen (etwa bestimmte Kompetenzen) Mittel zu verstehen, mit denen einer Anforderung begegnet werden kann.

Das löst Stress aus:

Physische Reize

Lärm, Hitze, Infektionen, körperliche Anstrengungen

Psychische Reize
  • Von außen:
    Zeitdruck, Arbeitsbelastung, Konflikte, Reizüberflutung
  • Von innen:
    Ungewissheit, Überforderung, negative Gefühle wie Angst, Einsamkeit, Trauer

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Das Ergebnis dieser zweifachen Bewertung entscheidet über das Ausmaß des Stresses, den die Person empfindet: Starke Anforderungen bei niedrig eingeschätzter Bewältigungkompetenz führen zu Unsicherheit und Angst und damit zu hohem Stress. Zudem können gewisse Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Perfektionismus, starkes Kontrollbedürfnis, Anspruch, es allen recht machen wollen) den Stress noch zusätzlich verstärken. Stress ist also keine einseitig von außen kommende Belastung, sondern entsteht als komplexer Wechselwirkungsprozess zwischen den Anforderungen einer Situation und der darin handelnden Person. Es hängt entscheidend von der individuellen Bewertung durch den Betroffenen selbst ab, ob bei ihm letztlich Stress entsteht. Besonders hoch ist die Stressempfindung folglich, wenn sich Menschen einer Situation hilflos ausgeliefert fühlen, wenn sie keine Möglichkeit sehen, an dieser Situation etwas zu ändern.

Zur Bewältigung der Situation greifen die Betroffenen auf ganz unterschiedliche Coping-Strategien zurück, die sie in ihrem bisherigen Leben erlernt haben. Man kann diese in erfolgreiche und nicht erfolgreiche (dysfunktionale) Strategien unterteilen. Dysfunktionale Strategien führen dazu, dass die Anforderungen nicht bewältigt werden, die Stresssituation also anhält. Dies führt zu einem Zustand chronischen Dauerstresses, der mit Einbußen an Lebensqualität und letztlich mit psychischen und körperlichen Erkrankungen erkauft wird.

Ein Zeitalter des Stresses?

In den Medien wird immer wieder davon gesprochen, dass wir heute in einem “Zeitalter des Stresses” leben. Die neueste Stress-Studie der Techniker Krankenkasse von 2021 fand heraus, dass sich insgesamt 64% der Befragten gestresst fühlen – 38% “manchmal” bzw. 26% “häufig”. Bei den Berufstätigen war dieser Anteil noch deutlich höher, betroffen waren hier besonders Angestellte und Menschen mit höherem Einkommen. Arbeit stellt somit den stärksten Stressverursacher dar (gefolgt von hohen Ansprüchen an sich selbst). 

Quelle: Techniker Krankenkasse: Entspann dich, Deutschland! TK-Stressstudie 2021, S. 10.

Gestresst fühlten sich viele Menschen neben dem Beruf jedoch auch durch Situationen im Privatleben bzw. durch ein unausgewogenes Verhältnis von beruflichen Anforderungen und privaten Bedürfnissen (ungünstige Work-Life-Balance). Ständige Erreichbarkeit und das Verschwimmen der Grenzen von Berufs- und Privatleben erhöhen hier den Stress. Hiervon betroffen ist vor allem die Altersgruppe zwischen 30 und 40 bzw. 45 Jahren.

Quelle: Techniker Krankenkasse: Entspann dich, Deutschland! TK-Stressstudie 2021, S. 12.

 

Es handelt sich dabei um die sogenannte Sandwich-Generation, die sich neben dem Beruf in der Regel auch um eigene Kinder und/oder um andere zuwendungsbedürftige Angehörige kümmern muss. Dies ist insbesondere für Frauen belastend, da sie neben ihrem Job meist den größten Teil der Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit übernehmen und daher eine ungünstigere Work-Life-Balance haben. Deshalb ist das Gefühl der Überforderung bei ihnen besonders stark ausgeprägt. Sie haben zudem kaum Zeit, um Sport zu treiben, und schlafen oft nicht ausreichend. Weitere belastende Faktoren in dieser Altersgruppe sind Probleme durch Wochenendpendeln oder lange Fahrtzeiten zur Arbeit, finanzielle Probleme, Probleme durch einen Hausbau, durch Trennung/Scheidung etc. Solche Mehrfachbelastungen in der „Rushhour des Lebens“ werden als besonders stressend empfunden.

Es gibt verschiedene Gründe, weshalb diese belastenden Faktoren immer häufiger gleichzeitig auftreten. Hierzu gehören beispielsweise die zunehmend späte Elternschaft, ein Anstieg bei der Zahl der alleinerziehenden Personen, ein späterer Start ins Berufsleben nach längerer Ausbildung sowie verstärkte Karriereansprüche bei Männern und Frauen. Während dieser Zeit werden in einer relativ kurzen Zeitspanne sehr viele Entscheidungen getroffen und umgesetzt, die für das weitere Leben von großer Bedeutung sind. Man kann also durchaus sagen: Durch die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte fühlen sich immer mehr Menschen belastet und gestresst. Die Bedingungen für Stress haben tatsächlich zugenommen.

DIE AUFGABE DES STRESSES: KAMPF ODER FLUCHT

In den letzten Jahrzehnten konnten zahlreiche Untersuchungen immer wieder zeigen, dass unser Körper auf die verschiedensten Stressoren (= Stress auslösenden Faktoren) in einer uns angeborenen, spezifischen Weise reagiert. Situationen, die von uns als Gefahr eingestuft werden und die wir als Bedrohung empfinden, führen dazu, dass ein Alarmsystem in Gang gesetzt wird. Dieser Vorgang geht mit verschiedenen körperlichen Reaktionen einher, die letztendlich unser Überleben sichern sollen.

Eine solche Stressreaktion läuft immer gleich ab. Es handelt sich dabei um eine entwicklungsgeschichtlich sehr alte, sinnvolle Reaktion, die unsere tierischen und menschlichen Vorfahren in die Lage versetzt hat, bei plötzlicher Gefahr (z.B. wenn sie einem wilden Tier oder einem menschlichen Feind gegenüberstanden) zu kämpfen oder so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen (Kampf- und Flucht-Reaktion).

Dies geschieht u.a. dadurch, dass sogenannte Stresshormone wie Adrenalin und Kortisol an das Blut abgegeben werden, was dazu führt, dass dem Körper Energie in Form von Zucker oder Fett zur Verfügung gestellt wird. Man unterscheidet dabei eine akute, schnell ablaufende Notfallreaktion und eine langsamere, aber intensivere Stressreaktion. Auch wenn wir kaum noch solchen Gefahren ausgesetzt sind, wie sie unsere Vorfahren immer wieder erlebt haben, gibt es doch auch heute noch regelmäßig Situationen, in denen wir von einer schnell ablaufenden Stressreaktion profitieren können, z.B. bei absehbaren Unfällen im Straßenverkehr oder im Haushalt.

AUSWIRKUNGEN VON STRESS

Stressreaktionen kennen wir nicht nur von unseren Vorfahren, die von Zeit zu Zeit etwa einem Höhlenbären oder Säbelzahntiger gegenüber standen. Die Höhlenbären oder Säbelzahntiger unserer Zeit sind z.B. Stresssituationen im Arbeits- oder privaten Bereich, denen wir uns hilflos ausgeliefert fühlen. Langandauernde, chronische Belastungen können hier dazu führen, dass die Produktion von „Stresshormonen“ über einen längeren Zeitraum auf hohem Niveau weiterläuft. In der Folge kommt es dann zu allerlei Problemen im Bereich des Organismus wie der Psyche.

Chronischer Stress wird häufig bei Menschen mit einem ungesunden Lebensstil festgestellt. Sie ernähren sich im Durchschnitt weniger gesund, bewegen sich weniger, rauchen öfter, konsumieren häufiger und mehr Alkohol und/oder schlafen schlechter. Allerdings ist nicht immer klar, ob es sich dabei bereits um Stresssymptome bzw. Stressfolgen handelt oder ob der ungesunde Lebensstil ein Stressverstärker ist.

Chronischer Stress kann so zu einem gesundheitlichen Problem werden. Solche Stressfolgeerkrankungen treten z.B. im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems auf. Stress ist hier ein erheblicher Risikofaktor für die Entstehung von Bluthochdruck, koronarer Herzerkrankung, Herzinfarkt und Schlaganfall. Darüber hinaus können aber auch die Muskulatur (erhöhte Muskelspannung, Abnahme der Muskelmasse), das Verdauungssystem (Hemmung der Verdauungstätigkeit, Verstopfung, aber auch Durchfall) und der Stoffwechsel (Übergewicht) betroffen sein. Eine herabgesetzte Funktion des Immunsystems kann zu einer höheren Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, einer Zunahme von bösartigen Tumoren und einer verzögerten Wundheilung führen. Im Bereich der Sexualität werden sexuelle Bedürfnisse gehemmt und sexuelle Funktionen beeinträchtigt. Chronischer Stress kann aber auch zu einer erniedrigten Schmerztoleranz führen. Typische Stressfolgen im Bereich des Nervensystems und der Sinnesorgane sind Nervosität, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Ohrgeräusche (Tinnitus) und Hörsturz.

Darüber hinaus beeinflusst Stress die Erbsubstanz in unseren Zellen. Eine vorzeitige Verkürzung der Chromosomen-Enden führt dazu, dass sich die betroffenen Zellen des Körpers nicht mehr teilen können und absterben. Dadurch hat Stress auch einen deutlichen Einfluss auf die Lebenserwartung, d.h. er verkürzt die potenzielle Lebenszeit der betroffenen Menschen.

Chronischer Stress wirkt sich jedoch auch negativ auf die Psyche aus. Typische Stress-Folgeerkrankungen sind hier die depressive Verstimmung und der Burnout. Als Burnout-Syndrom bezeichnet man einen umfassenden Erschöpfungszustand, der sich in der Regel sowohl durch körperliche wie durch emotionale, mentale und soziale Aspekte auszeichnet. Es treten dabei also nicht nur körperliche Symptome auf, auch das Gefühlsleben, die geistigen Fähigkeiten und das menschliche Zusammenleben sind betroffen.

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CHRONISCHER STRESS

KANN ZU EINEM

GESUNDHEITLICHEN

PROBLEM WERDEN.

Kurze Liste der Auswirkungen von Stress auf Körper und Psyche​

  • Herz-Kreislauf: Bluthochdruck, koronare Herzerkrankung, Herzinfarkt, Schlaganfall
  • Muskulatur: Muskelverspannung, Abnahme von Muskelmasse
  • Verdauungssystem: Verstopfung, Durchfall
  • Stoffwechsel: Übergewicht
  • Immunsystem: höhere Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, Zunahme bösartiger Tumore, verzögerte Wundheilung
  • Sexualität: Beeinträchtigung sexueller Funktionen
  • Nervensystem: Nervosität, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Tinnitus, Hörsturz
  • depressive Verstimmung
  • Erschöpfung (Burnout)
  • emotionale Folgen: Einsamkeit, Ängste
  • soziale Folgen: Rückzug, Konflikte, Trennungen

Fazit

Man geht heute davon aus, dass etwa die Hälfte aller Erkrankungen – physische wie psychische – mit Stress in Zusammenhang stehen. Stress ist damit in unserer Gesellschaft der vielleicht größte Risikofaktor für die individuelle Gesundheit und das individuelle Wohlbefinden – ganz abgesehen von den gesamtgesellschaftlichen Folgekosten (durch Fehltage, Frühverrentung).

Buch der Autorin

Lotte Habermann-Horstmeier:
Risikofaktor "Stress"

Kompakte Einführung und Prüfungsvorbereitung für alle interdisziplinären Studienfächer

Hogrefe Verlag 2017

Das Buch beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung der Risikofaktor Stress für unsere Gesellschaft und für unsere persönliche Gesundheit hat. Im Einzelnen geht es dabei um folgende Fragen: - Was ist Stress? - Was sind die Ursachen und Symptome von Stress? - Was sind die biologischen, psychologischen und sozioökonomischen Folgen von Stress?

Literaturempfehlungen und Medientipps